2. Hoffnung
a) Was Hoffnung nicht ist
Hoffnung ist ein entscheidendes Element eines jeden Versuchs, eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung auf eine größere Lebendigkeit, größere Bewusstheit und mehr Vernunft herbeizuführen. Aber das Wesen der Hoffnung wird oft missverstanden und mit Einstellungen verwechselt, die mit Hoffnung nichts zu tun haben, ja ihr genaues Gegenteil sind.
Was heißt hoffen?
Heißt es, wie viele meinen, Begierden und Wünsche haben? Wenn das stimmte, dann wären die, welche mehr und bessere Autos, Häuser und Geräte haben möchten, Menschen der Hoffnung. Aber sie sind es nicht; sie sind Menschen, die es nach mehr Konsum gelüstet, sie sind keine Menschen der Hoffnung.
Kann man von Hoffnung sprechen, wenn der Gegenstand der Hoffnung kein Ding, sondern ein erfüllteres Leben, ein Zustand größerer Lebendigkeit, eine Befreiung von der ewigen Langeweile ist, oder wenn es, theologisch gesprochen, um eine Hoffnung auf Erlösung oder, politisch gesprochen, um Hoffnung auf Revolution geht? Tatsächlich können derartige Erwartungen Hoffnungen sein. Aber es handelt sich um Nicht-Hoffnung, wenn man damit ein Untätigsein meint, wenn man auf etwas wartet – und die Hoffnung in Wirklichkeit zu einem Deckmantel der Resignation, zu einer bloßen Ideologie wird.
Kafka hat diese Art der resignierten, untätigen Hoffnung sehr schön in seiner Parabel Vor dem Gesetz beschrieben. Ein Mann kommt zur Tür, die in den Himmel (zum Gesetz) führt, und bittet den Türhüter um Einlass. Der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Obwohl das Tor zum Gesetz offensteht, entschließt sich der Mann, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. So sitzt er da und wartet tage- und jahrelang. Er bittet immer wieder, eingelassen zu werden, aber er erhält stets zur Antwort, jetzt könne ihm der Eintritt noch nicht gewährt werden. Während all der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen und kennt schließlich sogar die Flöhe in seinem Pelzkragen. Schließlich ist er alt und dem Tode nahe. Jetzt stellt er zum ersten Mal die Frage: „Wie [IV-266] kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter antwortet: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ (F. Kafka, 1969, S. 434.)
Der alte Mann war zu alt, um das zu begreifen, und vielleicht hätte er es auch nicht verstanden, wenn er jünger gewesen wäre. Die Bürokraten behalten immer das letzte Wort; wenn sie nein sagen, kann er nicht hinein. Wenn er eine stärkere Hoffnung gehabt hätte als diese untätige, abwartende Hoffnung, wäre er hineingegangen, und sein Mut, die Bürokraten nicht zu beachten, wäre die befreiende Tat gewesen, die ihn in den schimmernden Palast hineingetragen hätte. Viele Menschen sind wie Kafkas alter Mann. Sie hoffen zwar, aber es ist ihnen nicht gegeben, nach dem Impuls ihres Herzens zu handeln, und solange die Bürokraten kein grünes Licht geben, warten und warten sie. (Bezeichnenderweise bedeutet das spanische Wort esperar sowohl „warten“ als auch „hoffen“ und bezieht sich deutlich auf die besondere Art der untätigen Hoffnung, die ich hier zu beschreiben versuche.)
Diese Art der untätigen Hoffnung ist eng verwandt mit einer allgemeinen Form von Hoffnung, die man als ein Hoffen auf (kommende) Zeit definieren könnte. Die Zeit und die Zukunft werden zur zentralen Kategorie bei dieser Art von Hoffnung. Man erwartet nicht, dass im Jetzt etwas geschieht, man hofft auf den nächsten Augenblick, auf den nächsten Tag, auf das nächste Jahr oder auf eine andere Welt, wenn es allzu absurd wäre zu glauben, die Hoffnung könne in dieser Welt Wirklichkeit werden. Hinter diesem Glauben steht die Vergötzung der „Zukunft“, der „Geschichte“ und der „Nachwelt“, die in der Französischen Revolution mit Männern wie Robespierre begann, der die Zukunft als Göttin verehrte: Ich tue selbst nichts, ich bleibe untätig, weil ich nichts bin und zu nichts fähig bin; aber die Zukunft, die Projektion der Zeit, wird das vollbringen, was ich nicht erreichen kann. Diese Verehrung der Zukunft, die nur ein anderer Aspekt der Verehrung des Fortschritts im Denken der modernen Bourgeoisie ist, ist genau die Entfremdung der Hoffnung. Anstatt dass ich etwas tue oder etwas werde, bringen die Idole der Zukunft und der Nachwelt ohne mein Zutun etwas zustande.[4]
Während das untätige Abwarten eine verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz ist, gibt es noch eine andere Form der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich einer genau entgegengesetzten Verkleidung bedient: Sie verkleidet sich als Phrasendrescherei und Abenteuerlust und scheint der Wirklichkeit zu spotten und das herbeizuzwingen, was sich nicht herbeizwingen lässt. Es war dies die Haltung derer, die als falscher Messias auftraten, und der Putschisten, die alle jene verachten, welche nicht unter allen Umständen den Tod der Niederlage vorzogen. Auch heute [IV-267] ist die pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus nicht selten gerade unter den engagiertesten Mitgliedern der jungen Generation anzutreffen. Sie erwecken Sympathie durch ihre Unerschrockenheit und ihr Engagement, aber sie können nicht überzeugen, weil es ihnen an Realitätsbewusstsein, am Gefühl für Strategie und gelegentlich auch an der Liebe zum Leben fehlt.[5]
b) Das Paradoxe und das Wesen der Hoffnung
Hoffnung ist paradox. Sie ist weder ein untätiges Warten noch ein unrealistisches Herbeizwingenwollen von Umständen, die nicht eintreffen können. Sie gleicht einem kauernden Tiger, der erst losspringt, wenn der Augenblick zum Springen gekommen ist. Weder ein müder Reformismus noch ein pseudo-radikales Abenteurertum sind ein Ausdruck von Hoffnung. Hoffen heißt, jeden Augenblick bereit sein für das, was noch nicht geboren ist, und trotzdem nicht verzweifeln, wenn es zu unseren Lebzeiten nicht zur Geburt kommt. Es hat keinen Sinn, auf etwas zu hoffen, was bereits existiert oder was nicht sein kann: Wer nur eine schwache Hoffnung hat, entscheidet sich für das Bequeme oder für die Gewalt. Wer eine starke Hoffnung hat, erkennt und liebt alle Zeichen neuen Lebens und ist jeden Augenblick bereit, dem, was bereit ist geboren zu werden, ans Licht zu helfen. [IV-268]
Einer der Hauptgründe, dass eine solche Verwirrung über den Begriff der Hoffnung herrscht, ist der, dass man nicht zwischen bewusster und unbewusster Hoffnung unterscheidet. Dieser Irrtum zeigt sich natürlich auch in Bezug auf viele andere emotionale Erfahrungen wie Glück, Angst, Depression, Langeweile und Hass. Es ist erstaunlich, dass trotz der Popularität von Freuds Theorien sein Begriff des Unbewussten so wenig auf derartige emotionale Phänomene angewandt wird. Es dürfte hierfür zwei Hauptgründe geben. Der eine ist der, dass in den Schriften einiger Psychoanalytiker und gewisser „Philosophen der Psychoanalyse“ das gesamte Phänomen des Unbewussten – das heißt der Verdrängung – sich auf sexuelle Wünsche bezieht, und dass sie den Begriff der Verdrängung irrtümlicherweise als gleichbedeutend mit einer Unterdrückung der sexuellen Wünsche und Aktivitäten auffassen. Auf diese Weise berauben sie Freuds Entdeckungen einiger höchst wichtiger Konsequenzen. Der zweite Grund dürfte darin zu suchen sein, dass es für die nach-viktorianischen Generationen weit weniger beunruhigend ist, sich ihrer verdrängten sexuellen Wünsche bewusst zu werden als solcher Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier. Um nur eines der augenfälligsten Beispiele anzuführen: Die meisten Menschen gestehen es sich selbst nicht ein, dass sie Gefühle von Angst, Langeweile, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit haben, das heißt, diese Gefühle sind für sie unbewusst.[6] Hierfür gibt es einen einfachen Grund. Unser gesellschaftliches Vorbild ist so beschaffen, dass der Erfolgreiche keine Angst haben und er sich nicht gelangweilt oder einsam fühlen darf. Er muss diese Welt für die beste aller Welten halten. Um die beste Chance für ein Vorwärtskommen zu haben, muss er seine Angst genauso wie seine Zweifel, seine Depression, seine Langeweile oder seine Hoffnungslosigkeit verdrängen.
Es gibt viele, die sich bewusst hoffnungsvoll und unbewusst hoffnungslos fühlen. Nur für wenige trifft das Umgekehrte zu. Bei der Untersuchung der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit geht es nicht primär darum, was die Menschen über ihre Gefühle denken, sondern darum, was sie wirklich fühlen. Das lässt sich am wenigsten leicht an ihren Worten und Phrasen erkennen, aber man kann es an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, an der Art wie sie gehen, an ihrer Fähigkeit, interessiert auf etwas zu reagieren, was sich vor ihren Augen abspielt, und auch daran, dass sie keine Fanatiker sind, was sich darin zeigt, dass sie fähig sind, sich vernünftige Argumente anzuhören.
Der dynamische Standpunkt, von dem aus wir in diesem Buch die sozialpsychologischen Probleme betrachten, unterscheidet sich grundlegend von dem, den die deskriptiven Behavioristen meistens in ihren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen einnehmen. Bei einer dynamischen Betrachtung interessieren wir uns nicht in erster Linie dafür, was jemand denkt oder sagt oder wie er sich jetzt, in diesem Augenblick, verhält. Wir interessieren uns vielmehr für seine Charakterstruktur – das heißt für die relativ gleichbleibende Struktur seiner Energien, für die Richtungen, in die sie gelenkt werden, und für die Intensität, mit der sie...