II. Geißlerprozession und Passionsspiel
Die Ursprünge des ‛Âschûrâ-Rituals
Als die zum kollektiven Selbstopfer entschlossenen «Büßer» im Jahre 684 – vier Jahre nach dem Martyrium al-Husains – auf ihrem Zug in den Tod die Ebene von Kerbelâ passierten, verharrten sie einen Tag und eine Nacht am Grab des Imams, um mit geschwärzten Gesichtern zu weinen und zu klagen – weniger um des Todes al-Husains als um ihrer eigenen Schuld willen: sie baten den Märtyrer-Imam um Verzeihung für ihr Versagen. Dieses öffentliche Schuldbekenntnis am Grab des Imams und das Weinen über die eigene Sünde sind die Wurzel jenes großen Komplexes von Buß- und Trauerritualen der Schiiten, die sich vor allem in der ersten Dekade des Monats al-Muharram abspielen und an al-Husains Todestag, dem 10. Muharram oder «Zehner» (‛Âschûrâ), ihren Höhepunkt erreichen. Sie vergegenwärtigen das Martyrium des dritten Imams und ermöglichen es den Gläubigen, an dessen Leiden teilzuhaben und einen Teil ihrer individuellen Sünden, aber auch der kollektiven historischen Schuld der Schia, abzubüßen.
Man hat den Ursprung der Muharram- oder ‛Âschûrâ-Riten in vor- oder außerislamischen Überlieferungen gesucht, etwa in der altorientalischen Klage um den getöteten Frühlingsgott Tammûz (Adonis) oder um den mythischen iranischen Helden Siyâwusch. Aber so weit muß man wohl gar nicht gehen, zumal da der iranische Einfluß auf die Schia im Mittelalter noch gering war und erst seit dem 16. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kam. Ursprünglich war die Schia ja ein mesopotamisches Phänomen, und hier, im Zweistromland, lassen sich rituelle Formen wie das Weinen als Bußübung und Teil des Gottesdienstes in größerer räumlicher wie zeitlicher Nähe zu den Anfängen der Schia durchaus finden, und zwar bei allen großen, im Irak vertretenen Religionsgemeinschaften: bei den Manichäern ebenso wie bei den Juden, Christen und frühen Muslimen. Nach dem christlichen Autor Ephrem Syrus aus Edessa (gest. 373) reinigt das Weinen beim Gebet den Körper von Sünden; das mesopotamische Judentum wie auch der irakische Islam kennen den Typus des «Greiners» (arabisch bakkâ’), der u.a. durch den Rabbi Abraham Qidonaya (gest. 637) oder den islamischen Theologen al-Hasan aus Basra (gest. 728) vertreten wird. Der babylonische Talmud warnt sogar vor den Folgen übermäßigen Weinens, das zur Erblindung führen könne.
Das gemeinsame Weinen am Grab al-Husains in Kerbelâ ist die älteste Form des schiitischen Rituals. Zwei Formen des Buß- und Klagerituals sind schon im Mittelalter aufgrund vereinzelter Nachrichten nachweisbar: die von einem Sänger vorgetragene Elegie und die Prozession. Beide spielen noch heute eine herausragende Rolle, und beide haben zur Entstehung des szenischen Passionsspiels, der Ta‛ziye, beigetragen. Das Klagelied (arab. marthiya, Plural marâthî, oder nauh; pers. nouhe oder mâtam) erzählt die tragischen Ereignisse von Kerbelâ einem weinenden Publikum. Werden die im Lied geschilderten, den Teilnehmern von Kindesbeinen an wohlbekannten Szenen durch stumme Darsteller pantomimisch illustriert, so ist der erste Schritt zum Drama getan. Ein wichtiges dramatisches Element ist auch das Wechselspiel zwischen dem Lied des Sängers und den Reaktionen des Publikums, das mit Ausrufen und Formeln, die bald zum Refrain werden, seinem Vortrag respondiert und als Chorus ins Geschehen einbezogen wird. Mit Recht hat man immer wieder auf die Parallelen zum kultischen Ursprung der griechischen Tragödie hingewiesen.
Die zweite Wurzel des Passionsspiels sind die szenischen Elemente, die schon früh bei den Prozessionen am 10. Muharram nachweisbar sind. Im Jahre 963 durften die Schiiten in Bagdad erstmals das Fest zur Erinnerung an Kerbelâ öffentlich begehen. Der Kalif war damals nur noch eine Marionette in der Hand seines iranischen Oberbefehlshabers, des Buyiden Mu‛izz ad-Daula, und seines Wesirs al-Muhallabî; beide waren bekannt für ihre schiitischen Neigungen, und unter ihrer Protektion konnten sich die Schiiten nun an ihren Festen auch in dem überwiegend sunnitischen Bagdad in der Öffentlichkeit zeigen. Ein Bagdader Chronist notiert unter dem Jahr 963: «Am 10. Muharram wurden in Bagdad die Märkte geschlossen, und man stellte allen Verkauf ein: die Metzger schlachteten nicht, und die Garköche kochten nicht. Unablässig baten die Leute um einen Schluck Wasser. In den Sûqs wurden Zelte aufgeschlagen und mit Filzdecken behängt; die Frauen zogen mit aufgelöstem Haar in den Marktgassen umher und schlugen sich die Gesichter; es erhob sich die Totenklage um al-Husain.»
Dieser älteste Bericht über die Prozessionen am 10. Muharram zeigt das Ritual schon in ausgebildeter Form. Gewiß haben die Schiiten aber ihr Fest auch schon früher gefeiert; im Jahr 963 taten sie es nur erstmals mit obrigkeitlicher Erlaubnis, was fortan immer wieder zu blutigen Zusammenstößen mit sunnitischen Zuschauern führte, die sich durch das schiitische Ritual, vor allem durch die dabei üblichen Schmähungen prominenter Gefährten des Propheten Muhammad – der Gegner des ersten Imams ‛Alî – provoziert fühlten. Die kurze Notiz aus der Bagdader Chronik registriert nicht nur die Totenklage der Frauen, sondern auch das Aufschlagen von Zelten, die das Lager al-Husains und der Seinen bei Kerbelâ darstellten, und das Betteln der Prozessionsteilnehmer um einen Schluck Wasser: der Durst, den die Märtyrer litten, als ihnen der Weg zum Euphrat versperrt war, wird hier vergegenwärtigt. Dieselben szenischen Elemente gehören auch heute noch zum festen Bestand der ‛Âschûrâ-Umzüge.
Während der Herrschaft der aus Nordwestiran stammenden schiitischen Condottieri-Familie der Buyiden (945–1055) – die allerdings das sunnitische Kalifat in Bagdad nicht antasteten – erfuhren die Schiitengemeinden im Irak und in Iran Schutz und Förderung; diese Epoche ist eine der wichtigsten in der Geschichte der Entwicklung des schiitischen Rituals, des Rechts und der Literatur. Die Zahl der Schiiten scheint damals auch in den Städten Irans beträchtlich zugenommen zu haben. Schiitengemeinden finden wir im 12. Jahrhundert nicht nur in Qom, sondern auch in Rey (südlich des heutigen Teheran), in Varâmîn, Qazvîn, Âveh, Hamadân, Kâschân und Isfahân, ferner am Südufer des Kaspischen Meeres und in den ostiranischen Städten Sabzavâr, Nîschâpûr und Tûs; in der Nähe der letzteren lag in Maschhad der Schrein des achten Imams ‛Alî ar-Ridâ (persisch Reza). Auch nach Westen fand die Schia ihren Weg; die Bewohner des nordsyrischen Halab (Aleppo) waren damals überwiegend Schiiten.
Die Schiitisierung Irans unter den Safaviden
(1501–1722)
Im Jahr 1501 wurde der erst fünfzehnjährige Ismâ‛îl, das geistliche Oberhaupt eines aserbeidschanischen Derwisch-Ordens, von seinen turkmenischen Anhängern in Tabrîz zum König der Könige (schâhân-schâh) ausgerufen; bis zum Jahre 1510 hatte er ganz Iran und Irak seiner Herrschaft unterworfen. Ismâ‛îl ist der Begründer der Dynastie der Safaviden, die bis 1722 regierte und Iran zu einem schiitischen Land machte. Schah Ismâ‛îl selbst hatte bereits bei seiner Thronbesteigung das schiitische Bekenntnis zur Staatsreligion erklärt. Da aber die Mehrheit der Bevölkerung noch immer sunnitisch war und eine schiitische Infrastruktur fehlte – einen schiitischen Gelehrtenstand mit eigener Wissens- und Bildungstradition gab es in Iran noch nicht –, holten er und seine Nachfolger aus dem Irak, aus der Golfregion und dem seit alters schiitischen südlichen Libanon arabische Gelehrte ins Land, die nun zielstrebig die Schiitisierung des Landes vorantrieben; viele iranische Mollâ-Familien sind sich noch heute ihrer arabischen, oft libanesischen Herkunft bewußt. Am Ende des 17. Jahrhunderts war Iran dann ein überwiegend schiitisches Land; ein regelrechter schiitischer «Klerus» war entstanden.
Aus der Zeit der Safaviden haben wir die ersten Berichte westlicher Reisender, die uns die Muharram-Riten detailliert beschreiben. Der früheste ist wohl der des Engländers Thomas Herbert, dessen Relation of Some Yeares Travaile into Afrique, Asia, Indies 1634 in London gedruckt wurde. Er berichtet: «Sie feiern den Tod Hassans, des ältesten Sohnes Halis, alljährlich mit mancherlei Zeremonien. Ich habe sie gesehen, wie sie neunTage lang in großer Menge in den Straßen Hassan, Hassan riefen, so laut, daß manche nicht mehr schreien konnten, da ihre Stimme dahin war; am neunten Tag finden sie ihn dann (sie glauben ihn in einem Wald verloren) oder jemanden an seiner Statt, und dann bringen sie ihn in einem großen hurly burly – Männer, Mädchen und Knaben – mit dem Ruf Hassan, Hassan mit Trommeln und Pfeifen zur Moschee, und so beenden sie diese ihre Orgie nach mancherlei Bewunderung und Danksagung.»
Der nächste Zeuge ist der türkische Reisende Evliyâ...