1.EINLEITUNG
Mit der Erfindung der Massenmedien haben sich Skandale zur gefährlichen Waffe politischer Einflussnahme entwickelt: als Informationsvirus mit revolutionärer Sprengkraft. Auch demokratische Volksvertreter wie die US-Regierung machen sich den publizistischen Brandsatz zunutze. Zur Vorbereitung ihres zweiten Golfkriegs beauftragte sie PR-Agenturen mit einem Feldzug der besonderen Art: der moralischen Skandalisierung des Iraks. Der Hass der Öffentlichkeit sollte in einem medialen Präventivkrieg an der Heimatfront geschürt werden, um das Töten am Golf zu rechtfertigen.
Unter den PR-Sprengmeistern war auch die Agentur Hill & Knowlton. Sie hat hervorragende Kontakte zum Bush-Clan und gehört zu einem der größten Propagandakonzerne weltweit, WPP, der in einem Multimilliardengeschäft für Regierungschefs und Wirtschaftsmogule durch die Regulierung des öffentlichen Emotionshaushalts den Absatz steigert: Politische Entscheidungen wie die Anweisung von militärischen Invasionen, Entführungen von Staatsbürgern oder Folter als Verhörmethode werden dabei als Produkt begriffen, das vermarktet werden muss. »Wir verkaufen ein Produkt«, beschreibt Ex-Verteidigungsminister Colin Powell das Werben für den Krieg. Eines der wirkungsstärksten Vermarktungsinstrumente der Propaganda sind Medienskandale und Hill & Knowlton weiß, wie man sie inszeniert: Im Oktober 1990 organisierten die PR-Profis den Auftritt der kuwaitischen Krankenschwester Nayirah vor Kongressabgeordneten, in dem die 15-Jährige tränenreich schilderte, »wie irakische Soldaten in kuwaitischen Krankenhäusern Babys aus Brutkästen gerissen und zu Boden geworfen hatten« (KLAWITTER 2006: 74). Der öffentliche Skandal war groß, als fast alle US-Fernsehstationen die schrecklichen Schilderungen ausstrahlten, die von einem Kamerateam der PR-Agentur mitgeschnitten und anschließend an die TV-Redaktionen versandt worden waren. Der damalige US-Präsident George Bush nutzte die öffentlich erzeugte Empörung, um das Fass zum Überlaufen zu bringen und den amerikanischen Krieg am Golf moralisch zu legitimieren.
Die PR-Profis hatten im Auftrag der Regierung Bush sen. ihren Job erfolgreich ausgeführt. Mit einem Haken: Knappe anderthalb Jahre später, im Januar 1992, stellte sich heraus, dass alles an diesem medial inszenierten Skandal gefakt war: Die Story von den zerschmetterten Babys war ebenso erfunden wie die Krankenschwester. Nayirah hieß eigentlich Nijirah al-Sabah und war die Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, die mit einer Hill & Knowlton-Managerin ihre Heulattacke auf die öffentliche Moral minutiös einstudiert hatte. Die Empörung nach dieser Enthüllung war für ein paar Tage groß, aber das Ziel der Manipulation der öffentlichen Meinung längst erreicht: Kurz nach dem inszenierten Skandal war Amerika in den Krieg gezogen, um der ›Unmenschlichkeit am Golf‹ ein Ende zu bereiten. Die Sprengkraft des Skandals war in Form von Bombenkratern sichtbar.
Von dem Ideal der Staatsräson ist das 21. Jahrhundert mit seiner Wiederbelebung der Moral zur Legitimation politischen Handelns weit entfernt. Wo Babys aus Brutkästen fallen gelassen werden, um Menschen zum Töten zu bringen, regiert die Aufklärung ebenso wenig wie in Staaten, die mit Karikaturen wie denen der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ihre Bevölkerung in den Krieg hetzen.
Von der symbolischen Tötung in medial inszenierten Skandalen zur physischen ist es nur ein kleiner Schritt. Dennoch brauchen soziale Systeme die Sprengkraft des Medienskandals, wie ich in diesem Buch anhand eines Modells herausarbeiten werde, das das komplexe Zusammenspiel zwischen öffentlicher Moral, medialer Inszenierung, Gesellschaft und Politik erklärt. Ziel des Theory Grounding ist nicht die Ausarbeitung eines phänomenologischen Rhetorikkonzepts des Skandals, das für eine sozialwissenschaftliche Analyse ungeeignet ist, sondern die Klärung der wissenssoziologischen Fragen nach der Bedeutung des Medienskandals für das Identitäts- und Differenzmanagement der Gesellschaft.
Doch was unterscheidet Medienskandale, also medial produzierte Skandale, von nichtmedialen Skandalen? Begreift man Medienskandale als Skandale, über die nicht nur in Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendern oder im Internet berichtet wird und die unabhängig vom Mediensystem existieren, so steht man bei der Entwicklung eines Modells vor der Aufgabe, nicht nur die skandalisierenden Anklageinhalte in der Medienöffentlichkeit zu identifizieren, sondern vor allem auch die normativen, strukturellen, funktionalen und professionellen Produktionsbedingungen, die diese diskursive Praxis ermöglichen. Medienskandale wie der Brutkasten-Skandal, Watergate oder die Profumo-Affäre sind Skandale, die vom Medienssystem mit spezifischen Produktionsmechanismen produziert worden sind. Sie unterscheiden sich nur durch die Qualität ihrer Quellen. Im Brutkasten-Skandal von 1990/92 waren sie erfunden, in den anderen beiden Skandalen nicht.
Trotzdem haben diese Medienskandale eine konstitutive Gemeinsamkeit: Ohne die Medien hätten wir von den Ereignissen, die diesen Skandalen angeblich zugrunde liegen, nicht erfahren. Die Medien haben sie als Skandale in unser soziales Gedächtnis eingespeist. Daher spreche ich von Medienskandalen als eigenständiger kommunikativer Praxis moderner Gesellschaften und nicht lediglich von mediatisierten Skandalen. Mediatisierte Skandale (wie zum Beispiel die deutsche Berichterstattung über die Skandalisierung von Saad Eddin Ibrahim in Ägypten) sind lediglich Skandale, über die Medien berichten, ohne die spezifische Erzählstrategie zu verwenden, die bei der Mediatisierung von Ereignissen einen Medienskandal konstruiert.
Dieses Buch legt eine umfassende und fundierte Theorie des Medienskandals vor, die erstmals die Forschungsresultate unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen synthetisiert und durch diskursanalytische Untersuchungsstrategien komplettiert. Medienskandale werden dabei nicht lediglich als Verweissysteme aufeinander bezogener Signifikanten und deren Signifikate verstanden, die sich nur in Aussagen manifestieren. Sie nur als solche zu analysieren, hieße, die historischen, sozialen, politischen, kommerziellen und kulturellen Strukturen weitestgehend zu ignorieren, als deren narrative Paradigmen sich Medienskandale etablieren. Medienskandale werden hier als diskursive Praxis in sozialen Systemen verstanden, denen eine wichtige Rolle für den Erhalt der Gesellschaft zukommt.
Im ersten Teil dieses Buchs Zur Sprengkraft des Skandals werden nach diesem Einleitungskapitel zunächst Problemstellung und Zielsetzung (Kapitel 2) und das methodische Vorgehen des Theory Grounding (Kapitel 3) erklärt, um in Anschluss an John B. Thompsons wichtigem Grundlagenwerk zum Political Scandal ein erstes Verständnis für die soziale Relevanz der Skandale in der Mediengesellschaft zu gewinnen (Kapitel 4).
Im zweiten Buchteil, der die geschichtlichen Entwicklungen vom Skandal zum Medienskandal analysiert, soll die Karriere des Skandalons aus den frühen Zivilisationen des Altertums in die Neuzeit mit ihren medialen Innovationen und deren Bedeutung für die großen soziopolitischen Transformationsprozesse nachgezeichnet werden (Kapitel 5-10). Dabei wird im Sinne Foucaults (1974, 1981) auf eine rein linguistische oder semiotische Diskursbetrachtung verzichtet und ein Modell des Medienskandals unter Berücksichtigung des diskursstrukturierenden Regelsystems ›Journalismus‹ geformt. Der Aufbau dieses Buchteils orientiert sich an der Entstehungsgeschichte der Medien und insbesondere der Professionalisierung des Journalismus. Denn Medienskandale sind in erster Linie Konstrukte, die dem professionellen Arbeitsprogramm des Journalismus folgen. Das Grounding eines Modells des Medienskandals aus einem spezifischen, historisch bedingten Kontext erfolgt daher im zweiten Buchteil systematisch nach dem von Weischenberg (vgl. z. B. 1992: 68) etablierten Zwiebelmodell des Journalismus, das Mediensysteme, Medieninstitutionen, Medienaussagen und Medienakteure – vom Allgemeinen der Normen bis hin zum individuellen Rollenzusammenhang (und umgekehrt) – hierarchisiert. Zur Veranschaulichung der Elemente des Systems Journalismus greift Weischenberg dabei auf einen Vergleich mit einer Zwiebel zurück, deren Schalen für die jeweiligen Faktoren der Aussagenentstehung und deren Hierarchie stehen und auf deren symbolischen Ebenen der Medienskandal in den unterschiedlichen Kontexten, die seine Genese begünstigt und mitunter bedingt haben, modelliert werden kann. Die Kontexte, in denen sich Skandale zu Medienskandalen entwickelt haben sind (1) der Normenzusammenhang, (2) der Strukturzusammenhang, (3) der Funktionszusammenhang und (4) der Rollenzusammenhang.
(1) Die äußere Schale des Zwiebelmodells, das die Ausgangsbasis für die Modellierung des Medienskandals bildet (Kapitel 5), steht...