1. Kapitel
Fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive
Wer sich in der Fachperspektive der Soziologie dem Bereich des politischen Handelns nähert, stößt nicht auf ein unbeackertes Feld. Einerseits weiß der politisch Handelnde in gewissem Sinne immer schon selbst, was er will und unter welchen Umständen er handelt. Außerdem hat das politische Geschehen seit langem zu wissenschaftlicher Besinnung und Kritik angeregt. Es gibt politische Wissenschaft in vielerlei Gestalt. Die Bedeutung des Metiers bringt es zudem mit sich, daß politisches Wissen in hohen Graden bereits überlegtes, diskutiertes, verallgemeinertes Wissen ist und nicht nur auf der Kenntnis der konkreten Partner und Umstände beruht. Bevor der Soziologe dieses Feld betritt, wird er daher seine Forschungsausrüstung mustern und überlegen müssen, was ihn befähigt, mehr Wissen oder besonderes Wissen oder gar besseres Wissen zu ernten, vor allem aber: was ihn von der Politikwissenschaft unterscheidet. Welches ist der spezifisch soziologische Aspekt der Politik?
Die gegenwärtige Diskussion dieser Frage bietet außer der faktischen Feststellung eines unklaren Ineinanderübergehens von Politikwissenschaft und politischer Soziologie wenig Belehrendes.[1] Die Grenzen beider Disziplinen scheinen zu verschwimmen. Weder die gegenständlichen Interessen noch die Methoden, noch die Ansätze zur Theoriebildung unterscheiden sich deutlich, wenngleich man der Politikwissenschaft die größere Breite der Interessenentfaltung zugestehen kann. Man könnte versucht sein, die »Schuld« dafür bei der politischen Wissenschaft zu suchen, deren unbestimmtes, kontroversenreiches Selbstverständnis keine klare Grenzziehung erlaubt. Daran ist jedenfalls eines richtig: daß es nicht der politischen Soziologie obliegt, die theoretische Position, den Gegenstand und die Grenzen der Politikwissenschaft zu definieren und damit die Abgrenzungsfrage allein zu entscheiden.[2] Andererseits sollte nicht verkannt werden, daß auch die Soziologie ihren Teil Verantwortung für die gegenwärtige Konfusion übernehmen und abarbeiten muß. Soziologie ist eine spätgekommene und daher expansive, in andere Disziplinen übergreifende Wissenschaft. Wo immer sie auf schon konstituierte Wissensbereiche stößt, die sich ebenfalls mit menschlichem Handeln befassen, ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Rechtssoziologie hat ihre wichtigsten Beiträge gerade als soziologische Grundlagentheorie der Rechtswissenschaft erbracht.[3] Die Organisationssoziologie steht in einem recht problematischen Verhältnis zur klassischen Organisations- und Betriebswirtschaftslehre[4] – eine Begegnung, aus der sich eine interdisziplinäre Organisationswissenschaft zu entwickeln scheint.[5] Ähnliches gilt für die Verwaltungssoziologie und Verwaltungswissenschaft.[6] Die Sprachsoziologie weist zumindest mit der behavioristischen Sprachwissenschaft starke Überschneidungen auf.[7] Und die Grenzzone zwischen Soziologie und Psychologie ist so breit und so stark bevölkert, daß sie den Status eines autonomen Gebietes beansprucht: Sozialpsychologie. Es wird demnach nicht allein an der Undiszipliniertheit des Partners liegen, wenn die politische Soziologie nicht in der Lage ist, sich mit der Politikwissenschaft über ein Schema der Arbeitsteilung zu verständigen. Vielmehr sollte der Soziologe in erster Linie zu erkennen suchen, welche Intentionen, Engagements und Erkenntnismittel seines eigenen Fachs in den zahlreichen Grenzkonflikten ans Licht kommen; und besonders im Verhältnis zur Politikwissenschaft käme es dann nicht so sehr darauf an, die bestehende Konfusion durch den einen oder anderen Abgrenzungsvorschlag zu beheben, als vielmehr: aus ihr die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Die Grenzkonflikte sind nur Teil einer sehr viel allgemeineren Problematik, der sich die Soziologie gegenübersieht. Als eine Wissenschaft, die sich mit menschlichem Erleben und Handeln befaßt, muß sie alltäglich konstituierten Sinn, also Wissen, immer schon voraussetzen.[8] Auch wenn sie aus dem »Verstehen« keine zuverlässige Methodologie zu entwickeln vermag, muß sie ihren Gegenstand zunächst einmal durch Verstehen von intendiertem Sinn gewinnen. Insofern kann man sagen, daß Soziologie ihrem Wesen nach stets aufklärende Kritik von konstituiertem Wissen ist – freilich Aufklärung und Kritik in einem ganz bestimmten, neuartigen Stil. Dieser Stil soziologischer Aufklärung ist es, der die Eigenart soziologischer Forschung im Verhältnis zur Wirklichkeit, also auch zur politischen Wirklichkeit, und im Verhältnis zu anderen Wissenschaften auszeichnet.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Handlungswissenschaften, die unter dem Titel »praktische Philosophie« zusammengefaßt wurden und durchgehend ethisch bestimmt waren, sich als beratende Wissenschaften begriffen, deren Aufgabe es sei, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Daher mußte ihr grundbegrifflicher Apparat dem pragmatischen Sinnhorizont des Handelns entsprechen, sich in ihn einfügen lassen. Die Handlungswissenschaften mußten sich an Zweckformeln und an verallgemeinerten Handlungsdispositionen (Tugenden) orientieren, von denen man zugleich Wahrheit und Gutheit behaupten konnte. Wie anders als durch Abbildung des Handelns selbst, durch Kongruenz des Erkennens mit dem Wesen des Handelns, durch Übernahme der vom Handelnden erlebten und gemeinten Zweckstruktur hätte denn die Wissenschaft ihrem Gegenstand gerecht werden, wie anders hätte sie dem Wesen des Handelns nahekommen können? Diese Auffassung war so natürlich, so selbstverständlich, daß es der Gegenposition, die sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln beginnt, bis heute schwerfällt, sich ihr eigenes Prinzip bewußtzumachen. Denn sie sucht das Handeln nicht durch Annäherung, sondern durch Abstandnahme, nicht in kongruenter Einstellung, sondern durch Anlegung inkongruenter Perspektiven zu erkennen. Ein solches Programm ist augenscheinlich absurd – und gerade darum erfolgreich.
Diese neue umweghafte Erkenntnisweise brachte sich vor allem in der Soziologie und in der Psychologie zur Geltung, hatte aber namentlich in der Zeit der Umwälzung, der zweiten Hälfte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts, auch zahlreiche andere Geistesströmungen erfaßt und verunsichert.[9] Ihr Erfolg beruht darauf, daß sie die Begrenztheit des Handlungshorizontes, der vom Handelnden gemeinten Welt sprengte und dadurch in der Lage war, mehr Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten, als dem Handelnden selbst zugänglich sein kann.
Die traditionellen, ethisch bestimmten Handlungswissenschaften hatten nur Möglichkeiten in Betracht gezogen, die vom Handelnden als eigene Möglichkeiten ergriffen werden konnten. Die neuen, verfremdenden Erkenntnistechniken bemühen sich dagegen, das Handeln unter Aspekten zu begreifen, die dem Handelnden unbewußt sein und bleiben können, ja deren Aufhellung unter Umständen sogar seine Handlungsfähigkeit zerstören, die Motivkraft seiner Ziele beeinträchtigen könnte.[10]
In Reaktion auf den Wahrheitsverlust der Zwecke, auf den Zerfall der teleologischen Handlungsauslegung wurden jene inkongruenten Perspektiven zunächst in latenten, nicht motivfähigen Ursachen gesucht: Das Handeln sei in Wahrheit durch ökonomische Existenzbedingungen, durch biologische Auslesegesetzlichkeiten im Kampf ums Dasein, durch Urlibido, Angst, Nachahmungstrieb oder was immer bestimmt, und die Zielvorstellungen und Situationsauslegungen des Handelnden seien demgegenüber künstlich aufgebaute Scheinwelten, Ideologien, Rationalisierungen, Sublimierungen ohne eigenen Wahrheitswert. Auf diese Weise nahm die wissenschaftliche Aufklärung einen entlarvenden, diskreditierenden Zug an; sie maßte sich an, die Orientierungsbegriffe des Handelnden zu zerstören, ohne sie in ihrer Funktion zu erkennen und ohne sie ersetzen zu können.[11] Die Universalisierung dieser destruktiven Tendenz durch die sogenannte Wissenssoziologie vermochte dem Verfahren etwas Schärfe zu nehmen – geteiltes Leid ist halbes Leid –, hat aber im Grundsätzlichen nichts geändert. Im Grunde sind all diese »Faktortheorien« vorsoziologisches Gedankengut, weil sie durch ihr Bestreben, soziale Systeme aus einfachen, elementaren Ursachen zu erklären, die immer schon komplex konstituierte soziale Gegenständlichkeit aus dem Auge verlieren.
Die Faktortheorien scheitern letztlich daran, daß sie den gleichen Fehler begehen wie die Zwecktheorien: Sie verwenden ein gedankliches Schema von zu geringer Komplexität. Die Abwendung von Zwecktheorien war ausgelöst durch die frühneuzeitliche Präzisierung wissenschaftlicher Wahrheit auf intersubjektiv zwingend gewisse Feststellungen. Wahrheit in diesem Sinne konnte man allenfalls in bezug auf Ursachen, nicht aber in bezug auf Zwecke, allenfalls in mechanischer, nicht aber in teleologischer Kausalität zu erreichen hoffen. Mit dieser Umstellung wurde ein anderes Problem nicht gelöst, das sich nunmehr als das kritische erweist: Weder spezifische Zwecke noch spezifische Ursachen sind geeignet, komplexe soziale Systeme hinreichend zu erklären, weil sie als Grundvorstellungen dafür viel zu einfach sind. Deshalb läßt sich in der neueren soziologischen Theorieentwicklung ein deutlicher Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien beobachten, und erst in diesem Übergang konstituiert sich die Soziologie als eigenständige, auf genuin soziologischen Grundbegriffen beruhende Wissenschaft.[12]
In dem Maße, als die Soziologie sich durch eine Theorie des Sozialsystems konsolidiert, gewinnt sie ein allgemeines analytisches Instrumentarium, das für sehr komplexe Sachverhalte besonders geeignet ist. Die Steigerung...