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Vertagte Zukunft

Warum die Politik jetzt handeln muss

AutorPeer Steinbrück
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783455851373
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Quo vadis, Deutschland? Peer Steinbrück unterzieht unsere bundesdeutsche Gegenwart einer schonungslosen Analyse und wirft einen genauen Blick auf die Herausforderungen, deren Bewältigung über Deutschlands Zukunft entscheidet. Deutschland steht im Vergleich mit vielen anderen europäischen Staaten gut da. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum sind zufriedenstellend, Arbeitslosenquote und Verschuldung halten sich im Rahmen. Kein Anlass zur Sorge also? Keineswegs, sagt Peer Steinbrück. Wohlstand und Stabilität sind gefährdet, wenn wir aus Ruhebedürfnis weiterhin alle heiklen Themen verdrängen. Wir sind selbstzufrieden geworden und merken nicht, dass unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich radikal verändert haben. Deutschland braucht dringend einen neuen Generationenvertrag und neue Spielregeln für das Internet-Zeitalter. Der Wandel darf nicht anonymen Marktkräften und einem enthemmten Finanzsektor überlassen bleiben. Steinbrück entwirft eine gesellschaftspolitische Agenda jenseits parteipolitischer Barrieren. Und er fragt, ob die Große Koalition ihrem Anspruch gerecht wird. Prägnant und kompetent, leidenschaftlich und mit Augenmaß.

Peer Steinbrück, geboren 1947 in Hamburg, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2002 bis 2005 war er Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister. Sein Buch Unterm Strich (Hoffmann und Campe Verlag, 2010) stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Vertagte Zukunft ist Steinbrücks erste Veröffentlichung seit der Wahl im September 2013.

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Leseprobe

Politische Aufträge im 21. Jahrhundert


Niemand, der an die Zukunft der SPD glaubt, kann sie von ihrem historischen Auftrag abnabeln wollen. Aber sie wird dieses große Erbe zeitgemäß aufladen und ergänzen müssen. Willy Brandts Vermächtnis – in seiner ebenso mitreißenden wie nachdenklichen Abschiedsrede als Parteivorsitzender am 14. Juni 1987 – lautete: Im Zweifel für die Freiheit! Ihm sei, neben dem Frieden, die Freiheit »ohne Wenn und Aber« wichtiger als alles andere. Nach einem Wort von Michael Naumann ist die SPD durch ihre antifaschistische und antikommunistische Standhaftigkeit ausgezeichnet wie keine zweite deutsche Partei, sich für die Freiheit einzusetzen. Heute richtet sich unser Widerstand gegen jede weltanschaulich und/oder religiös motivierte Bewegung mit totalitärem Anspruch. Aber es geht nicht nur um die Freiheit von Knechtschaft, Fremdherrschaft, äußerem Zwang und Willkür. Mit Freiheit ist auch gemeint die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben, zu Teilhabe und Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, zu Bildung und Wohlstand.

Der Staat erscheint im sozialdemokratischen Weltbild nicht ausschließlich als allmächtiger Leviathan, vielmehr wird ihm eine ermöglichende und ausgleichende Funktion zugeschrieben. Nach diesem Verständnis ist es Aufgabe des Staates, für Chancengleichheit unabhängig von Herkunft und unterschiedlichen Startbedingungen, für eine durchlässige Gesellschaft und die Belohnung individueller Leistungen zu sorgen. Dagegen kann und sollte er nicht Ergebnisgleichheit in Aussicht stellen. Es gehört nicht zu seinen vornehmlichen Aufgaben, die Bürger von jeglicher Eigenverantwortung zu entbinden, sie dadurch zu entmündigen und durch voraussetzungslose Versorgungsleistungen in Abhängigkeit zu belassen – und sich ihrer auf diese Weise bequem zu entledigen.

Der digitale Umbruch zu Beginn des 21. Jahrhunderts übertrifft an Ambivalenz wahrscheinlich alle vorherigen technischen Revolutionen. Freiheitsräume werden eröffnet und zugleich bedroht. Der Einbruch von internetbasierten Wirtschaftsgiganten in unsere Privatsphäre birgt neue, in ihrer Dimension noch nicht genau abschätzbare Risiken für unsere Freiheit. Das exzessive Sammeln von persönlichen Daten, die zu Geschäftsstrategien verdichtet werden, die Hoheit über die Algorithmen von Computerprogrammen und die eines Tages mögliche Verknüpfung der digitalen Technik mit Vorgängen und Funktionen des menschlichen Organismus eröffnen Manipulationsmöglichkeiten, die jede Science-Fiction-Phantasie blass erscheinen lassen. In diesen Herausforderungen liegt für die SPD als Partei der Freiheit ein neuer Auftrag, dessen Erfüllung maßgeblich darüber entscheidet, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben – leben wollen.

Natürlich verliert die Sicherung des Wohlfahrtsstaates nichts von ihrer Bedeutung. Sie wird ein wesentliches Leitmotiv der SPD bleiben. Aber dieser Wohlfahrtsstaat wird von einem eher nachsorgenden und alimentierenden System zu einem vorsorgenden und aktivierenden Sozialstaat umgebaut werden müssen. Die Konzentration auf individuelle Transfers und deren schrittweise Erhöhung wird zugunsten sozialer Dienstleistungen zu korrigieren sein – beispielsweise statt der Erhöhung des Kindergeldes das Angebot kostenloser Betreuungsplätze auszubauen (über die Kinderfreibeträge, die Besserverdienende bevorteilen, ist dann gleich mit zu reden). Grotesk muten Transfers oder steuerliche Begünstigungen wie das Betreuungsgeld und das Ehegattensplitting an, die gleich mehreren Zielsetzungen zuwiderlaufen: bildungs-, integrations-, gleichstellungs- oder arbeitsmarktpolitischen Zielen.

Dem Sozialstaat liegt ein Bündnis von Einzahlern und Empfängern zugrunde, das auf Gegenseitigkeit beruht. Das Prinzip heißt fördern und fordern. In dieser Reihenfolge. Aber auch in dieser Kombination. Kein Zweifel, dass Mitbürger, die in Not geraten sind, der Solidarität bedürfen. Kein Zweifel, dass der Staat gegen die großen Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit oder Altersarmut abzusichern hat. Aber inzwischen gibt es in Deutschland 7,4 Millionen Empfänger von sozialer Mindestsicherung (Stand Ende 2013, Renten- und Pensionsempfänger herausgerechnet). Die Politik sollte keine weiteren nebulösen Versprechen sozialer Wohltaten abgeben, sondern klarmachen, dass kein Weg an mehr privater Vorsorge und größerer Flexibilität beim Renteneintritt und der Lebensarbeitszeit vorbeiführt. Und wäre es nicht des Schweißes der Edlen wert, das komplexe System sozialer Transfers in Milliardenhöhe auf eine begründete Bedürftigkeit zu konzentrieren? Dafür sollte der Graubereich von anspruchsberechtigten, aber existenziell nicht Bedürftigen durch Senkung von Steuern und Sozialversicherungsabgaben entlastet werden. Wieso sollen sie in ein System einzahlen, das ihnen anschließend in einer riesigen Umwälzanlage gnädig etwas auszahlt – da können sie das Geld besser gleich behalten. Die SPD als Partei des aktivierenden und zielgenauen Sozialstaates: Das wäre ein Auftrag, der gleichzeitig die kulturellen Errungenschaften des Sozialstaates absichern und ihn legitimieren würde.

Weil die Erwerbsbevölkerung, die in die Rentenkasse zahlt, abnimmt und der Anteil der älteren Jahrgänge mit länger werdender Rentenbezugsdauer steigt, scheint mir die folgende Ansage unumgänglich: Der bisherige Generationenvertrag muss erneuert werden! Dabei wird sich die Altersvorsorge auch weiterhin maßgeblich auf das System der gesetzlichen Rentenversicherung abstützen müssen. Aber das wird im Spannungsbogen zwischen der begrenzten Belastbarkeit der aktiv Beschäftigten als Einzahler einerseits und dem tendenziell sinkenden Rentenniveau andererseits nicht reichen. Der Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge und die Verbesserungen einer kapitalgedeckten Zusatzversorgung à la Riester-Rente werden daher an Bedeutung gewinnen müssen.

Die zweite unangenehme Botschaft ist deshalb: Die Generationen nach mir werden zusätzlich mehr private Zukunftsvorsorge für Alter, Pflege und Gesundheit zu Lasten ihres Gegenwartskonsums treffen müssen. Und die dritte streitbehaftete Ansage ist, dass die Arbeitszeit über den individuellen Lebenszyklus neu verteilt werden muss. Die heftigen Debatten um ein festes Renteneintrittsalter werden sich noch in diesem Jahrzehnt als Gefechte von gestern erweisen. Wir werden uns vielmehr mit einer vollständigen Flexibilisierung des Renteneintrittsalters zu beschäftigen haben. Und mit Modellen, nach denen in der sogenannten Rushhour des Lebens zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auch im Sinne der Familienpolitik weniger und nach dem 65. Lebensjahr mehr gearbeitet wird. Insgesamt wird sich in Deutschland die durchschnittliche Lebensarbeitszeit in einer Spanne zwischen dem 20. Lebensjahr und über die 70 hinaus – wer noch kann und will, und immer mehr wollen das auch – erhöhen müssen. Das schließt Zugänge zur Frühverrentung aus gesundheitlichen oder psychischen Gründen nicht aus.

Daneben steht der politische Auftrag, das Leitbild demokratiekonformer Märkte gegen ihre im Zuge der Globalisierung drohende Umkehrung in eine marktkonforme Demokratie zu verteidigen. Infrage steht das Primat demokratisch legitimierter Politik gegenüber der Macht und dem Gewicht von Großkonzernen und Großbanken mit enormer Durchsetzungskraft bis hin zum Erpressungspotenzial. Die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts wird die Partei einer Renaissance der sozialen Marktwirtschaft sein müssen und sollte der CDU das Erbe von Ludwig Erhard streitig machen. Sie wird auf die Ertüchtigung und Befähigung der Bürger im Wandel setzen müssen. Sie darf keine falschen Sicherheitsversprechen abgeben. Einen umfassenden Schutz vor dem aus der Globalisierung und dem technologischen Wandel entstehenden Anpassungsdruck kann die SPD nicht zusichern. Und eine protektionistische Abkapselung und Modernisierungsverweigerung darf sie nicht vertreten. Sonst läuft sie Gefahr, ihre »Dachmarke« als Partei des Fortschritts in einem defensiven Verharren gegenüber dem wirtschaftlichen und technischen Wandel zu verlieren – und zu einer strukturkonservativen Partei zu verkümmern.

Es ist schließlich an einen Begriff zu erinnern, den wir nicht aufgeben sollten, nur weil er durch die FDP zuletzt entwertet wurde: Ich meine den Liberalismus. Die FDP hat diesen Begriff so lange ideologisch aufgeladen, bis er ihr eines Tages abhandenkam, verzwergt auf Marktfundamentalismus, antistaatliche Attitüde und beziehungslosen Individualismus. Aber in seiner ursprünglichen Bedeutung ist er nach wie vor positiv besetzt, und nach wie vor verbinden viele Bürger damit zustimmend die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Vorstellungen von Autonomie, Verantwortung, Toleranz und staatlicher Selbstbeschränkung. Die SPD sollte sich diesen Liberalismus aneignen, statt zuzuschauen, wie andere Parteien ihn programmatisch übernehmen und sich zu Erben der FDP aufschwingen. Schließlich ist die sozialliberale Ära von 1969 bis 1982 vielen in guter Erinnerung. Unser Land wurde toleranter und offener, stärkte die Mitbestimmung, warf viele altbackene und autoritative Regelungen über Bord, lockerte die starren Fronten im Ost-West-Verhältnis, betrieb aktive Friedenspolitik, stärkte die...

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