1. Die Suche nach den verschwundenen Brüdern
Karl und Theodor Albrecht haben binnen weniger Jahrzehnte aus einem einzigen Tante-Emma-Laden im Essener Vorort Schonnebeck ein internationales Discount-Imperium gemacht – mit Tausenden von Läden, mit Milliardenumsätzen. Die Brüder sind dabei unglaublich reich geworden, galten jahrelang als die wohlhabendsten Deutschen und zählten sogar eine Zeit lang offiziell zu den zehn reichsten Menschen der Welt. Sie haben mit ihren Albrecht- und Aldi-Läden ein wichtiges Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Mehr als das: Sie haben unser Konsumverhalten verändert und damit unsere Art zu leben geprägt. Sie haben also auch Gesellschafts- und Kulturgeschichte geschrieben. Ein Einfluss, der in dem kritischen und doch staunend-bewundernden Wort von der »Aldisierung« gipfelte, Chiffre für die Verbreitung eines Lebensgefühls, das nach der Jahrtausendwende von einer anderen Firma mit dem Werbeslogan »Geiz ist geil« zynisch auf den Punkt gebracht wurde. Gründe genug, sich für Karl und Theodor Albrecht zu interessieren. Die aber verbargen sich wie Phantome vor der Öffentlichkeit, machten ein großes Geheimnis um sich und um Aldi. Sie haben ihrem Unternehmen eine unübersichtliche Struktur gegeben und es nach außen fast vollständig abgeschottet. Sie haben ihr Reich überdies in zwei Hälften geteilt, Nord und Süd, aus schwer verständlichen Gründen und entlang einer rätselhaft erratisch verlaufenden Grenze. Das alles ließ sie nur umso interessanter erscheinen. Doch die Spurensuche ist mühsam.
Die üblichen Verdächtigen
Vor etwa 20 Jahren, als man sich allgemein der Größe und der Bedeutung des Aldi-Imperiums so recht bewusst wurde, erwachte das öffentliche Interesse an den mittlerweile alten Herren erst richtig. Und man nahm staunend zur Kenntnis, dass Karl und Theo Albrecht nach 1953 nicht mehr mit der Öffentlichkeit gesprochen hatten, nicht über sich selbst und ihre Familien, nicht über ihr Geschäft. Es gibt nicht einmal richtige Fotos von ihnen. Sie haben ihre Firmen und ihre Mitarbeiter zu ebenso rigorosem Schweigen vergattert und sie haben erreicht, dass sich auch ihre Familien und ihr weiteres privates Umfeld – soweit man von einem solchen reden kann – an das Schweigekartell gebunden fühlen. Nur zwei ehemalige Manager haben ihre persönlichen und subjektiven Eindrücke von einem der Brüder und seinem Unternehmen veröffentlicht. Ihre Beobachtungen dienen seither zahlreichen Artikeln und einigen wenigen Büchern als leicht wiederzuerkennende Basis. Ansonsten bietet der Mangel an belastbaren Fakten weiten Raum für apokryphe Anekdoten und reine Mythen, manchmal leicht, manchmal schwierig und manchmal gar nicht zu verifizieren, aber jedenfalls immer wieder gerne abgeschrieben. Mal werden die Albrecht-Brüder und ihre Verdienste distanzlos gepriesen, mal werden sie unsachlich und in schnoddrigem Ton kritisiert. Der Rest ist frustrierte Klage über das eigene Scheitern am Schweigen der Zeitzeugen und an den schon sprichwörtlichen Antworten der Aldi-Firmenzentralen, die stereotyp »aus grundsätzlichen Erwägungen« eben keine Antworten waren. Noch Ende 2014 war das Dilemma in einer Art Doku-Drama des ZDF über die Albrechts zu besichtigen: Die Autoren ließen weitgehend »übliche Verdächtige« zu Wort kommen: die beiden Aldi-Manager und ein paar Journalistenkollegen, die sich zuvor schon an dem Thema abgearbeitet hatten. Dazwischen imaginierte Szenen aus dem Leben der Brüder, nicht ohne Scheu vor dem einen oder anderen bereits widerlegten Mythos. Im Norden, im Süden: nichts Neues.
Wer sich in den letzten paar Jahren recherchierend und schreibend mit den Albrecht-Brüdern auseinandersetzte, tat das wohl mit wachsender Resignation einerseits – und mit einer kleinen, verzweifelten Hoffnung andererseits. Resignation, weil eine größere Offenheit bei den Firmen, gar ein Zugang zu den Archiven durchaus nicht abzusehen war, weil potenzielle Zeitzeugen, zumal für die frühen Jahre, mit jedem Tag bedrohlich älter und weniger wurden. Solche Sorge betraf natürlich auch die beiden nahezu 90-jährigen Brüder selbst. Wären sie, den Willen vorausgesetzt, überhaupt noch in der Lage, zu erzählen, und wie lange noch? Die leise Hoffnung wiederum beruhte auf der bekannten Tatsache, dass verschlossene Männer im Alter manchmal zu einer gewissen Milde neigen und dann doch aus der Vergangenheit erzählen – zumal über Dinge, die sie sich mit einigem Recht als Erfolge anrechnen können. Der Autor vorliegender Zeilen gesteht offen, dass er den einen oder anderen Artikel geradezu appellativ hat ausklingen lassen mit einer kaum verhohlenen Aufforderung an die Brüder und ihre Familien, sich bitte doch noch irgendwann irgendwem zu öffnen. Nicht, um Sensationsgier zu befriedigen oder allzu indiskrete Fragen nach ihrem Reichtum, ihrem Privatleben zu beantworten, sondern um die Leerstellen besonders in der Albrecht-Frühgeschichte zu füllen und die irritierend vielen Ungereimtheiten auszuräumen. Dazu der Hinweis, dass die Gesellschaft doch ein gewisses Recht habe, etwas über jene Männer zu erfahren, die unser Leben so beeinflusst haben. Goldene Brücken, den Albrechts vermutlich nie zu Gesicht gekommen. Der Autor gibt auch zu, sich in besonders kühnen Träumen vorgestellt zu haben, das Telefon werde irgendwann klingeln und eine Altmännerstimme am anderen Ende werde etwas ungehalten ungefähr so sagen: »Ja, Albrecht hier. Hören Sie, ich will Ihnen mal sagen, wie das alles damals wirklich war . . .« Das Telefon hat nicht geklingelt.
Karl Albrecht spricht – zu spät
Das heißt: Es hat doch geklingelt. Aber woanders, bei Mathias Müller von Blumencron, Online-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für ihn wurde der Traum aller frustrierten Albrecht-Rechercheure wahr: Karl Albrecht wollte erzählen, endlich, und erklärte sich zu einer Reihe von Interviews bereit. Leider, auch das kommt eben vor bei alten Männern, die am Ende ihres Lebens Bilanz ziehen und Unerledigtes aufarbeiten wollen, leider hat Karl Albrecht seinen Entschluss zu spät gefasst. Nach dem ersten Gespräch in seinem Haus, es war wohl in erster Linie ein Vorgespräch »zum Aufwärmen«, ist Karl Albrecht schwer erkrankt und dann 94-jährig gestorben. So hat er, 61 Jahre nach einem inzwischen berühmten Fachvortrag vor Einzelhandelskollegen, nur mehr ein paar Tupfer und Striche am öffentlichen Bild vom Aldi-Aufstieg anbringen können. In den daraus entstandenen Artikel1 haben sich zudem leider ein paar Fehler und Vagheiten eingeschlichen, die einem mit der Albrecht-Story einigermaßen vertrauten Interviewpartner hätten auffallen müssen. Man darf dem Autor allerdings zugutehalten, dass dieses vorbereitende Gespräch wohl kaum geeignet war, bereits nachzuhaken oder Fakten im Detail zu klären. Das wäre sicher noch in den folgenden Interviews geschehen. Ärgerlicher ist, dass an verschiedenen Stellen des Artikels nicht deutlich wird, ob die jeweilige Schilderung sich tatsächlich aus dem Gespräch mit Karl Albrecht ergibt oder aus anderweitigen Recherchen oder Mutmaßungen.
Natürlich war die Vorstellung, dass Karl Albrecht irgendwann doch noch erzählen würde, stets gemischt mit der Ahnung, dass er dazu mit über 90 Jahren vielleicht intellektuell doch nicht mehr in der Lage sein könnte. FAZ-Mann Müller von Blumencron mag ähnliche Zweifel gehegt haben. Man kann schwerlich zum Interview mit einem unbekannten Mann von 94 Jahren gehen und dabei nicht in Erwägung ziehen, dass das Gespräch möglicherweise am Ende keine Basis für eine Veröffentlichung sein wird. Alles andere wäre journalistisch fahrlässig und unverantwortlich dem Interviewpartner gegenüber. Aber Müller von Blumencron scheint in der abgeschirmten Essener Villa einen nicht nur höflichen, freundlichen, sondern auch klar denkenden Karl Albrecht angetroffen zu haben, durchaus Herr seiner Erinnerungen und endlich selbst davon überzeugt, dass sein Leben und das seines Bruders sowie der Aufstieg ihres Unternehmens ein Stück Nachkriegsgeschichte seien und das Interesse daran legitim. Er wollte, er konnte erzählen. Umso trauriger, dass er zu dieser Erkenntnis oder diesem Entschluss nicht ein, zwei Jahre früher gekommen ist. Traurig – das mag unangemessen emotional klingen, wenn man nicht die natürliche Neigung des Autors teilt, seinem Objekt eine gewisse Empathie entgegenzubringen. Denn man kann die Brüder Albrecht nicht ohne eine gewisse Berechtigung für durchaus farblose Persönlichkeiten halten, deren grotesker Geheimhaltungskult nur darüber hinwegtäuschte. Aber selbst dann ist es traurig, festzustellen, dass eine Chance für immer vertan ist und eine zweifellos interessante Geschichte nun in Teilen unerzählt bleiben wird. Denn nachdem die beiden Protagonisten der Albrecht/Aldi-Geschichte verstummt sind, ist so recht keine adäquate Quelle mehr in Sicht.
Offizielle Verwirrung
Auf die Firmen mag man in der Hinsicht kaum Hoffnung setzen. Als Theo Albrecht am 24. Juli 2010 im Alter von 88 Jahren gestorben war, schalteten Gesellschafter, Verwaltungsrat und Geschäftsführungen der Unternehmensgruppe Aldi Nord eine große Todesanzeige. Durchaus ungewohnt für das verschwiegene Unternehmen. Der überdies recht ausführliche Text wirft auch einen Blick zurück auf die Anfänge des Unternehmens. Darin heißt es: »Nach einer Lehre im elterlichen Feinkostgeschäft in Essen-Schonnebeck übernahm er [Theo Albrecht] gemeinsam mit seinem Bruder Karl 1946 das Geschäft«2 Theo Albrecht hat seine Ausbildung in der Tat im elterlichen Geschäft gemacht, aber dass das ein Feinkostgeschäft gewesen wäre, hat sonst...