Iris Nentwig-Gesemann
Zur Geschichte der außerfamiliären Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen
Die Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern bis zu drei Jahren in Tageseinrichtungen ist derzeit ein sowohl öffentlich als auch fachwissenschaftlich viel und kontrovers diskutiertes Thema. Unumstritten ist dabei, dass dem quantitativen Ausbau der Krippenplätze nun eine Qualitätsoffensive folgen muss: Ohne eine deutliche Verbesserung der Strukturqualität, z.B. der Fachkraft-Kind-Relation, ohne eine spezialisierende Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften für die Arbeit mit den Null- bis Dreijährigen und ihren Familien, ohne eine Berücksichtigung von entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, vor allem aus der Bindungsforschung, und ohne eine intensive Begleit- und Wirkungsforschung in Bezug auf die Entwicklungs- und Bildungsprozesse, die sich im Rahmen der außerfamiliären Betreuung vollziehen, droht die in Gang gesetzte Reform in neue ideologische Kämpfe über die Verantwortbarkeit der frühen außerfamiliären Betreuung zu münden. Nicht zuletzt erscheinen für die zukünftigen Reformen ein Blick in die Geschichte und eine Aufarbeitung der unterschiedlichen pädagogischen Kulturen im Osten und Westen Deutschlands notwendig, um Herausforderungen und Chancen realistisch einzuschätzen und in Aus- und Weiterbildung darauf reagieren zu können.
Vor zwei Jahrzehnten prallten nicht nur gegensätzliche pädagogische Konzeptionen und strukturell-organisatorische Systeme der institutionellen Früherziehung sowie der Ausbildung der darin tätigen Fachkräfte aufeinander, sondern auch die über viele Jahre gewachsenen „Ideologien“ bezüglich der Erwünschtheit und Einschätzung außerfamiliärer Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Während in der DDR die berufstätige Mutter idealisiert wurde und das Angebot der außerfamiliären Betreuung absicherte, dass z. B. 1987 91 % der Frauen unter 60 Jahren erwerbstätig oder in Ausbildung waren (Ahnert, 1998), wurde in der Bundesrepublik das traditionelle Frauen- und Muttermodell gepflegt und jede nicht-mütterliche „Fremdbetreuung“ als prekäre und das Wohl des Kindes gefährdende „Notlösung“ gewertet. Wo man auf der einen Seite die Risiken und Herausforderungen der Krippenerziehung nicht sehen wollte, hat man auf der anderen Seite die darin steckenden Chancen und Bildungspotenziale nicht gesehen (Maywald, 2008) und die Bindungsfähigkeit von Kindern in den ersten drei Lebensjahren unterschätzt.
Der Prozess des Zusammenwachsens hat sich als schwieriger und langwieriger erwiesen als vermutet; noch immer – besonders deutlich wird dies im wiedervereinigten Berlin – haben wir es in den Einrichtungen mit zwei Systemen zu tun, die von unterschiedlichen pädagogischen Grundlagen und Traditionen gespeist werden, mit einer großen Zahl von Erzieher/-innen, die auf eine vollkommen unterschiedliche ausbildungs- und berufsbiografische Entwicklung zurückblicken. Auch wenn es inzwischen in den alten und neuen Bundesländern zumindest in vielen Punkten vergleichbare Bildungsprogramme für die Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen gibt, sind wir dennoch noch immer mit Unterschieden in pädagogischer Kultur und Habitus konfrontiert, die auch die weitere Qualitätsentwicklung in den Krippen beeinflussen werden.
Entwicklungen im geteilten und wiedervereinigten Deutschland
2007 werden in Deutschland insgesamt 278 642 Kinder im Alter von unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen betreut, davon 109 619 in Ostdeutschland, 137 660 in Westdeutschland und 31 363 in Berlin (Bock-Famulla, 2008).
Durch die Betreuung von unter Dreijährigen in öffentlich geförderter Kindertagespflege kommen in Westdeutschland noch einmal 28 932 Kinder hinzu, in Ostdeutschland 10 577 Kinder. Die Quote der Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung (Tageseinrichtungen und Kindertagespflege) liegt bei den Kindern unter drei Jahren damit in Westdeutschland (ohne Berlin) bei insgesamt 9,9 % und in Ostdeutschland (ohne Berlin) bei 41 %. In Berlin wird Kindertagesbetreuung von insgesamt 39,8 % der Kinder im Alter von unter drei Jahren in Anspruch genommen – eine höhere Quote findet sich ausschließlich in einigen neuen Bundesländern: in Brandenburg (43,4 %), Mecklenburg-Vorpommern (44,1 %) und Sachsen-Anhalt (51,8 %) (Bock-Famulla, 2008). Diese deutlichen Ost-West-Unterschiede sind in einer mehr als 40-jährigen Teilungsgeschichte begründet, in der sich kontrastierende Systeme der außerfamiliären Betreuung von (Kleinst-)Kindern etablierten.
In der Bundesrepublik, die einzige Ausnahme bildete West-Berlin, blieb die Krippenerziehung in den Jahren zwischen Kriegsende und Wiedervereinigung eine marginale Erscheinung. Mitte der 1970er Jahren galten Krippen offiziell noch als Notangebot der Jugendhilfe, das nur dann in Anspruch genommen werden sollte, wenn die Familien nicht in der Lage waren, ihre Kinder angemessen zu betreuen. In einer Studie von 1988 konnte Tietze (1998) aufzeigen, dass die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in der Bundesrepublik eine „kernfamiliale Angelegenheit“ war und „Betreuung im sozialen Netzwerk (…) im Wesentlichen Großelternbetreuung“. Im Hinblick auf den Betreuungsmarkt bezahlter Einzelpersonen ergab sich, dass es eine deutliche Präferenz für die Betreuung im Haushalt des Kindes durch Kinderfrauen und Babysitter gab: 5,3 % gegenüber der Betreuung durch eine Tagesmutter (1,7 %). Nur 2,4 % der unter dreijährigen Kinder seiner Studie wurden in Institutionen, d. h. Krippen betreut.
Dem stand allerdings eine zunehmende Berufstätigkeit von Frauen gegenüber, sodass vor allem in Großstädten ein eklatanter Mangel an Plätzen herrschte und die Familien mit der Organisation von Betreuungsarrangements weitgehend allein gelassen wurden. Über das Modellprojekt „Tagesmütter“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI, 1980) und die damit initiierte Ausbreitung dieser Betreuungsform sowie durch die Gründung von Eltern-Initiativ-Einrichtungen ergab sich dann in den späten 1970er Jahren eine gewisse Entlastung. Von zentraler Bedeutung war dieses Projekt, weil es nicht nur den Aufbau von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren förderte, sondern in einer Begleitstudie auch belegen konnte, dass Kinder, die in qualifizierter Kindertagespflege betreut wurden, keine Entwicklungsdefizite gegenüber den Kindern aufwiesen, die in der Familie aufwuchsen. Im Hinblick auf personale und soziale Kompetenzen wurden sogar Vorteile festgestellt (DJI, 1980; Schneider, 2010). Seit Mitte der 1970er Jahre veränderten sich allmählich die Bedingungen in den westdeutschen Krippen, die vor allem Krippen in Berlin und Hamburg waren: Die Sauberkeitserziehung wurde gelockert, pflegerische Tätigkeiten traten hinter Spielangebote zurück, Eingewöhnungsmodelle etablierten sich (Schneider, 2010). Dennoch spielte die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Krippen in der Bundesrepublik bis zur Wende eine marginale Rolle: Die Versorgungsquote lag 1990 bei 1,8 %, in West-Berlin immerhin bei 17,8 %, gefolgt von Hamburg mit 9,8 % – in allen anderen Bundesländern lag die Quote hingegen bei unter 2 % (DJI, 1993).
In der DDR galt die Krippe als wichtige erste Stufe des „einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“, auch wenn sie dem Ministerium für Gesundheitswesen unterstellt war. In der Bundesrepublik bildungspolitisch im Abseits und gesellschaftlich überwiegend negativ stigmatisiert, setzte in der DDR der Ausbau des Krippenwesens bereits 1948 unmittelbar mit den Wirtschaftszielen des ersten Fünfjahresplans und dem damit notwendigerweise angestrebten Anwachsen der Frauenerwerbstätigkeit ein. Nicht nur der Ausbau von Tageskrippen, sondern auch von Wochen- oder Saisonkrippen, z. B. für Erntezeiten, wurde vorangetrieben (Nentwig-Gesemann, 1999). Von 1957 bis 1960 wurde eine erste Untersuchung über die Auswirkungen der Krippenerziehung durchgeführt. Ein wesentliches Ergebnis war, dass die Krippenkinder im Durchschnitt am Ende des dritten Lebensjahres fünf Monate Entwicklungsrückstand gegenüber den in der Familie aufwachsenden Kindern aufwiesen (Waterkamp, 1987). Fortan wurden pädagogische Gesichtspunkte stärker berücksichtigt und die Wochen- und Saisonkrippen wurden abgebaut. 1968 wurde dem Krippenpersonal das erste Erziehungsprogramm „Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweisen der Krippen“ zur Verfügung gestellt (Schmidt-Kolmer, 1976), das zwar als „Diskussionsgrundlage“ galt, aber fast 20 Jahre lang die Krippenpädagogik entscheidend prägte. Das „Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen“ (1986), das dann als Arbeitsgrundlage für alle Einrichtungen verbindlich vorgeschrieben war, sollte dem Ziel dienen, „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeiten“ zu formen. Die Aufmerksamkeit, die der Krippenpädagogik von politischer Seite geschenkt wurde, ergab sich aus der Überzeugung, dass „nur dann tatkräftige, schöpferische und allseitig gebildete Sozialisten herangebildet werden können, wenn der komplizierte Prozess der Erziehung und Bildung vom ersten Tag bis weit hinein ins Erwachsenenalter einheitlich und kontinuierlich gestaltet wird“ (Schmidt-Kolmer, 1976). 1989 lag die Versorgungsquote für Kinder im Alter von null bis drei Jahren bei 56,4 % (DJI, 1993), 80,2 % der Zwei- bis Dreijährigen besuchte eine Krippe (Fischer, 1992).
Die Entwicklung nach der Wiedervereinigung und der aktuelle Ausbau von Krippenplätzen
Nach 1989 änderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse dramatisch, die Geburtenraten sanken und die Arbeitslosigkeit stieg. Am Beispiel Berlins kann deutlich gemacht werden, wie sich dies auf die...