2 Betrachtungsweise:
Die konstruktivistische Dimension
In diesem Kapitel wird eine grundlegende erkenntnistheoretische Position beschrieben, aus welcher heraus sich die weiteren Dimensionen zum Aufbau bzw. zur Struktur der Heilpädagogik ergeben. Die Wahrnehmung einer Professionsdiskussion ist m. E. ohne die Rückführung auf erkenntnistheoretische Begründungen nicht möglich. In diesem Kapitel wird somit zuerst eine erkenntnistheoretische Basis formuliert, d.h. es wird darum zu tun sein, diejenigen Prozesse zu skizzieren bzw. diejenigen Fragen zu stellen, welche sich auf das Zustandekommen von Wissen bzw. auf die Grenzen beziehen, an welche die Fragen nach dem Wissen (sowie dem Können) stoßen werden. Dieses Kapitel ist somit wie folgt aufgebaut (siehe Abb. 6):
Zu Beginn werden einige grundlegende Aussagen die erkenntnistheoretische Basis abgrenzen, welche auf alle weiteren Äußerungen und Formulierungen dieses Kapitels zu beziehen sind. Im Anschluss hieran wird die erkenntnistheoretische Begründung dargelegt, aus welcher die gesamte Professionsdiskussion der Heilpädagogik – so wie ich sie z.Z. verstehe – argumentativ abgeleitet werden kann: Diese bezieht sich auf den Konstruktivismus. Zuerst werden hierzu die Grundlagen erläutert, danach werden unterschiedliche weiterführende Themenstellungen und Fragen in Bezug auf die Vernetzungen und die Relevanz zum Konstruktivismus dargelegt. Es handelt sich hierbei um Fragen der Ethik, der Bildung, der Pädagogik und (relativ ausführlich) der Heilpädagogik. Das Kapitel schließt mit einigen kritischen Äußerungen zum Konstruktivismus bzw. mit noch offenen Fragestellungen, welche in weiteren Untersuchungen zur Relevanz des Konstruktivismus für die Heilpädagogik gestellt und dann (so ist zu hoffen) auch beantwortet werden können.
Abb. 6: Überblick: Die konstruktivistische Dimension
2.1 Die erkenntnistheoretische Basis
Eine Fachwissenschaft, wie die Heilpädagogik, hat sich in Bezug auf ihre Wissenschaftlichkeit immer wieder die Frage zu stellen, wie und wodurch das Wissen entsteht, welches sie in den Mittelpunkt ihrer argumentativen Zusammenhänge stellt. Hierzu ist eine Verortung an den erkenntnistheoretischen Begründungen unabdingbar notwendig. Die Grundfragen der Erkenntnistheorie haben somit auch die Grundfragen zu bilden, von welchen aus eine Professionsdiskussion ihren Anfang nimmt, gerade auch, wenn es darum geht, die Perspektive zu klären, aus welcher heraus die Diskussion zu führen ist. Es geht somit um folgende Fragen (vgl.: Ernst, 2007, 8/9):
- Was können wir wissen?
- Was ist Wissen?
Die Beantwortung dieser beiden Fragen richtet sich seit einigen Jahren vor allem auch darauf, wie dieses Wissen entsteht, d.h., wie die Verläufe strukturiert sind, durch welche Wissensprozesse determiniert werden und Wissenserkenntnisse und -ergebnisse im ursprünglichen Sinne gefasst werden können. Weitere Grundfragen in diesem Kontext beziehen sich auf den Gegenstand der Erkenntnis als solcher: Was ist eigentlich Erkenntnis und wie und wodurch kann sie zum Gegenstand einer Wissenschaft werden? Oder: Was ist eigentlich eine Wissenschaft bzw. wie und wodurch kann ein Wissenschaftsbegriff oder eine Wissenschaftsform dazu führen, Erkenntnisse wahrzunehmen, zu präzisieren, aufzubereiten etc.? Prozesse der Erkenntnistheorie versuchen somit (so wie das auch zu Beginn dieses Kapitels geschieht), Fragen zu stellen, d. h., zu benennen, was gefragt wird, wer fragt, wodurch etwas gefragt wird und was der Ausgangspunkt für unterschiedliche Fragen sein könnte (vgl.: Keller 2006, 9–19). Eine relevante Frage in diesem Kontext ist diejenige nach der „Erkenntnis“: Was ist überhaupt eine Erkenntnis und wie lässt sie sich von anderen Begriffen im selben Umfeld abgrenzen? Mit Keller (2006, 37) kann behauptet werden, dass es in der Erkenntnistheorie vor allem um Erkenntnisakte geht. Derjenige, der erkennt, leitet von seiner Wahrnehmung bestimmte Dinge ab, er sieht etwas, er fühlt etwas, er denkt etwas, er handelt kognitiv, er bewertet diese Handlungen usw. Diese Handlungen und Bewertungen verlaufen zumeist bewusst, dennoch kann es auch unbewusste Erkenntnisakte geben.
Der zweite Grundbegriff, der in diesem Zusammenhang relevant ist, ist derjenige nach der „Wissenschaft“. Wie auch der Begriff der Erkenntnis bezieht sich der Begriff der Wissenschaft auf unterschiedliche Dinge, z.B. auf den Prozess des Erkennens, auf die Darlegung der Resultate, auf die Art und Weise, wie Wissen generiert und in Frage gestellt wird, usw. In Bezug auf die Wissenschaft des Erkennens lässt sich Wissenschaft hierbei meiner Ansicht nach definieren als „...ein rechtfertigbares System von Ausdrücken, das dazu dient, Erkenntnisse über einen bestimmten Sachbereich unter einer bestimmten Rücksicht zu bilden und zu ordnen“ (Keller, 2006, 38). Die Ausdrücke, welche sich auf einen Sachbereich beziehen, sind hierbei Sätze, Regeln, Handlungsanweisungen, Formeln usw., welche dazu dienen, die Begründungen, aber auch vor allem die Ergebnisse von Erkenntnisprozessen, zu beschreiben und festzuhalten. Die Rechtfertigung dieses Systems, also der Zeichen und Sätze und Klassen, welche durch die Wissenschaft behandelt werden sollen, bezieht sich auf vorgegebene Normen, „...denn jede Rechtfertigung geschieht im Aufweis, dass eine für maßgeblich angesehene Richtschnur oder Regel berücksichtigt worden ist. Die Hauptnorm, woran sich ein wissenschaftliches System messen lassen muss, ergibt sich aus dem Ziel der Wissenschaft, das in der Definition von ‚Wissenschaft‘ allgemein als die Aufgabe, Erkenntnisse zu ordnen, bestimmt wurde“ (Keller, 2006, 39). Eine Wissenschaft (wie auch diejenige der Handlungswissenschaft der Heilpädagogik) ist somit dann rechtfertigbar, wenn sie beweisen kann, dass sie einem Ziel und Zweck entspricht, weshalb überhaupt (diese Ausprägung von) Wissenschaft realisiert wird. Ein erster Schritt besteht darin, diese Wissenschaft geordnet darzustellen (auch dieses Ziel soll durch dieses einführende Lehrbuch in die Professionsdiskussion der Heilpädagogik verfolgt werden). Ein weiterer Punkt, der deutlich werden lässt, dass erkenntniswissenschaftliche Prämissen in diesen Argumentationszusammenhang eingebunden werden müssen, ist die Plausibilität, d.h., die Widerspruchsfreiheit des Systems als solches: Auch dieses muss in sich schlüssig und stimmig sein, so dass der Gesamtzusammenhang und Zusammenhalt aller aufeinander bezogener Punkte, welche eine Wissenschaft definieren, schlüssig dargestellt werden kann. Eine Möglichkeit, dass dieses geschieht, besteht darin, die Aussagen als „wahr“ zu kennzeichnen (vgl.: Keller, 2006, 39). Dennoch stellt sich hierbei die Frage, was Wahrheit nun letztlich ausmacht. Zudem ist zu fragen: Gibt es etwas wie Wahrheit und Wirklichkeit? – gerade auch mit Verweis auf die erkenntnistheoretische Begründung des Konstruktivismus. Der Begriff der Wahrheit bzw. auch derjenige der Wirklichkeit soll somit im weiteren Verlauf dieses einführenden Kapitels zur konstruktivistischen Begründung der Fachwissenschaft der Heilpädagogik immer wieder mit einfließen; die Begriffe sollen in ihrer Kontextgebundenheit und Abhängigkeit voneinander beschrieben und erläutert werden (aber dazu später mehr). In einer ersten Zusammenfassung kann somit festgestellt werden, dass es in der Erkenntnistheorie (noch einmal anders als in der Wissenschaftstheorie, vgl.: Gabriel, 2008, 11) um die Erkenntnis im Kontext der Beziehungen weiterer Begrifflichkeiten geht. Diese Begriffe beziehen sich auf das Wissen, die Gewissheit, die Überzeugung, aber auch auf den Glauben. Es geht in einem ersten Schritt erkenntnistheoretisch also darum, zu beschreiben, was gemeint ist, wenn von Erkenntnis gesprochen wird. Dieses sind die so genannten explikativen Aufgaben der Erkenntnistheorie (vgl.: Schnädelbach, 2002, 23). Die normativen Aufgaben der Erkenntnistheorie beziehen sich dann des Weiteren darauf, was als Erkenntnis gelten kann. Vor allem die Fragen nach der so genannten Wahrheit, der Stringenz der Richtigkeit, der korrekten methodischen Arbeit usw. (s. o.) müssen in diesem Kontext gestellt werden. Die Umsetzung dieser normativen Sichtweise leitet hin zur letzten Frage des erkenntnistheoretischen Geschehens: den deskriptiven Aufgaben der Erkenntnistheorie. „Jede befriedigende Erkenntnistheorie muss mindestens diese drei Fragebereiche umfassen, und das vermag sie nur durch eine Differenzierung ihrer Diskursarten in explikativer, normativer und deskriptiver Hinsicht“ (Schnädelbach 2002, 24).
Dieser Dreischritt, d. h., die Wahrnehmung dessen, was Erkenntnis ist, die Umsetzung dessen bzw. die normative Orientierung der Kriterien der Umsetzung, was im Kontext der Heilpädagogik als richtig wahr und methodisch korrekt beschrieben werden kann, bzw. im Letzten die Anwendung dieser Kriterien soll eine der Begründungsebenen dieses ersten Kapitels, d. h., der Betrachtungsweise der Heilpädagogik als Profession, sein. Alle drei Ebenen werden aber auch im weiteren Verlauf in den weiteren Dimensionen dieser Beschreibungen grundlegend sein und diese bedingen. Die Begründung dieser drei Fragekomplexe sowie ihre Vernetzung mit den weiteren noch zu beschreibenden Dimensionen der Profession der Heilpädagogik kann durch folgende Abbildung grafisch verdeutlicht werden (siehe Abb. 7):
Abb. 7: Erkenntnistheoretische Grundfragen als Basis der Professionsdimensionen der Heilpädagogik
Eine erkenntnistheoretische Basis zur Begründung dieser Fragen muss somit die Grundlagen schaffen, um die Begriffe zu analysieren, welche eine Fachwissenschaft nutzt, bzw. sie muss Aussagen darüber treffen, inwieweit die...