Kapitel 1 – Die Geschichte einer Häretikerin
Meine allmähliche Abkehr vom Islam
Ich wurde als praktizierende Muslimin erzogen und lebte als solche fast die Hälfte meines bisherigen Lebens. Ich besuchte Madrasas und lernte große Teile des Korans auswendig. Als Kind wohnte ich eine Zeit lang in Mekka und ging häufig in die Große Moschee. Als Teenager schloss ich mich der Muslimbruderschaft an. Kurz gesagt, ich bin alt genug, um die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte Spaltung zwischen dem alltäglichen Glauben meiner Eltern und dem intoleranten, militanten Dschihadismus der Menschen, die ich die Medina-Muslime nenne, miterlebt zu haben. Lassen Sie mich also mit dem Islam beginnen, mit dem ich aufwuchs.
Ich war etwa drei Jahre alt, als meine Großmutter begann, mir unter den gefiederten Blättern des somalischen Talalbaums das wenige beizubringen, das sie aus dem Koran behalten hatte. Sie konnte weder lesen noch schreiben – die Alphabetisierung wurde in Somalia erst ab 1969 gefördert, dem Jahr, in dem ich geboren wurde –, und Arabisch war ihr fremd. Doch sie verehrte das heilige Buch, nahm es voller Ehrfurcht in die Hand, küsste es und legte es sich an die Stirn, bevor sie es dann ganz vorsichtig wieder weglegte. Wir durften den Koran nicht berühren, ohne uns zuerst die Hände zu waschen. Meine Mutter stand meiner Großmutter in diesen Dingen nicht nach, war jedoch mit dem Koran vertrauter und sprach ein wenig Arabisch. Sie hatte die Gebete auswendig gelernt und konnte zudem furchterregende Beschwörungen rezitieren, mit denen sie mich warnen wollte, dass ich für jedwede Missetat im Höllenfeuer brennen würde.
Meine Mutter erblickte unter einem Baum das Licht der Welt und wuchs in der Wüste auf. Als junges Mädchen war sie weit herumgekommen, bis hin nach Aden im Jemen, jenseits des Roten Meers. Sie wurde verheiratet und mit ihrem Mann nach Kuwait geschickt. Nach dem Tod ihres Vaters ließ sie sich sofort von diesem Ehemann scheiden. Meinen Vater lernte sie durch ihre ältere Schwester kennen, als er in der somalischen Hauptstadt Menschen das Lesen und Schreiben beibrachte. Meine Mutter war eine seiner besten Schülerinnen. Sie lernte schnell und verstand es, sich gut auszudrücken. Da mein Vater bereits eine Frau hatte, wurde meine Mutter seine Zweitfrau. Mein Vater war politisch engagiert, ein Oppositionsführer, der versuchte, Somalia zu verändern, das damals von Diktator Siad Barre regiert wurde. Als ich zwei Jahre alt war, wurde mein Vater verhaftet und in das alte italienische Gefängnis gebracht, das als »Das Loch« bekannt war. Den größten Teil meiner Kindheit und Jugend waren da also nur meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester, meine Großmutter und ich.
Meine erste richtige Schule war eine Koranschule – eine Hütte, die Schutz vor der brennenden Sonne bot. Zwischen 30 und 40 Kinder saßen unter einem Dach, das von Holzstangen gehalten wurde, umgeben von einem Dickicht von Bäumen. Wir hatten den einzigen Schattenplatz. Vorne in der Mitte stand ein fußhoher Holztisch, auf dem ein großes Exemplar des Korans lag. Unser Lehrer trug einen Sarong und ein Hemd, die traditionelle somalische Männertracht, und ließ uns die Verse skandieren, ähnlich wie amerikanische und europäische Vorschulkinder lernen, kurze Gedichte und Kinderreime aufzusagen. Wenn wir etwas vergaßen, einfach nicht laut genug sprachen oder die Stimme zu stark senkten, nahm er seinen Stock und stupste oder schlug uns.
Wir skandierten auch Verse, wenn Schüler sich schlecht benahmen. Wenn man ungehorsam war, wenn man nicht lernte, was man lernen sollte, wurde man in die Mitte der Hütte geschickt. Der schlimmste Missetäter wurde in einer Hängematte nach oben gezogen und in der Luft hin und her geschaukelt. Uns Übrigen gab man kleine Stöcke, die wir über den Kopf hoben und mit denen wir das ungehorsame Kind durch die offenen Löcher der Hängematte schlugen, während wir im Chor Verse aus dem Koran über das Jüngste Gericht grölten, wenn die Sonne schwarz wird und die Höllenfeuer brennen.
Jede Strafe in der Schule oder zu Hause schien mit der Androhung des Höllenfeuers und Bitten um Tod oder Zerstörung verbunden zu sein: Mögest du diese oder jene Krankheit erleiden und in der Hölle schmoren. Und doch wandte sich meine Mutter abends, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und die kühle Nachtluft uns umgab, nach Mekka und sprach ihr Abendgebet. Wieder und wieder, drei-, vielleicht viermal rezitierte sie die Worte, die Eröffnungsverse des Korans und andere Verse, wobei sie mit der Hand auf dem Leib dastand, sich dann verbeugte, sich niederwarf, setzte, erneut niederwarf und wieder setzte. Es gab ein ganzes Ritual von Wörtern und Bewegungen, und es wiederholte sich jeden Abend.
Nach ihren Gebeten saßen wir unter dem Talalbaum und baten Allah darum, meinen Vater aus dem Gefängnis zu befreien. Wir flehten ihn an, uns das Leben zu erleichtern, baten ihn, Geduld mit uns zu haben, uns Kraft zu verleihen und Vergebung und Frieden zu bringen. »Ich suche Zuflucht bei Allah«, skandierte meine Mutter. »Barmherzigster und gütigster Allah … Mein Herr, vergib mir, hab Erbarmen mit mir, leite mich, gib mir Gesundheit und gewähre mir das tägliche Brot, richte mich auf und lass alles gut werden.« Es wurde zu einem vertrauten und tröstlichen Wiegenlied, so weit entfernt von den klatschenden Stöcken und höhnischen Worten in der Koranschule, wie man es sich nur vorstellen kann.
Die Bittgebete schienen erhört worden zu sein. Mithilfe eines Verwandten gelang es meinem Vater, aus dem Gefängnis zu entkommen und nach Äthiopien zu fliehen. Das Naheliegendste wäre gewesen, dass meine Mutter mit uns ebenfalls nach Äthiopien gegangen wäre. Doch sie wollte nicht dorthin. Mit seiner vorwiegend christlichen Bevölkerung war Äthiopien für sie ein unreines Land mit einem Meer von Ungläubigen. Sie zog es vor, nach Saudi-Arabien zu gehen, der Wiege des Islam, dem Sitz seiner heiligsten Orte, Mekka und Medina. Sie besorgte sich einen falschen Pass und Flugtickets für uns alle, und dann weckte uns eines Morgens, als ich acht Jahre alt war, meine Großmutter und zog uns unsere besten Kleider an. Und am Ende des Tages befanden wir uns in Saudi-Arabien.
Wir ließen uns in Mekka nieder, dem spirituellen Herzen des Islam, dem Ort, zu dem fast jeder Muslim und jede Muslimin einmal im Leben eine Pilgerreise unternehmen möchte. Wir konnten diese Pilgerfahrt jede Woche machen, indem wir den Bus von unserer Wohnung zur Großen Moschee nahmen. Mit acht Jahren hatte ich bereits die Umra unternommen, die kleine Version der großen Wallfahrt nach Mekka, des Hadsch, der fünften Säule des muslimischen Glaubens, die den Pilger von seinen Sünden reinwäscht. Außerdem konnten wir jetzt den Islam so studieren, wie er in saudischen Koranschulen unterrichtet wurde statt in einer somalischen Hütte. Meine Schwester Haweya und ich wurden in Koranschulen für Mädchen angemeldet. Mein Bruder Mahad besuchte eine Madrasa für Jungen. Vorher hatte man mich gelehrt, dass alle Muslime in Bruderschaft vereint seien, doch hier entdeckte ich, dass die Bruderschaft der Muslime rassische und kulturelle Vorurteile nicht ausschloss. Unsere Korankenntnisse aus Somalia waren nicht gut genug für die Saudis. Wir wussten zu wenig; wir murmelten, statt zu rezitieren. Wir hatten nicht gelernt, irgendwelche Passagen zu schreiben, sondern einfach nur, uns die Verse einzuprägen und immer wieder langsam zu wiederholen. Die saudischen Mädchen waren hellhäutig und nannten uns Abid, Sklaven – tatsächlich hatten die Saudis die Sklaverei erst fünf Jahre vor meiner Geburt gesetzlich abgeschafft. Zu Hause ließ unsere Mutter uns nun fünfmal am Tag beten und jedes Mal die rituelle Waschung vollziehen.
In Mekka wurde ich zum ersten Mal mit der strikten Anwendung der Scharia konfrontiert. Nach dem Freitagsgebet wurden auf den öffentlichen Plätzen Männer enthauptet oder ausgepeitscht, Frauen gesteinigt und Dieben die Hände abgehackt, wobei das Blut nur so herumspritzte. Der Rhythmus skandierter Gebete wurde ersetzt durch den Widerhall von Metallklingen, die durch Fleisch schnitten und auf Stein trafen. Mein Bruder – der im Unterschied zu mir bei diesen Bestrafungen zusehen durfte – gab dem Platz, der unserer Wohnung am nächsten lag, den Spitznamen »Hack-Hack-Platz«. Wir hinterfragten nie die Grausamkeit der Strafen. Für uns passte all dies einfach ins Bild des Höllenfeuers.
Doch die Große Moschee mit ihren hohen Säulen, kunstvollen Kacheln und polierten Fußböden faszinierte meine Mutter. Hier konnte sie im kühlen Schatten siebenmal um die Kaaba, das heilige Gebäude im Zentrum der Moschee, herumgehen. Die Ruhe wurde nur im Monat des Hadsch, der rituellen Pilgerfahrt, unterbrochen. Dies war die Zeit, in der wir aus Angst, von den Massen von Gläubigen, die durch die Straßen strömten, niedergetrampelt zu werden, unsere Wohnung nicht verlassen konnten und selbst die einfachsten Unterhaltungen wegen des ohrenbetäubenden ständigen Betens gebrüllt werden mussten.
Es war auch in Mekka, wo mir zum ersten Mal die Unterschiede zwischen dem Bild meines Vaters vom Islam und dem meiner Mutter bewusst wurden. Nachdem mein Vater aus Äthiopien zu uns gekommen war, bestand er darauf, dass wir nicht nach Geschlechtern getrennt in unterschiedlichen Räumen der Wohnung beteten, wie es in Saudi-Arabien Tradition war, sondern zusammen als Familie. Er konfrontierte uns nicht mit dem Schreckgespenst der Hölle, und einmal pro Woche lehrte er uns den Koran, las daraus vor und versuchte,...