Der Versuch einer Einführung
„Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen...“
Antoine de Saint Exupéry
Es ist ein grauer, verregneter Nachmittag. Kalt und ungemütlich.
Luna startet ihren PC. Das dauert eine längere Zeit, während dieser sie sich einen dreifachen Cognac eingießt und in einem Zug herunter kippt. Mit den Fingern trommelt sie ungeduldig auf den Schreibtisch. Sie fühlt eine extreme Unruhe in sich, ein Unwohlsein, das sie so nicht kennt.
Mit der Maus wandert sie die Favoriten-Leiste entlang, bis sie den Doppelklick auf das Angstforum macht. Sie loggt sich ein mit einem Nick, den sie für sich selbst sehr lieb gewonnen hat. Gestern hat sie sich noch ein zweites E-Mail-Account eingerichtet. Nur vorsichtshalber. Um chatten zu können. Sie hat Giorgio allerdings gesagt, dass sie nicht chattet, kein Verlangen danach hat. Sie findet es unnötig und unbefriedigend. Trotzdem, nur zur Sicherheit, hat sie dieses Konto aktiviert. Es ist unmöglich, dass auf diesem Account Mails für sie angekommen sind, denn keiner kennt diese Adresse bisher. Aber sie möchte es sich trotzdem ansehen. Ein wenig angstvoll erwartet sie die Frage nach dem von ihren gewählten Benutzernamen und gibt ihn dann schnell ein:
Sorella di Luna. Schwester des Mondes.
Dieser Name geht weit zurück, als Luna 13 Jahre alt war. Sie hat die Platten der Gruppe Supertramp rauf und runter gehört. Sie hat viele Lieblingslieder, eines davon ist „Sister Moonshine“. Giorgio machte daraus „Sorella di Luna“.
Luna ist in Gedanken bei Giorgio, der das wohl mehr als eine weitere Möglichkeit der Kommunikation vorgeschlagen hatte, ohne Verpflichtung zur Benutzung, nur als Angebot. Und sie ahnt die Tragweite nicht, weiß noch lange nicht, was in ihr tief verschüttet ist, wohin sie dieser Name, den sie gewählt hat, führt: Sorella di Luna.
Luna schreibt:
„Ich habe ihn verachtet. In den Tiefen meiner Seele. Er passte nicht im Entferntesten zu den ethischen Maximen meines Empfindens. Ich habe es genossen, missbraucht zu werden, habe das Dunkle, die Zweifel, das Schlechte genossen. Habe es genossen schlecht zu sein, wenn ich ihn im Schlechten unterstützt habe. Habe die Brutalität, das Falsche, die Gewalt genossen. Habe sie gebraucht. Er war Aidan, er kam aus Irland.
Daraus habe ich Empfindungen gezogen, Inspiration, SEIN!
Weißt Du jetzt, warum ich Schuldgefühle habe? Ich bin nicht besser als er. Habe alles missachtet, was ich mir selber aufgezwungen habe, was ich immer für richtig und wertvoll hielt. Ich habe MICH SELBER verraten.
Weißt Du jetzt, warum ich schuldig bin? Weißt Du es JETZT?“
Giorgio antwortet:
„Nein, ich weiß überhaupt nichts von Dir, ich habe überhaupt nichts von Dir erfahren! Was Du mir da sagst, ist doch gequirlte Scheiße! Entschuldige den harten Ausdruck, aber der ist hier wirklich angemessen...
Du erzählst mir nur von der Oberfläche weg, von dem was Dir von Deinen Missbrauchern als Deine eigene Mitschuld suggeriert wurde, was Du Dir dann postwendend als Deine Bestrafung auferlegt hast!
Rede bitte weiter, aber erzähle jetzt wirklich von Dir!“
Luna sagt:
„Die Erniedrigungen waren für mich eine Entschuldigung mir selbst gegenüber. Dafür, dass ich machtlos war, hilflos, ohnmächtig. Sie waren ein Grund, bei mir selber damit hausieren zu gehen, mir selber Mitleid zu schenken, wenn es sonst niemand tat, da ja auch niemand davon wusste. Es war die Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wenn ich nicht mehr erniedrigt würde. So wie es heute die Angst vor einem gesunden Leben ist, die mich denken lässt, ich würde dann nicht mehr geliebt, nicht mehr akzeptiert. Ich kann nicht beschreiben, was das Gefühl, erniedrigt zu werden, mit einem macht, und es dann trotzdem anzunehmen, weil man glaubt, es muss so sein. Weil man glaubt, es ist gerecht und richtig so. Und weil man glaubt, es geht eben nicht anders...“
Giorgio antwortet:
„Kann man nicht einfach sagen, Du warst einsam, alleine und mit dem Rücken zur Wand? Du wolltest geliebt werden, um jeden Preis und sei er noch so hoch...“
Luna sagt:
„Ich habe oben gesagt, ich hätte diese Erniedrigungen genossen, hätte es so gewollt. Ich war immer in einer Art banger Hoffnung, Aidan würde mir die Entscheidung über Leben und Tod abnehmen. Weil ich selbst eigentlich immer zu feige war. Bis auf den einen Suizidversuch ist es immer nur beim Reden geblieben. Ein Sterbensangebot hätte ich gerne entgegen genommen. Ich habe es bei Aidan oft provoziert und auch die Gefahr, so wie auch oft in der Altstadt, wenn ich dort unterwegs war. Immer hoffend, man nähme mir die Entscheidung ab.“
Giorgio antwortet:
„Du hast damals wieder einmal Dein Leben jemand anderem in die Hände gegeben, obwohl Du eigentlich viel besser, als alle andere damals, für Dich hättest sorgen können. Aber Du hattest einfach nicht mehr alleine die Kraft dazu und die Sicherheit Deines Elternhauses, die Dir so viel bedeutet hat, war Dir schon mit dem ersten Missbrauch verloren gegangen.
Du hast versucht mit Deiner Liebe zu Aidan einen Ersatz zu schaffen und er hat dann Deine Liebe erbarmungslos missbraucht.
Hast Du damals gedacht, er würde Dich wenigstens in dem kurzen Moment lieben, wenn er Sex mit Dir gemacht hat, konntest Du Positives daraus gewinnen?“
Luna antwortet:
„Sex war für mich von Anfang an auch mit Aidan einfach nur widerwärtig. Aber anfangs habe ich mich nicht so sehr gewehrt, weil ich dachte, es müsse eben so sein, ich war ja völlig unerfahren darin. Später war ich einfach immer nur wieder „die Leiche“, so wie damals, zehn Jahre früher. Habe es mit mir machen lassen, habe mich nicht bewegt. Und habe dabei gehofft, es geht vorbei. Gehofft, es geht schnell vorbei... Ja, eine Strafe war es von Anfang an. Jedes Mal, wenn ein Penis in mich eindringt kommt es mir vor, als würde ich mit einem Messer aufgeschlitzt und in der Körpermitte gespalten. Wenn jemand meine Brüste berührt muss ich denjenigen von mir wegdrücken, weg stoßen, manchmal ist mir sogar schon dabei die Hand ausgerutscht...“
Giorgio antwortet:
„Das unklare Erleben des Unangemessenen lässt in Dir Scham und Ekel aufkommen, das ist durch Deine Vorgeschichte bedingt. Aber nicht Du musst Dich schämen, sondern zwei andere...
Hast Du damals nicht daran gedacht, Dich Deinen Eltern anzuvertrauen?“
Luna antwortet:
„Nein, nach Hause gehen konnte ich nicht. Es wäre gegen meinen Trotz gewesen. Den Triumph hätte ich meinen Eltern niemals gegönnt. Ich hätte und habe es bis zum bitteren Ende durchgezogen. Und wenn er mich zehnmal am Tag vergewaltigt hätte !!!“
Giorgio insistiert:
„Noch einmal: Kann man nicht einfach sagen, Du warst einsam, alleine und mit dem Rücken zur Wand? Hat Aidan Dir nicht auch noch dauernd Deine Schuld eingeredet, um Dich zu drücken?“
Luna antwortet:
„Ja, das stimmt, er war gut im Schuld einreden. Er hat immer etwas gefunden, um mich zu überreden, mich von meiner Schuld zu überzeugen.
Und er hat es immer wieder geschafft. Ich kam aus einer guten Familie, habe eine gute Erziehung genossen, wusste, was richtig und was falsch war. Und trotzdem war das alles möglich?
Ich habe die Drogenszene kennen gelernt, habe gesoffen, mich geschlagen, war kurz davor, nicht mehr leben zu wollen. Welcher Schutzengel hat mich davor bewahrt? Und warum? Warum???
Ich habe viele Menschen kennen gelernt, zwei davon sind an Drogen gestorben. Ich war da!!! Habe es gesehen, mit ihnen gelitten und konnte keinem von Beiden helfen.
Und einer der Bösen, Aidan, lebt und hat sogar auch noch Kinder. Ich wünschte mir, er wäre tot, anstatt dieser zwei lieben Menschen...“
Giorgio antwortet:
„Du warst da, aber Du warst leider nicht Du! Aidan hat das in keiner Form mehr zugelassen und Du warst nicht in der Lage Dich davon zu befreien!
Es geht doch heute im Kern nur darum, Dich wieder zu DIR zurückzuführen, Dir das Gefühl für Dich selbst wieder zurück zu geben!
Jeder von uns hat seinen Schutzengel, es liegt an uns ihn zu spüren, ihn gewähren zu lassen!
Aidan hat eine große Schuld auf sich geladen, nehme jetzt nicht einfach seine Schuld auf Deine Schultern, sondern lasse ihn seine Schuld alleine tragen, lasse es seine gerechte Strafe bleiben!“
Lunas Drang, zu helfen und zu lieben war immer stark, oft mächtiger, als sie selbst. Er war früher über lange Jahre übermenschlich groß. Ein tiefer, oft peinigender innerer Druck, der immer wieder erfüllt, befriedigt werden musste, sonst hätte Luna ihm irgendwann nicht mehr standhalten können. Ihre Kindheit bestand aus der Adaption von Heldentum, Unverletzlichkeit, Unerreichbarkeit. Nur so konnte sie alles, aber auch alles für andere geben und sich selbst dabei vergessen. Es ist eine naive Ansicht der Dinge, die, das weiß sie, auch heute noch in ihr...