2. Muslimische Religiosität und Sozialintegration
Sozialintegration hat vier zentrale Dimensionen (Esser 2009), die unterschiedliche Ebenen gesellschaftlicher Teilhabe beschreiben:
1. Der Erwerb kultureller Kompetenzen wie etwa Sprachfähigkeiten und Bildungserfolg.
2. Die Einbindung in die gesellschaftlichen Institutionen, zum Beispiel durch Erwerbsbeteiligung.
3. Soziale Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft.
4. Wertorientierungen, die mit den Grundwerten der Gesellschaft übereinstimmen, und ein damit einhergehendes Verbundenheitsgefühl.
Diese vier Dimensionen stehen in engem Austausch. So sind die kulturellen Kompetenzen entscheidend für die berufliche Positionierung einer Person. Die Zusammensetzung des sozialen Netzwerks ist bedeutend für die Jobsuche. Die sozialen Kontakte können sich auf die eigenen Werteinstellungen auswirken und umgekehrt. Allerdings bestehen zwischen den gesellschaftlichen Teilhabeebenen keine monokausalen Zusammenhänge, sondern sie stehen untereinander sämtlich in einem komplexen Austauschverhältnis.
»Religion kann als soziale oder persönliche Ressource verstanden werden.«
Der Blick auf muslimische Religiosität in Deutschland erfolgt nicht selten aus der Defizitperspektive und verkennt dabei, dass sowohl in Bezug auf die gesellschaftliche Integration als auch das persönliche Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit positive Wirkungen von Religiosität ausgehen können. Viele Gläubige schöpfen aus ihrer Religion Kraft und finden darin Halt in schwierigen Zeiten. Entsprechend kann Religion als soziale oder persönliche Ressource verstanden werden. Ob diese Effekte tatsächlich auftreten – oder auch mögliche Negativeffekte –, wollen wir folgend auf der Grundlage der Daten des Religionsmonitors für die Muslime in Deutschland prüfen.
Religion und wirtschaftliche Lage
Die wirtschaftliche Unterprivilegierung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland, wie sie etwa bei Sonja Haug, Stephanie Müssig und Anja Stichs (2009, S. 229-237) nachgewiesen ist, schlägt sich auch in den Daten des Religionsmonitors nieder. Die hier erhobene Selbsteinschätzung der wirtschaftlichen Lage durch die Befragten zeigt allerdings, dass die Wahrnehmung von Benachteiligung gegenüber den Nichtmuslimen eher moderat ausfällt (vgl. Abbildung 3): Immerhin über drei Viertel der Muslime nehmen ihre Situation als eher oder sehr gut wahr, gegenüber 84 % der Nichtmuslime.
Abbildung 3Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage
Angaben in Prozent
»Muslime unterschätzen die objektiv vorhandene ethnische und religiöse Schichtung«
Aufgrund der relativ kleinen Stichprobe ist die Beobachtung, dass Muslime sich als verhältnismäßig wenig benachteiligt ansehen, zurückhaltend zu interpretieren. Möglicherweise ist dieses Ergebnis aber als Hinweis darauf zu deuten, dass die objektiv vorhandene ethnische und religiöse Schichtung in der deutschen Gesellschaft seitens der Muslime subjektiv unterschätzt wird. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass sie zum Vergleich mitunter die Verhältnisse im Herkunftsland heranziehen.
In der Theorie der Sozialintegration besteht ein enger Zusammenhang zwischen Akkulturation (zuvorderst die Aneignung von Sprache und Bildung) und gesellschaftlicher Platzierung, wobei ein Indikator hierfür die wirtschaftliche Lage ist. Allerdings gelingt der Schritt vom einen zum anderen nicht unbedingt; beispielsweise führt eine qualifizierte Berufsausbildung nicht immer zu einer entsprechenden beruflichen Position, was prinzipiell für Einwanderer wie für die autochthone Bevölkerung gilt.
»Sunnitische Frauen messen dem Lebensbereich Arbeit und Beruf große Bedeutung zu«
Anja Stichs und Stephanie Müssig (2013, S. 71–79) machen deutlich, dass als Faktor hierbei auch die Religiosität zu berücksichtigen ist. Sie belegen für den Schlüsselbereich der Sozialintegration, den Arbeitsmarkt, dass sich stark ausgeprägte Religiosität negativ auf die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirkt – nicht jedoch auf die von Männern. Dabei besteht dieser Zusammenhang nicht allein für die Muslime, sondern auch für Christen, da mit höherer Religiosität allgemein traditionelle Rollenbilder verbunden sind, die eine Erwerbstätigkeit von Frauen weniger unterstützen (vgl. Becher/El-Menouar 2014). Bei manchen muslimischen Frauen kommt ein weiterer Effekt hinzu: die Sichtbarkeit von religiöser Orientierung durch das Tragen eines Kopftuches. Intrinsische Motive für den Verzicht auf Erwerbsarbeit, Rollenerwartungen sowie Diskriminierung beim Arbeitsmarktzugang mögen also bei den muslimischen Frauen gleichzeitig eine Rolle spielen. Inna Becher und Yasemin El-Menouar haben gezeigt (2014, S. 166 ff.), dass sich die große Mehrheit der muslimischen Frauen wünscht, erwerbstätig zu sein. Dies spiegelt sich auch in den Daten des Religionsmonitors wider: Erwerbstätige wie nicht erwerbstätige sunnitische Frauen messen dem Lebensbereich Arbeit und Beruf weit überwiegend große Bedeutung zu.
Letztendlich hat angesichts der Befunde von Anja Stichs und Stephanie Müssig (2013) die insgesamt höhere Religiosität der muslimischen Frauen im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung zur Folge, dass hier ein spürbares Hindernis für die Erwerbsbeteiligung und damit auch für die Sozialintegration zu vermuten ist. Gleichwohl dürften die Haupterklärungsfaktoren nicht in der Religion, sondern in der fachlichen Qualifikation und in der Familiensituation (Vorhandensein kleiner Kinder) zu suchen sein (vgl. Becher/El-Menouar 2014). Es wird aber deutlich, dass mit der muslimischen Religion spezifische Bedingungen des Arbeitsmarktzugangs speziell von Frauen verbunden sind.
Religionsbedingtes Sozialkapital
Der Religionsmonitor bietet die Möglichkeit, noch einen weiteren möglichen Einfluss auf die Umsetzung von Akkulturation in Teilhabe am Arbeitsmarkt zu prüfen, den des Sozialkapitals (siehe Infokasten). Im Religionsmonitor werden die beiden Hauptbestandteile von Sozialkapital – Vertrauen und Netzwerke – thematisiert und zwischen Menschen gleicher und verschiedener Religion unterschieden. Ergebnisse von Sonja Haug, Stephanie Müssig und Anja Stichs (2009, S. 163–166) bestätigen, dass ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen bindenden (»bonding«) und brückenbildenden (»bridging«) Effekten besteht, da die starke religiöse Vergesellschaftung unter den Muslimen tendenziell mit selteneren Kontakten in die Aufnahmegesellschaft einhergeht. Andererseits scheint die Beteiligung in muslimischen Organisationen keinen negativen Effekt auf die Beteiligung in aufnahmegesellschaftlichen Organisationen zu haben (Haug 2013, S. 270; vgl. auch Halm 2011, S. 17–20). Richard Traunmüller (2008, S. 21) sieht grundsätzlich und speziell auch auf die Muslime in Deutschland bezogen großes Potenzial öffentlicher religiöser Praxis für die Netzwerkbildung. Er relativiert diesen Befund aber in Bezug auf Statusgruppen übergreifende, heterogene Netzwerke (»bridging«). Die Forschungslage ist damit nicht eindeutig.
Der Einfluss von Sozialkapital auf die gesellschaftliche Platzierung ist nicht einfach zu bestimmen, weil die Wirkungen theoretisch in unterschiedliche Richtungen laufen können. So ist es denkbar, dass starke Verbindungen innerhalb von Subgruppen positive Wirkungen auf die Arbeitsmarktintegration haben. Das gilt speziell für ethnisch geprägte Ökonomien, in denen sich über Netzwerke innerhalb der eigenen Gruppe Arbeitsmarktchancen ergeben können, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht im gleichen Umfang bestehen. Häufiger anzutreffen ist aber die Einschätzung, dass »bonding« die gesellschaftlichen Platzierungschancen insgesamt verringert (vgl. Wiley 1967).
Bisher ist in der Forschung nicht herausgearbeitet worden, welche Rolle spezifisch religionsbedingtes Sozialkapital für die Sozialintegration spielt. Grundsätzlich können ihm dieselben Öffnungs- und Schließungsmechanismen innewohnen wie etwa ethnisch definierten Sozialkapitalformen, gewiss ist dies allerdings nicht.
Der Begriff des Sozialkapitals
Das Konzept des Sozialkapitals beschreibt, in unterschiedlichen Konnotationen, gesellschaftliche Ressourcen, die auf Netzwerken zwischen sozialen Akteuren beruhen. Für Einwanderungsgesellschaften ist die Unterscheidung von bindenden und brückenbildenden (»bonding« und »bridging«) Funktionen von Sozialkapital bedeutsam (vgl. Portes/Landolt 1996, Portes et al. 2003). Dabei geht es um die Frage, ob sich Netzwerke und gegenseitiges Vertrauen primär innerhalb gesellschaftlicher Subgruppen – etwa Einwanderer-Communities oder...