Gastfreundschaft
Der Begriff G. enthält drei Elemente: „Gast-“ (1), „-freund-“ (2) u. „-schaft“ (3).
(1) Das Wort „Gast“ ist einer derjenigen Begriffe, die mit dem existentiellen Überleben (→ Leben) des Menschen zu tun haben. Er kommt daher in vielen Variationen bereits als gemeingermanisches Wort vor u. entspricht seinen Verwandten im Slawischen (ghosti), im Lateinischen (hostis), im Englischen (ghost) u. bedeutet ursprünglich „Feind/Fremder“. Doch gibt es auch die im Lateinischen viel gebräuchliche Weiterentwicklung des Begriffes als hospes (=Gastherr u. Gast, aus hosti – potis). In den Begriffen Hotel, Hospiz, od. etwa Hospital erscheint uns wieder dieser Wortstamm. Auch der Kantische Begriff der Hospitalität ist von hospes abgeleitet.
Der/das Feindliche/Fremde ist im Menschen u. in allen → Kulturen stets stark angstbesetzt. Die Papuas auf Neuguinea sagen sogar, dass man einen Fremden immer meiden solle. Den Platz, an dem sich ein Fremder hingesetzt hätte, sollte man mit einem Dolchstoß „reinigen“, um sich damit vor dem Unheil zu schützen, das ein Fremder stets mit sich brächte. Auch die abendländische Kultur tut sich mit dem Fremden/den Fremden (z.B. dem → Islam) schwer. Man kann sich die individuelle, aber auch generelle Angst vor dem Fremden als eine radikale Urangst vorstellen.
(2) „Freund“ ist das Gegenwort zu Feind, so jedenfalls sieht es das Gemeingermanische. Freund ist Blutsverwandter, Stammesgenosse, persönlicher Vertrauter u. Kamerad – auch im Krieg. Mit Freund werden auch noch weitere Formen gebildet, wie z.B. freundlich (=liebenswürdig, heiter) od. auch Verbformen wie anfreunden (=sich jemand zum Freunde machen). Die germanische Wurzel des Begriffes Freund ist verwandt mit „frei“, wie man es auch im Begriff „freien“ wiederfindet u. hat so auch mit → Liebe zu tun. Im Wort → Friede u. Friedhof kommt „fre...“ wieder vor u. meint hier den Schutz u. die Schonung des Verletzlichen, des Verletzten.
(3) Das ein Femininum bildende Suffix „-schaft“ deutet auf ein Substantiv hin, das die vorhergehenden quasi statischen Bestandteile des Wortes sozusagen in einen aktiven Zusammenhang stellt: Gast u. Freund werden aktiv.
Insofern ist G. stets ein (A) Akt bewussten Handelns. U. so hat G. (hospitium) bereits seit der Antike auch eine moralische Komponente. G. beinhaltet nämlich ein (B) Sollen u. wird somit als Wert begriffen. Dieser Wert ist ein aus → Werten wie dem Liebesgebot (Akt der Barmherzigkeit) od. etwa dem der Achtsamkeit abgeleiteter Wert. Insofern ist G. individuell eine (C) moralische Pflicht (Tugend) u. gesellschaftlich eine (D) Kulturleistung im Umgang mit dem „Feind/Fremden“ überhaupt.
G. ist nur möglich in der Begegnung. Denn wer sich nicht begegnet, kann faktisch weder Feind noch Gast sein. Begegnet einem aber das Fremde od. ist man selbst der Fremde, dann muss man irgendetwas tun. Man kann nicht nichts tun. Diese Begegnung erzwingt quasi Kommunikation. Eine mit dem Fremden gelingende Kommunikation ist erst möglich in der Überwindung der eigenen Angst (s.o.). Insofern ist G. begreifbar als (F) Akt der Entfeindung, indem die Angst vor dem Fremden/Feindlichen aktiv überwunden wird. Dies gilt übrigens für den, der Gast ist (Fremder), wie für den Gastgeber in gleicher Weise.
Platter, G., Fremdenhass u. Gastfreundschaft, Bonn 2005. – Kant, I., Zum ewigen Frieden, hg. v. O. Höffe, Berlin 22004. – Kayed, Ch., Gast sein. Ein Lesebuch, Bozen-Wien 2003. – Derrida, J., Von der Gastfreundschaft, Wien 2001. – Peyer, H., Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter, Hannover 1987.
Guntram Platter
Gebet
Es gibt G.: G. ist Teil der → Lebenswelt. Dem G. begegnet auch, wer nicht betet, u. sei es als fremdes Relikt vergangenen od. befremdendes Zeugnis zeitgenössischen → Lebens. Auch wer nicht betet, wird aufgrund von Erfahrung u. Lernen bestimmte Texte als G.e u. bestimmte sprachliche Vollzüge als Beten deuten (können). G.e, Betende u. Lesarten des G.s sind in allen → Religionen anzutreffen. Es gibt G. nur im Plural. Das jeweilige Vorverständnis kann jedoch dazu führen, dass etwas zwar als G. erkannt, aber nicht anerkannt wird. So erscheint es angebracht, das G. zunächst einmal negativ zu fassen als von alltäglicher Kommunikation abweichende Kommunikation: Im G. wird Kommunikation gesucht mit dem, was alltäglicher Kommunikation nicht nur zufällig entgeht. Die üblichen Kriterien für → Sinn od. Unsinn, Gelingen od. Misslingen einer Kommunikation geben insofern für das G. wenig her.
Trotzdem gibt es G. nur in je konkreten Vollzügen, die daraufhin befragt werden können: Wer betet, ist es individuelles od. kollektives od. G. bes. beauftragter bzw. befähigter Personen? Was wird gebetet, welche Formen: freies od. vorformuliertes G., welche Inhalte: Bitte, Beschwörung, Klage, Dank, Lob, Fluch, Schuldbekenntnis, hat das G.? Wie wird gebetet: still od. laut, ekstatisch od. ritualisiert (→ Ritus)? Wann wird gebetet: spontan od. zu festen Zeiten? Wo wird gebetet: im „stillen Kämmerlein“ od. in sakralen Räumen (Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel)? Worin wird gebetet, in welchen Ausdrucksgestalten: in Worten u./od. Gesten od. etwa in entzündeten Kerzen u. G.sfahnen? Warum wird gebetet: aus Angst, Dankbarkeit, Verpflichtung u.a.m.? Wozu wird gebetet, was sind die Ziele: wird gebetet um Erfüllung od. Überwindung von Wünschen, um Gedeihen od. Verderb von etwas od. jemandem, um Respekt zu erlangen od. um Dank zu erweisen? U. schließlich: Wohin wird gebetet, was od. wer ist das Gegenüber, u. in welchem Verhältnis steht überhaupt das Beten zu einem Gegenüber?
In der christlichen → Tradition mit ihren jüdischen Wurzeln (→ Judentum) u. ihrer Orientierung an G.spraxis (Mk 1,35 u.ö.) u. G.slehre Jesu (Mt 6,9–13 par; Mt 7,7–11 par) hat die letzte Frage besonderes Gewicht. In ihr wird G. als die Antwort des Menschen auf → Gott verstanden, u. zwar als jene Antwort, die durch die zuvor von Gott (in → Schöpfung, → Offenbarung u. → Erlösung) ergangene Anrede an den Menschen ermöglicht ist. Die normativen G.szeugnisse des → Christentums betonen deshalb das dankendlobende Gedenken (→ Gedächtnis) (z.B. Ps 104, Ps 105, Eph 1,3–14). In der Antwort, die die Betenden auf Gott geben, sprechen sie aber nicht nur zu ihm, sondern unvermeidlich auch über ihn u. über sich selbst (vgl. Mi 6,1–8; Lk 18,9–14). Insofern Beten also heißt, Gott zu identifizieren u. individuelle wie kollektive menschliche → Identität auszubilden, ist eine fortwährende kritische Überprüfung angezeigt (vgl. Jes 1,10–17; Mt 6,5–8). Überdies ist die christliche Deutung des G.s durchaus plural. So hebt z.B. die ostkirchliche Tradition (→ Orthodoxie) weniger auf den → Dialog u. stärker auf eine Verbindung bzw. Einheit mit Gott ab (vgl. Röm 8,26f.).
Börner-Klein, D./Demmer, K./Gensichen, H.-W./Haunerland, W./Korherr, E. J./Schaller, H./Untergassmair, F. G./Wahl, O./Weismayer, J., Gebet, in: Kasper, W. u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie u. Kirche, Bd. 4, Freiburg i.B. u.a. 31995, 308–320. – Flasche, R., Gebet, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart u.a. 1990, 456–468. – Schaeffler, R., Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln 1988.
Reinhard Feiter
Gedächtnis
G. (synonym: Erinnerung, Gedenken, Anamnese) ist ein menschlicher Grundvollzug so wie → Sprache, Denken u. Handeln. Ohne Erinnerung könnten Menschen weder kommunizieren noch eine Sprache erlernen, Fertigkeiten erwerben, dauerhafte Beziehungen aufbauen etc. Erinnerung ist wesentlich mit der menschlichen Erfahrung verknüpft – direkter ebenso wie indirekter Erfahrung – u. ist das zentrale Element persönlicher → Identität.
Auch Gruppen, → Ethnien u. religiöse → Gemeinschaften haben Erinnerungen an positive od. negative Situationen in der Geschichte. Diese „kollektive Erinnerung“ konstituiert soziale Identität, die die Gruppe nach innen zusammenbindet u. nach außen abgrenzt. G. ist stets eine Interpretation der früheren Geschehnisse, nie ein objektives Abbild der biografischen od. historischen Fakten. Entscheidend sind die Deutungen u. die Bedeutung, die einem Ereignis zugeschrieben werden, was einen kommunikativen Prozess voraussetzt (Welzer 2002).
Erinnerung ist auch ein philosophischer Begriff. Platon hat im Rahmen seiner Ideenlehre die Anamnesis-Lehre entwickelt, wonach die Gedanken u. Einsichten der Menschen nichts weiter sind als Wiedererinnerungen an einst in der Ideenwelt Gewusstes, das bei der Geburt in Vergessenheit gerät. Neben der Erinnerung von Ideen steht die Erinnerung konkreter historischer Ereignisse (anamnetische, erinnernde Vernunft; Metz 2006).
Nicht zuletzt ist G. eine religiöse u. theologische Basiskategorie (Petzel/Reck 2003). Biblische Erinnerungsmuster (→ Bibel) sind im →...