I Kinder- und Jugendhilfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts
1 Heutige Jugendhilfe im Grundriss
„Gegenwärtig besteht keine Einigkeit darüber, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe begrifflich fassen lässt.“90 Auch Definitionsversuche wie
„[d]ie Kinder- und Jugendhilfe ist ein sozialer Dienstleistungsbereich, der sich sowohl auf eine öffentliche Infrastruktur zur Pflege, Erziehung und Bildung von Kindern, als auch auf Interventionsaufgaben und das sog. ‚Wächteramt des Staates‘ bezieht“91,
können keine summarische Zusammenfassung des Handlungsfeldes Kinder- und Jugendhilfe darstellen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, als Ausgangspunkt der Darstellung bei den Lebenslagen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst anzusetzen.
1.1 Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen
Der 11. Kinder- und Jugendbericht erhebt die konkreten Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zum Ausgangspunkt. Hierzu wird ausgeführt:
„Die Kommission legt ihren Analysen den Begriff der Lebenslagen zugrunde, weil dieser Begriff sowohl die Dimension der objektiven sozialen Differenzierungen wie der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung erfasst.“92
Der Ansatz bei den Lebenslagen führt konsequent dahin
„zu fragen, welches sozialpolitische und pädagogische Kindheits- und Jugendbild der Kinder- und Jugendhilfe zu Grunde liegt? Es stellt sich zudem die Frage, wie in unserer Gesellschaft die Sorge, Erziehung, Bildung von Kindern institutionell abgesichert ist und wie sie im Alltag verankert wird?“93
Im Sinne des intendierten Grundrisses werden im Folgenden wesentliche Faktoren, welche für die Lebenslage Kindheit und Jugend in Deutschland ausschlaggebend sind, kurz aufgeführt. Dabei ist in grundsätzlicher Hinsicht vorauszuschicken:
„Noch nie ging es Kindern und Jugendlichen so gut wie heute. Noch nie war das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ein so stark öffentlich diskutiertes Thema. Noch nie waren aber zugleich die Herausforderungen für die Gestaltung der Zukunft von Kindern und Jugendlichen so offenkundig und virulent wie heute … Das Aufwachsen ist angesichts dessen zu einem Gestaltungsprojekt und zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung geworden, das den privaten Raum der Familie längst verlassen hat.“94
(a) Von grundlegender Bedeutung für die Lebenslagen von Kinder und Jugendlichen sind die sogenannten sozialen Nahräume. Hier ist auf die sich in stetigem Wandel befindlichen vielfältigen familiären Lebensformen ebenso zu verweisen,95 wie auch auf die Bedeutung von Kindertageseinrichtungen als zunehmend wichtiger werdende Sozialisationsinstanz. Als empirisch gesichert gilt zudem bereits seit geraumer Zeit der Bedeutungszuwachs von Gleichaltrigengruppen (informelle Netze im sozialen Nahraum) sowie Jugendhilfeeinrichtungen, Beratungsstellen, Jugendverbänden, offener Jugendarbeit etc. (organisierte Netze im sozialen Nahraum).96
(b) Eine Schlüsselposition für eine gelingende Sozialisation nehmen sodann die sozioökonomischen Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen ein. Dieser Zusammenhang wird im weiteren Verlauf am Problem der Kinder- und Jugendarmut in Deutschland verdeutlicht werden (vgl. unten S. 52ff.; 213). Eng verknüpft damit ist die stetig zunehmende Bedeutung der Bildungsprozesse für das Aufwachsen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Kindheit und Jugend als Lebensphasen mittlerweile auch als ein „(Bildungs-)Moratorium“ zu begreifen sind und eine höchst individualisierte und heterogene Lebensspanne von bis zu 26 Jahren umfassen können.97 Geht es bei den Bildungsprozessen nicht nur um beruflich verwertbares Wissen, sondern vor allem um die Vermittlung sozialer, selbstreflexiver Kompetenzen mit dem Ziel eigenständiges, verantwortliches Handeln zu fördern, so kommt dem Segment Ausbildung und Arbeit eine durchaus eigenständige Bedeutung zu.98 Kindheit und Jugend sind heute in zunehmendem Maße durch kulturelle Vielfalt und eine differenzierte kulturelle Praxis geprägt. Nach wie vor sind gerade hinsichtlich der Bildungs- und Arbeitsmarktchancen Kinder und Jugendliche mit einem Migrationshintergrund in Deutschland benachteiligt.99
(c) In den vergangenen Jahren ist die Sorge um die gesundheitliche Verfassung unserer Kinder und Jugendlichen immer mehr zu einem öffentlichen Thema geworden. Hierzu gibt es mittlerweile verschiedene wissenschaftliche Studien, wie z. B. die sogenannte KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, die offensichtlich langsam zu einem veränderten Verständnis hinsichtlich der Relevanz der unterschiedlichsten gesundheitlichen Themenfelder für ein angemessenes Aufwachsen von Kindern beitragen.100 Das Spektrum der Thematiken, die schließlich von der Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes aufgegriffen wurden, ist dementsprechend denkbar weit. Beispielhaft seien genannt: Säuglingssterblichkeit, Impfungen, psychische Gesundheit, Kindeswohlgefährdung, chronisch-somatische Erkrankungen, Entwicklungsverzögerungen, Suchtmittelproblematiken, Verhaltensaufälligkeiten, depressives Verhalten, Suizidalität, Traumatisierungen, Behinderungen, Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung. Ein gravierender Anstieg ist insbesondere auch bei depressiven Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen.101 In den abschließenden Empfehlungen der Kommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes finden sich u. a. Leitlinien, welche die„Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ definieren sowie die „Förderung eines achtsamen Körperbezugs“betonen.102
(d) Jugendkriminalität in Form von Delinquenz und der Ausübung von Gewalt muss schließlich ebenso im Horizont der jeweiligen Lebenslagen gesehen werden. Vor dem Hintergrund der öffentlichkeitswirksamen medialen Präsentation der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und der stets wiederkehrenden Rufe nach geschlossener Unterbringung und härterem Jugendstrafrecht sind diese allerdings sehr differenziert zu interpretieren. Schließlich ist noch auf die zunehmende Bedeutung sogenannter neuer Medien und Kommunikationsmittel, vornehmlich sozialer Netzwerke, hinzuweisen.
1.2 Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung
Kinder- und Jugendhilfe gründet auch in bestehenden Disparitäten hinsichtlich der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen.103 Es sind die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im weitesten Sinne: Jugendämter, Landesjugendämter, Ministerien, Kindertageseinrichtungen, Heime, Jugendzentren, Beratungsstellen, aber ebenso Gesundheitsdienste, Migrationsdienste, Jugendgerichte und Einrichtungen der Behindertenhilfe, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, Familiengerichte und nicht zuletzt die politischen Gremien – vom kommunalen Jugendhilfeausschuss bis hin zur Landes- und Bundesebene – die eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen tragen. Die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe besteht somit auch darin, einen kompensatorischen Beitrag zu einem gelingenden Aufwachsen zu leisten. Die Sachverständigenkommission des 11. Kinder- und Jugendberichtes fordert diesbezüglich
„ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen: Staat und Gesellschaft müssen die Lebensbedingungen so gestalten, dass die Eltern und die jungen Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können.“104
Von prinzipieller Bedeutung für das Grundverständnis bundesdeutscher Jugendhilfe und damit für Art und Maß der öffentlichen Verantwortungsübernahme ist Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes. Die Erziehung der Kinder wird in diesem Zusammenhang einerseits als das „natürliche Recht der Eltern“, gleichzeitig jedoch als die „zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ definiert. Über ebendiese Pflicht „wacht die staatliche Gemeinschaft“. Hierin gründet das bereits kurz erwähnte staatliche Wächteramt. Es ist in diesem Sinne Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, Kinder zur Verwirklichung ihrer Rechte auf Entwicklung und Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen und sie vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (§ 1 Absatz 3 Nr. 3 SGB...