Der Lebenslauf des Menschen ist nicht ein Geschehen, das bloß abläuft. Durch die Erinnerung beschworen, kann der eigene Lebenslauf zunächst als ein zeitliches Gebilde wahrgenommen werden, als ein gewachsener und gegliederter Organismus, der eine Entwicklung hat. Dieselbe Entdeckung einer Zeitgestalt kann man bei anderen Lebensläufen machen. Aus jedem Lebenslauf tritt uns ein Mensch entgegen mit einem lebenslangen Werden. Beschreiben wir für uns, für die Welt einen solchen Lebenslauf, so wird eine Biografie daraus. Bevor jedoch eine Biografie geschrieben werden kann, «schreibt» sie der Mensch selbst durch sein Leben in die Welt ein, der Biograf schreibt eigentlich nur diese «Urschrift» ab.2
Leben hat auch die Pflanze, hat auch das Tier, doch wird hier die Biografie nicht von der einzelnen Pflanze, vom einzelnen Tier «geschrieben». Das Leben der Pflanze wird ganz vom Kosmos bestimmt. Insbesondere ist es die Sonne, nach der sich die Pflanze orientiert; ihr Licht bewirkt – durch den Vorgang der Assimilation –, dass sich die Pflanzengestalt aus der Luft verdichtet.
Das Tier emanzipiert sich bis zu einem gewissen Grad von der Außenwelt, indem es in seinem sich abschließenden Organismus das Leben des Kosmos verinnerlicht. Dadurch wird es möglich, dass das Tier von innen auf die Welt reagiert, dass eine Seele durch seinen Leib empfinden und agieren kann. In der Seele des Tieres, das nicht mehr wie die Pflanze dem Licht der Sonne offen steht, leuchtet das Licht des Bewusstseins auf.
Doch ist das einzelne Tier dabei immer noch in seine Gattung eingebunden, als deren Glied es erscheint. Der einzelne Löwe reagiert als Gattungswesen und nicht als Einzelwesen. Die seelischen Regungen des einzelnen Tieres gehen nicht von einem Mittelpunkt in ihm selber aus, sondern fluten von der Gattung her durch das Tier hindurch, erfüllen sein seelisches Leben, impulsieren und lenken unwiderstehlich sein Dasein.
Erst der Mensch lässt die Veranlagung eines Mittelpunktes erkennen, von dem aus ein individuelles Leben möglich wird. Zum Bewusstsein der Seele tritt das Selbstbewusstsein des Ich, des Kerns der Seele, zu dem alle ihre Erlebnisse in Beziehung treten, von dem alle ihre Handlungen ausgehen. Während das ichlose Tier vom «Gruppen-Ich» seiner Gattung bestimmt wird, hat jeder Mensch sein eigenes Ich.3 Damit hat das Licht des Bewusstseins ein Zentrum bekommen, ein Zentrum, das zunächst wie ein Funke in der Seele aufleuchtet. Das «Gottesfünklein» des Meister Eckhart, das in jeder Menschenseele glüht, wird zur inneren Sonne. Goethe stellt (in dem Gedicht «Vermächtnis») fest:
Denn das selbstständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Die Bezeichnung «Gottesfünklein» deutet schon darauf hin, dass sich durch das Ich des Menschen Göttliches verkörpern kann, dass er, wenn er aus seiner inneren Sonne heraus lebt, im Einklang mit der göttlich-geistigen Welt sein Leben gestaltet. Aber auch seine innere Sonne ist wieder nur ein Funke des göttlichen Lichtes. «Das Ich nimmt in sich die Strahlen des Lichtes auf, das als ewiges Licht in dem Menschen aufleuchtet.»4 In individueller Form lebt durch das Ich der Geist in der Seele des Menschen.
Hinter jedem Lebenslauf wird das Wesen des Menschen sichtbar. Während die Pflanze lebendiger Leib ist, lässt das Tier einen beseelten lebendigen Leib erkennen. Beim Menschen tritt das Ich hinzu, durch das sich Geist manifestiert. Nur ein Wesen, das sich aus Leib, Seele und Geist aufbaut, ist imstande, mit seinem Ich einen individuellen Lebenslauf im beseelten Erdenleib zu gestalten und seine Biografie in die Welt einzuschreiben.
Lebenslauf und Rhythmus
Die Gliederung des zeitlichen Gebildes «Lebenslauf» erfolgt – wie überall, wo etwas wächst – durch verschiedene Rhythmen. Der wichtigste Rhythmus des menschlichen Lebens ist der Siebenjahresrhythmus.
Ungefähr alle sieben Jahre bemerkt der Mensch, dass sich im Leben grundlegend etwas ändert. Beim beginnenden Zahnwechsel gegen das siebte, bei der Pubertät gegen das vierzehnte Jahr fällt das am meisten auf; doch kann, wenn man aufmerksam ist, dieselbe Beobachtung das ganze Leben hindurch gemacht werden. Die Formulierung «ungefähr alle sieben Jahre» bedeutet dabei nicht eine wissenschaftliche Ungenauigkeit, sie hängt vielmehr mit dem Wesen des Rhythmus zusammen. Während nach L. Klages der Takt zu einer Wiederholung von gleichen Zeitabschnitten führt, ist der Rhythmus durch die Wiederholung von ähnlichen Zeitabschnitten charakterisiert.5 Schwankungen gehören also auch zum Siebenjahresrhythmus des menschlichen Lebens dazu. Am wichtigsten sind die Verfrühungen und Verspätungen, die durch die Entwicklung der Menschheit und durch die Individualität des Menschen hervorgerufen werden. So ist die Vorverlegung des Zahnwechsels und der Pubertät ein menschheitliches Phänomen, während die zeitlichen Variationen der Entwicklungsperioden im späteren Leben mehr mit Wesen und Schicksal der einzelnen Individualität zusammenhängen.
In einem seiner grundlegenden Vorträge zur seelischen Entwicklung, die unter dem Titel Metamorphosen des Seelenlebens erschienen sind, bemerkt Steiner, dass es sich bei den Angaben zu den Jahrsiebten um «Durchschnittszahlen» handle.6 Auch wenn man dies berücksichtigt, so ist es doch richtig und fruchtbar, wenn man stets den Siebenjahresrhythmus als den Urrhythmus des menschlichen Lebens im Auge hat. Nach den umfassenden Ausführungen von W. Hoerner spielt die Zahl 7 im gesamten Kosmos eine dominierende Rolle. Sie führt im Rahmen der Siebentagewoche zu einem «Rhythmus der Seele», bei dem jeder Tag der Woche einem der sieben Planeten, die mit der Seele in Beziehung stehen, zugeordnet ist.7 Die Zahl 7 ist jedoch nicht nur für die Planeten und für das Seelenleben von Bedeutung, sie gliedert auch eine Reihe von biologischen Rhythmen.8 Andererseits bildet das Jahr mit seinen zwölf Monaten den Rhythmus des physischen Leibes,9 dessen Geburtstag jedes Jahr wiederkehrt. Indem sich der Siebenerrhythmus des Lebens und der Seele mit dem Jahresrhythmus des physischen Leibes vereinigt, entsteht der Siebenjahresrhythmus, der Wesen und Erscheinung des Menschen in der physischen Welt miteinander verbindet.
Siebenjahresrhythmus und Entwicklung
Das Wesen des Menschen ist also nicht mit einem Mal da, es tritt durch das Element der Zeit erst allmählich in Erscheinung; dies macht seine Entwicklung aus. Dabei ist jedoch nicht an ein «Auswickeln» von schon Vorhandenem zu denken. Indem sich das Menschenwesen mit der Welt der Erscheinungen auseinandersetzt, kommt es zu einer Weiterbildung, im Sinne Goethes zu einer «Steigerung», die aus dem Erlebnis und aus der Verarbeitung von gegensätzlichen Elementen, von Polaritäten, hervorgeht. Keine Entwicklung jedoch verläuft kontinuierlich. Der die menschliche Entwicklung gliedernde Siebenjahresrhythmus führt zu Stufen im Lebenslauf, die neue Möglichkeiten mit sich bringen und durch Verwandlung von Altem Neues entstehen lassen.10 Mit Recht betont daher W. Bühler, dass es sich beim Rhythmus nicht so sehr um eine Wiederholung von Ähnlichem in ähnlichen Zeitabschnitten, sondern mehr um ein «lebendiges Wiedererstehen des Ähnlichen» handelt.11 Das Wiedererstehen bringt die Möglichkeit der Steigerung mit sich, bei der zugleich das Wesen vollkommener als zuvor in Erscheinung tritt. Indem durch den rhythmischen Wechsel der Polaritäten diese zum Ausgleich kommen, entsteht immer neu der «Raum» für das stufenweise Erscheinen des Wesens.
Man kann die Perioden im Lebenslauf nach biologischen Gesichtspunkten betrachten. Man entdeckt dann, «dass die fundamentalsten Lebensvorgänge nach den Erkenntnissen der modernen Biologie periodisch verlaufen». Alle sieben Jahre «staut sich» beim Menschen «die Welle des individuellen Lebens».12 Sie staut sich vor Knotenpunkten der Entwicklung, die zu Krisenpunkten werden können. Man muss sie kennen, um einen Lebenslauf beurteilen und um sich und anderen in Krisenzeiten weiterhelfen zu können. Meist erst nach der Krise kann man dann feststellen, dass aus dem Knotenpunkt des Lebenslaufes, ähnlich wie aus dem Knotenpunkt einer Pflanze, Neues hervorgegangen ist
Zu diesem biologischen Aspekt fügt Steiner den geisteswissenschaftlichen hinzu, indem er das, was sich alle sieben Jahre vollzieht, als «Geburt» bezeichnet.13 Erst durch dieses Bild wird die Entwicklung des menschlichen Wesens ganz erfasst. Wie bei der physischen Geburt, so wird auch bei den weiteren, alle sieben Jahre sich vollziehenden Geburten nicht nur von einem Schoß eine neue Frucht hervorgebracht. Es tritt ein neues Wesen in...