Die neue Essunordnung
Jenseits kulinarisch anregender Food-Blogs und hedonistischer Gourmet- und Wein-Magazine, in denen sich die Genusselite selbst feiert, gewinnt man leicht den Eindruck, dass wir beim Nachdenken über unsere Ernährung heute mehr Energie auf die Diskussion und die Abwendung von Gefahren verschwenden, die uns beim Essen drohen oder denen wir andere mit unserem Essen aussetzen, als für die Zubereitung und den Genuss des Essens selbst.
Das war nicht immer so. Eingebunden in eine weitgehend stabile symbolische Ordnung einer Kultur, einer Religion oder einer sozialen Klasse, zu der immer auch ein kulinarisches System gehörte, eine Essordnung, die durch einen bestimmten Mahlzeitenrhythmus und den jeweils geltenden Imperativ des „Guten Geschmacks“ geregelt war (also durch das, „was von den Wegen und Umwegen des Genießens einer Gruppe sich als deren Genuss-Wissen abgelagert hat: spezifische Gewohnheiten und Gebote, Konventionen und Traditionen“1), haben wir unser Essen und unser Essverhalten als etwas Selbstverständliches nicht ständig hinterfragt. Die Essordnungen haben dem Einzelnen Sicherheit verliehen und Orientierung gegeben.
Statt Lebensmittel zu genießen, fürchten wir uns vor ihnen
Heute ist die Vorstellung des „Umsorgtseins“, die eine intakte symbolische Ordnung den in sie eingebundenen Essern noch vermitteln konnte, längst der Überzeugung gewichen, dass man sich auf nichts mehr verlassen könne und von allen Seiten Gefahren drohen: von den Umweltgiften, die schon die Muttermilch kontaminiert haben, über gentechnisch manipulierte Lebensmittel bis hin zu rotem Fleisch, Weizen, Milch, Zucker und vielem anderen mehr. Einschlägige Websites warnen vor Lebensmitteln, die unsere Esskultur seit Jahrhunderten geprägt haben. Bücher wie David Perlmutters „Dumm wie Brot. Wie Weizen schleichend Ihr Gehirn zerstört“ oder Julien Venessons „Wie der Weizen uns vergiftet“ erwecken den Eindruck, als wären Baguette, Butterbrot und Semmelknödel potenzielle Hilfsmittel für Suizidwillige.
Da zugleich ehemalige Autoritäten – von der Schulmedizin bis zur Ernährungswissenschaft – an Macht und Glaubwürdigkeit verlieren, machen sich die umfassend Geängstigten in einer Mischung aus Self-Empowerment und Selbstbemutterung auf den Weg zu individuellen Lösungen für ihre Ernährung. Unterstützt werden sie dabei durch Ernährungsberater, einschlägige Websites im Internet und permanenten Meinungsund Erfahrungsaustausch in Sozialen Netzwerken. Häufig sind diese Lösungen einerseits mit großem Geld- und Zeitaufwand verbunden, um jene Lebensmittel zu beschaffen und jene Speisen zuzubereiten, von denen die Hoffnung besteht, dass sie nicht krank machen. Und sie erfordern andererseits nicht minder große Verzichtleistungen, um erworbene Geschmacksvorlieben den neuen Ess-Idealen anzupassen.
Über die Gründe dieses Wandels lohnt es sich – auch auf einem kleinen Umweg über die Kunst- und Literaturgeschichte – ein wenig nachzudenken.
Warum wir dem Märchen vom Schlaraffenland kein Happy End gönnen
Vor einigen Jahren widmete sich eine internationale Forschergruppe für die University of Chicago einem beinahe himmlischen Projekt: Kunsthistoriker, Biologen und Ernährungswissenschaftler untersuchten sämtliche bekannten Darstellungen des „Letzten Abendmahls“. Sie besahen sich hunderte von Bildern und Fresken aus aller Welt und notierten, was dort für Jesus und seine Jünger aufgetischt wurde.
In den ältesten Darstellungen, am Anfang des 1. Jahrtausends, waren die Tische noch leer bzw. zurückhaltend mit einigen Stücken Brot gedeckt. In der Renaissance standen bereits Brotkörbe voll knuspriger Laibe bereit, später kamen Früchte dazu, auch Wasserkrüge und exotische Schalen und im Barock bogen sich die Tische geradezu unter der Last von Fischen, Wild und Geflügel sowie Obst und Gemüse aus allen Gegenden der Welt.
Was sich in den Bildern spiegelt, ist weniger das im Laufe der Jahrhunderte real angewachsene Nahrungsangebot (an dem lange nur Adel, die hohe Geistlichkeit und das wohlhabende Bürgertum ausgiebig Anteil hatten), sondern die immer größer werdende Sehnsucht aller Menschen nach einem Leben ohne Mangel. Historisch betrachtet war Nahrung bis vor wenigen Jahrzehnten für den überwiegenden Teil der Bevölkerung knapp und unsicher. Die Vorstellung von einem lukullischen Utopia, in dem es im Überfluss zu essen und zu trinken gibt, beflügelte daher nicht nur die Phantasien der Künstler und Dichter, sie übte auf alle Menschen eine besondere Faszination aus.
Sie ist schon im 5. Jahrhundert v. Chr. bei den griechischen Dichtern Telekleides und Pherekrates nachzulesen. Im 15. und 16. Jahrhundert taucht die Idee als Parodie auf das Paradies bei Hans Sachs und Sebastian Brant auf. Und mit den Märchen der Brüder Grimm und mit Ludwig Bechsteins gleichnamiger Geschichte hielt das „Schlaraffenland“, in dem Wein statt Wasser aus den Quellen sprudelt, Käseräder so zahlreich wie Steine am Wegesrand liegen und gebratene Spanferkel frei umherlaufen, auf dass ein jeder sich jederzeit satt esse, schließlich Einzug in unsere Kinderzimmer.
Sich satt zu essen – das war das primäre Begehren. Und wenn möglich auch mit wirklich kulinarischen Leckerbissen. Den Luxus sensibler körperlicher, seelischer, moralischer oder ökologischer Befindlichkeiten, die derzeit die Diskussionen über unser Essen prägen, konnte sich – so sie überhaupt wollte – nur eine sehr kleine soziale Elite leisten.
Würden wir heute Telekleides, Sachs oder Bechstein durch unsere Lebensmittel-Mega-Märkte geleiten, sie durch die Restaurant-Flaniermeilen in unseren Stadtzentren führen, ihnen einen Blick in unsere heimischen Kühlschränke gewähren, sie würden sich wohl in jenem Schlaraffenland wähnen, das sie in ihren Satiren über das dolce vita beschrieben haben. Und sie hätten recht: Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind so viele Menschen jeden Abend satt ins Bett gegangen, noch nie konnten wir dafür auf eine so unterschiedliche Vielfalt und Menge an Lebensmitteln und Speisen zurückgreifen. Für den Großteil der Menschen in den wohlhabenden Staaten dieser Welt und für immer mehr Menschen in den sogenannten Schwellenländern ist das Schlaraffenland Wirklichkeit geworden.
Ein Leben also wie im Märchen? Ja. Und doch fällt es uns schwer, der Erfolgsgeschichte auch ein Happy End zu gönnen. Viele der heutigen „Schlaraffen“ können mit dem nahezu unbegrenzten Angebot an Lebensmitteln, mit den an jeder Ecke verlockend duftenden Speisen, mit den Lockrufen der allgegenwärtigen kulinarischen Bilder in Werbung und Medien nicht vernünftig umgehen. Inmitten einer Gesellschaft, in der die Wahlfreiheit ein zentrales Gut darstellt, wächst die Anzahl derer, die unfähig sind, die Wahlfreiheit mit Freude zu empfinden.
Da gibt es jene, die sich den Verlockungen im maßlosen Konsum hingeben und dann ihr Übergewicht beklagen und ihr „sündhaftes“ Essverhalten mit strengen Diäten büßen zu müssen glauben. Und da gibt es die, die den Verlockungen durch maßlose Mäßigung zu widerstehen versuchen, in deren Augen sich das lukullische Utopia längst in eine Vision der Apokalypse verkehrt hat; und die sich mit einer moralisch eingefärbten Wollust auf die Suche nach Befunden dafür machen, dass unser Ernährungssystem die ökologische Katastrophe heraufbeschwört, unsere Gesellschaft entweder an endemischem Übergewicht oder an moralischer Indifferenz zugrunde geht, und die diesen Bedrohungen daher nur im Schutz von Verboten und Entsagungen entkommen zu können glauben.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Wir haben erreicht, wovon unsere Vorfahren nur träumen konnten, wir bekommen das, wovon wir behaupten, es zu wollen, und müssen feststellen, dass das, was wir wollten, uns nicht die erwartete Zufriedenheit schenkt, uns unsicher und orientierungslos macht.
Die Erosion des Mahlzeitensystems und die neue Verzichtskultur
Das hat vor allem damit zu tun, dass die Realisierung der lukullischen Utopie erst auf Basis der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion möglich war, die zugleich auch mit dem Zerfall der Essordnungen einherging, mit der Erosion des traditionellen (bürgerlichen) Mahlzeitensystems im Zuge des Wandels unserer Arbeitswelt (Flexibilisierung, Digitalisierung und Mobilisierung) sowie mit der Diversifizierung der Lebensstile in der säkularisierten Moderne. Weil wir so viele Wahlmöglichkeiten haben und so viele Optionen der Selbstdarstellung via Essen, die nicht mehr in verbindliche symbolische Ordnungen eingebunden sind, eröffnen sich dem Einzelnen auch viele Wege, die in eine falsche Richtung führen: Statt einen genussvollen Umgang mit der Fülle an Nahrungsmitteln zu suchen, konzentrieren viele ihre Energie bloß noch auf die Abwehr von realen und eingebildeten Gefahren.
Der Veganismus und zahlreiche andere Diätkonzepte lassen sich daher zunächst als Reaktion auf das Überangebot im Schlaraffenland verstehen. Der radikale Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel – und hier vor allem der Verzicht auf Fleisch und...