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E-Book

Der Feind in meinem Topf?

Schluss mit dem Legenden vom bösen Essen

AutorSusanne Schäfer
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783455851380
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Essen ist Lifestyle. Und zugleich wird Essen immer häufiger als Bedrohung wahrgenommen. Echte oder gefühlte Unverträglichkeiten und diffuse Ängste vor bestimmten Inhaltsstoffen dominieren den Speiseplan von immer mehr Menschen. Der Trend lautet 'Frei von ...' Geradezu hysterisch werden wahlweise Gluten, Laktose, Fruktose oder Histamin als Risiko für unsere Gesundheit gebrandmarkt. Etliche dieser Empfehlungen haben eine kürzere Haltbarkeit als die darauf abgestimmten Produkte, an denen die Nahrungsmittelindustrie kräftig verdient - und für Gesunde keinen medizinisch nachweisbaren Nutzen. Susanne Schäfer untersucht aus medizinischer, psychologischer und soziologischer Perspektive, was für das wirklich gute Bauchgefühl nötig ist. Denn viele der Legenden vom gefährlichen Essen verbreiten sich grundlos. Nie war es so einfach wie heute, sich gesund zu ernähren und mit hochwertigen Lebensmitteln zu versorgen!

Die Wissenschaftsjournalistin Susanne Schäfer beschäftigt sich seit Jahren kritisch mit Gesundheits- und Ernährungsmythen. 2014 wurde sie für eine Titelgeschichte zum Thema Nahrungsmittelunverträglichkeit mit dem Hermann- Schulze-Delitzsch-Preis für Verbraucherschutz ausgezeichnet. Sie lebt in Hamburg und schreibt unter anderem für DIE ZEIT, ZEIT Wissen und Spiegel Online.

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Leseprobe

Einleitung


Wer heute Gäste zum Essen einlädt, führt vor dem Einkaufen am besten umfassende Gespräche. Längst muss er nicht nur berücksichtigen, dass der eine vegetarisch lebt und die andere vegan. Heute brauchen auch die Gäste mit echten oder gefühlten Intoleranzen gegen Laktose, Fruktose, Gluten oder Histamin ihr ganz individuelles Menü. »Käse kann ich nicht essen. Eindeutig Laktoseintoleranz, da brauche ich gar nicht erst den Arzt zu fragen.« – »Brot und Nudeln lass ich gerade vorsichtshalber weg. Dieses Gluten verträgt ja kaum noch jemand.« – »Geräucherter Schinken? Da verzichte ich lieber. Du weißt doch, das Histamin.«

Kürzlich sprach ich mit einer Bekannten, die mit jeder Essenseinladung auch gleich das geplante Menü herumschickt. »Einfach auf gut Glück zu kochen und die Gäste zu überraschen, habe ich schon lange aufgegeben«, erklärte sie mir. Einmal bekam die Bekannte von einem Paar diese Antwort gemailt: »Da können wir nur das Baguette essen und den Rotwein trinken.« Immerhin hatten die Gäste offenbar keine Angst vor Gluten und Histamin.

Wenn ihre Tochter die Freunde aus der Grundschule zum Kindergeburtstag einlädt, backt meine Bekannte zwei Kuchen – einen mit und einen ohne Gluten. Inzwischen muss sie, um den Bedürfnissen der kleinen Gäste gerecht zu werden, nur noch einen kleinen normalen Kuchen backen, dafür einen umso größeren glutenfreien. Ich selbst nehme gerne Rücksicht auf alle Sorten von Ohne-Essern, aber manchmal möchte ich auch einfach das kochen, worauf ich Lust habe. Dann lege ich zuerst das Menü fest und lade anschließend die passenden Gäste ein.

Noch vor zehn Jahren waren Verdauungsvorgänge ein Tabuthema bei Tisch, heute breitet sich beim gemeinsamen Mahl die neue Innerlichkeit aus. Jedes Grummeln im Magen, jedes Zupfen im Bauch wird diskutiert und mit ernster Miene kategorisiert. Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz, von gestern.

Munter wird bei den Selbstdiagnosen Halb- und Unwissen durcheinandergewürfelt und weiterverbreitet. Dabei können selbst Laktoseintolerante die meisten Käsesorten problemlos essen, weil diese im Gegensatz zu unverarbeiteter Milch kaum Laktose enthalten. Glutenfreie Produkte haben für Menschen mit gesundem Stoffwechsel keinerlei Nutzen.

Selbstverständlich gibt es echte Allergien und Unverträglichkeiten, und wer unter ihnen leidet, braucht unbedingt Lebensmittel ohne die Stoffe, die ihm schaden können. Aber auch Gesunde, die gar keine Beschwerden haben, machen sich heute selbst zu sensiblen Essern – Unverträglichkeiten haben sich als Mode verselbstständigt.

Inzwischen hat der Trend, Nahrungsmittel zu verschmähen, sogar die Kindergärten erreicht. Die dreijährige Tochter eines Kollegen erzählte zu Hause immer wieder von Spielkameraden in ihrer Hamburger Kita, die Nüsse, Joghurt oder Nudeln nicht mehr essen dürfen. Wie sie jeden Tag etwas Besonderes aus ihren Brotdosen holen, das nur für sie bestimmt ist. Manchen Mädchen und Jungs wärmen die Erzieher mittags sogar eigene Mahlzeiten auf. Eines Tages verkündete die Tochter meines Kollegen stolz: »Wenn ich Nüsse esse, kitzelt es so komisch auf meiner Zunge. Ich glaube, ich bin allergisch.« Man kann sie verstehen – auch sie will etwas Besonderes sein. Beim Elternabend mahnten die Kindergärtnerinnen etwas später an, Sonderbehandlungen beim Essen seien künftig nur noch gegen Vorlage eines ärztlichen Attests möglich, außerdem sei nicht jeder Diätwunsch erfüllbar.

Dass es manchmal auch die Eltern sind, die übervorsichtig mit ihren Kindern umgehen und sie so erst zu Patienten machen, erlebt Christine Behr-Völtzer, Professorin für Ernährungswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg, in ihrer Ernährungsberatung. »Ein Vater kam zu mir und erzählte, sein Sohn vertrage Erdbeeren nicht in Kuchen, in Joghurt oder als Marmelade, wohl aber in Kombination mit Gelatine. Und ich sollte dann sagen, woran das liegt. Seine Beobachtungen erinnerten schon fast an eine wissenschaftliche Versuchsreihe.« Viele Menschen, die bei Christine Behr-Völtzer Rat suchen, haben echte Unverträglichkeiten, andere fürchten sich ohne erkennbaren Grund vor dem Essen. »Auch Gesunde haben oft unheimliche Ängste – vor Geschmacksverstärkern, vor Pestiziden oder vor einzelnen Lebensmitteln wie Milch, weil sie gehört haben, die sei nur für Babys geeignet, aber nicht für Erwachsene.« Andere hielten sich streng an Diäten wie die makrobiotische Ernährung, die fettarme und ballaststoffreiche Kost vorsieht. »Manchmal kommt es mir vor, als würden sie sich einer Art Heilslehre unterwerfen.«

Dass die freiwilligen Ernährungsasketen schon in der breiten Masse der Bevölkerung angekommen sind, lässt sich mit Zahlen belegen: 23 Prozent der Deutschen verzichten laut einer Umfrage, die Spiegel Online in Auftrag gab, auf bestimmte Lebensmittel, weil sie glauben, diese nicht zu vertragen.[1] Demnach schränken sich 11 Prozent bei Rotwein, Käse und diversen Fisch- und Fleischprodukten wegen des darin enthaltenen Histamins ein. Ob es eine Histaminintoleranz überhaupt gibt, gilt in der medizinischen Fachwelt jedoch noch als unklar. 9 Prozent der Deutschen gaben an, das Getreideprotein Gluten zum Teil oder ganz zu meiden – obwohl nur etwa 0,3 Prozent tatsächlich an Zöliakie leiden, einer Erkrankung, die Betroffene zum strengen Verzicht auf Gluten zwingt. Ob zusätzlich eine Glutensensitivität existiert, ist unter Wissenschaftlern ebenfalls hoch umstritten. 13 Prozent gaben an, andere Nahrungsmittel wie Erdnüsse nur eingeschränkt oder gar nicht zu essen. An Lebensmittelallergien leiden nach offiziellen Angaben aber nur etwa 2 bis 3 Prozent. Mehrere Studien haben bereits belegt: Auch wenn Menschen fest davon überzeugt sind, überempfindlich auf Lebensmittel zu reagieren, bestätigen Tests dies oft nicht.[2]

Viele lassen sich bereitwillig einreden, glutenfreie und laktosefreie Lebensmittel seien generell besonders gut für sie – auch für diejenigen, die gar keine Nahrungsmittelintoleranz haben. Obwohl das nicht stimmt, entsteht hier seit einigen Jahren ein riesiger Markt. Etwa dreimal so viele Menschen wie noch 2007 kaufen heute laktosefreie Produkte, hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) herausgefunden. Und das, obwohl die meisten von ihnen gar nicht an einer Laktoseintoleranz leiden. In den USA will schon jeder Dritte Gluten in der Ernährung reduzieren oder sogar ganz darauf verzichten.[3] Nahrungsmittel bewirbt man heute am liebsten damit, was sie nicht enthalten. Und egal ob der böse Stoff Milchzucker oder Gluten, Aroma oder Geschmacksverstärker heißt, wird gerade ganz gezielt die Nachfrage gesteigert. Den Herstellern ist es gelungen, die »Frei von«-Hinweise auf den Packungen (in der Marketing-Sprache »Clean Labels«) als Symbole für Natürlichkeit, Reinheit und eine besonders hohe Qualität aufzuladen. Und uns im Umkehrschluss zu suggerieren, ohne diese Produkte setzten wir fahrlässig unser Wohlbefinden – und das der anderen – aufs Spiel.

Warum sind wir bereit, für Lebensmittel, die uns keinen Nutzen bringen, das Doppelte oder Dreifache zu zahlen? Weil wir glauben, dass wir durch die richtige Ernährung zu besseren Menschen werden – gesundheitlich, marktwirtschaftlich und spirituell. Es sind gleich mehrere gesellschaftliche Entwicklungen, die sich die Strategen der Medizin- und Lebensmittelindustrie zunutze machen: Jeder ist heute aufgefordert, seinen Körper und seine Seele zu pflegen, um morgen und bis ins hohe Alter gesund, fit und leistungsfähig zu bleiben. So ist ein regelrechter Kult der Innerlichkeit entstanden. Wir gehen so achtsam mit uns um, dass wir ein Zwicken im Bauch schnell als Alarmsignal deuten. Die Ernährung dient uns dabei als eine Art Ersatzreligion. Sie verspricht Heil für Körper und Seele, und wer mit Pommes gesündigt hat, findet Vergebung in Detox-Kuren und »Frei von«-Produkten. In der Kantine gedünstetes Gemüse zu nehmen statt der Bratwurst, demonstriert zudem: Ich bin diszipliniert und trage Verantwortung, auf mich und meine Leistung kommt es an. Und festigt damit seinen sozialen Status.

In diesen Strukturen verfangen wir uns leicht. Wir halten uns für besonders kritisch und aufgeklärt, weil wir zu wissen meinen, dass wir mit Pestiziden, Zusatzstoffen und jetzt auch noch mit Laktose, Fruktose und Gluten vergiftet werden. Dabei machen uns gerade diese undifferenzierten Ängste zur leichtgläubigen Kundschaft für diejenigen, die daran gut verdienen. Ärzte, Labore und Heilpraktiker ermitteln mit obskuren Tests ganze Listen an Lebensmitteln, die uns angeblich schaden. Selbsternannte Wissenschaftler schüren mit Büchern namens Weizenwampe oder Dumm wie Brot unsere Angst vor Grundnahrungsmitteln – und wir machen sie dafür zu Bestsellerautoren. Die Lebensmittelindustrie freut sich über unsere neuen Empfindlichkeiten und füllt im Supermarkt ganze Regale mit »Frei von«-Produkten für »Ernährungssensible«. Und wir sind noch dankbar, dass uns jemand dabei hilft, unsere Gesundheitspflichten zu erfüllen und eine ganz individuelle Ernährungsidentität auszubilden.

Weizenesser sterben früher, Gluten verklebt den Körper von innen, und Milch macht sowieso krank – all den dramatisierten Unsinn, den Buchautoren, Blogger und Unternehmen verbreiten, darf...

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