Jüngsten Umfragen zufolge (Stand: 2014) haben nur noch weniger als die Hälfte der Bundesbürger eine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft. Unsere Gesellschaft wird von vielen als »zu wenig gerecht«, als »nicht mehr sozial« empfunden.
Der Grund für diese Empfindung liegt in der Tatsache, dass in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft im Erhard’schen Sinne nicht mehr existiert. Deutschland ist heute ein aus Steuergeldern finanzierter Umverteilungsstaat, vor dem Ludwig Erhard eindringlich in einem Artikel zum Thema Lebensstandard gewarnt hat:
»Jeder ist seines Glückes Schmied. Es herrscht die individuelle Freiheit und dies umso mehr, je weniger sich der Staat anmaßt, den einzelnen Staatsbürger zu gängeln oder sich zu seinem Schutzherren aufspielen zu wollen. Solche »Wohltat« muss das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat seinen Bürgern mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das noch abzüglich der Kosten einer zwangsläufig immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Nichts ist darum in der Regel unsozialer als der sogenannte »Wohlfahrtsstaat«, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.«12
Die »Wohltaten« und ein riesiger Verteilungsapparat kosten die deutschen Bürger heute eine staatliche Abgabenquote von knapp 50 Prozent. Das heißt, dass wir im Schnitt fast die Hälfte des Jahres für den Staat arbeiten. Zu Erhards Zeiten war die Steuer- und Sozialabgabequote nur etwa halb so hoch und er befand, dass diese »hohe Quote« unbedingt gesenkt werden müsse!
Das Gegenteil ist eingetroffen: Der Sozialstaat ist im Jahre 2013 deutlich schneller gewachsen als die Wirtschaft. Beinahe 30 Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung wurden für sozialpolitische Zwecke eingesetzt.
Erhard hat sich stets für die persönliche Freiheit und gleichermaßen für eine freiheitliche Sozialpolitik eingesetzt. In seinen Worten:
»Die Entwicklung zum Versorgungsstaat ist schon dann eingeleitet, wenn der staatliche Zwang über den Kreis der Schutzbedürftigen hinausgreift und wenn ihm Personen unterworfen werden, denen ein solcher Zwang und die Abhängigkeit vom Staat auf Grund ihrer Stellung im Wirtschafts- und Erwerbsleben wesensfremd ist.«13
Erhards Soziale Marktwirtschaft ist weit mehr als ein Wirtschaftsmodell, es ist ein Gesellschaftsmodell. Es beruht auf der Verbindung des Prinzips der Freiheit des Markts und des Wettbewerbs mit dem des sozialen Ausgleichs. Aufgabe des Staats ist es demnach, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Komponenten der Sozialen Marktwirtschaft sind: freies Unternehmertum, Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft, gesunder Wettbewerb und Gewinnsystem. Für Erhard galt diese Marktwirtschaft gleichzeitig als sozial, weil sie die Grundlage für einen breiten Wohlstand schafft und dadurch erst die finanziellen Mittel für die Sozialleistungen erwirtschaftet. In seiner Vorstellung sollte durch eine produktive, erfolgreiche Wirtschaft das Volkseinkommen so vermehrt werden, dass sich daraus die Sozialaufwendungen finanzieren lassen. In seinen Worten:
»Auch muss auf die unlösbare Verbindung zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik aufmerksam gemacht werden. Tatsächlich sind umso weniger sozialpolitische Eingriffe und Hilfsmaßnahmen notwendig, je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik gestaltet werden kann.«14
Er warnte zugleich vor einer Ausdehnung der Staatstätigkeit und mahnte, der Staat müsse sich auf seine Kernaufgaben beschränken. Der Fußballsachverständige Ludwig Erhard verglich die Rolle des Staats mit der eines Schiedsrichters, der beim Fußballspiel selbst nicht mitspielt, sondern nur auf die Einhaltung der Regeln achtet und Regelverstöße ahndet.
Die Soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn Markt und Staat in einem ausgewogenen Verhältnis zueinanderstehen. Ist der Anteil des Staats zu groß, lähmt er die Marktkräfte, ist er zu gering, wird der soziale Friede gestört. Gemäß dieser Definition ist die Soziale Marktwirtschaft völlig aus den Fugen geraten:
In Deutschland geraten immer mehr Menschen in die Abhängigkeit vom Staat. Erhards Prophezeiung ist eingetroffen:
»Die wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, … die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom … Staat – aber damit zwangsläufig auch die Verkümmerung eines freien und funktionsfähigen Kapitalmarkts als einer wesentlichen Voraussetzung für die Expansion der Marktwirtschaft – müssen die Folgen dieses gefährlichen Weges hin zum Versorgungsstaat sein, an dessen Ende der soziale Untertan und die bevormundete Garantierung der materiellen Sicherheit … stehen wird.«15
Anstatt Erhards Weg konsequent weiterzugehen und die allgemeinen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Marktwirtschaft auch für »Soziales« genug erwirtschaften kann, hat Deutschland den falschen Weg gewählt, an dessen Ende der »soziale Untertan« steht.
Sichtbarster Ausdruck dieser Fehlentwicklung ist die Staatsquote von etwas unter 50 Prozent. Deutschland hat also zur Hälfte Staatswirtschaft – Sozialismus – der immer und überall zur Pleite führt.
Auch in der Altersvorsorge ist Deutschland den falschen Weg gegangen. Erhard wollte aus den Deutschen ein Volk von Teilhabern machen. Weitsichtig hat er bereits 1950, als die deutsche Wirtschaft noch in Trümmern lag, auf dem ersten Parteitag der CDU auf die große Bedeutung eines funktionierenden Kapitalmarkts hingewiesen:
»Ein gesunder und funktionsfähiger Kapitalmarkt bietet die beste Gewähr für sinnvolle, produktive und volkswirtschaftlich nützliche Investitionen.«16
Auf dem CDU-Parteitag in Hamburg 1957 sagte er:
»Die CDU hat sich zum politischen Ziel gesetzt, mit jedem weiteren wirtschaftlichen Fortschritt zu einer immer breiteren Streuung des Eigentums an den Produktionsmitteln zu kommen«.17
Als ersten Schritt kündigte er an,
»das Volkswagenwerk über das Mittel der Volksaktie in den Besitz weitester Volkskreise zu überführen«.18
Drei große Unternehmen brachte er ab 1959 an die Börse: Preussag (heute TUI), VW und Veba (heute E.ON). Nach der erfolgreichen Platzierung von Preussag sagte er,
»dass ein neues gesellschaftspolitisches Leitbild erkennbar wird, (…) wenn auch die Lohn- und Gehaltsempfänger und der kleine Sparer immer besser zu erkennen vermögen, dass ihr Schicksal, ihre soziale Sicherheit und die Zukunft ihrer Kinder von der Erhaltung unserer Produktiv- und Leistungskraft abhängen.«19
Was ist daraus geworden? Nichts. Ganze sieben Prozent ihres Vermögens haben deutsche Sparer in Aktien investiert. Etwa zwei Drittel des Kapitals des deutschen Börsenindex DAX liegen in den Händen des Auslands. Unter den Industrieländern hat Deutschland die mit Abstand schlechteste Vermögensstruktur, weil die Deutschen – außer in Immobilien – fast ausschließlich in Geldwerten investieren, die heute fast zinslos sind.
Die Altersvorsorge der Deutschen hängt zu etwa drei Vierteln von der staatlichen Rente ab, die angesichts der demografischen Entwicklung in Zukunft hinten und vorne nicht für den Ruhestand reicht.
Diese wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vision ist das, was ich als Erhards »Unvollendete« bezeichne. Seine Vision von einer freiheitlichen Gesellschaft von Teilhabern – »Volksaktionären« –, deren soziale Sicherheit primär aus ihrer eigenen Leistung und ihrer Selbstvorsorge kommt, wurde nicht verwirklicht.
Schlimmer noch: Erhards Soziale Marktwirtschaft wurde von Angela Merkel 2005, seit sie Bundeskanzlerin ist, in die unterste Schublade abgelegt.
Vor der Bundestagswahl hatte sie auf dem Leipziger CDU-Parteitag Erhard vehement gehuldigt. Die CDU stürzte bei Umfragewerten von 42 Prozent bei der Bundestagswahl auf 35,2 Prozent ab und entkam nur knapp einer Niederlage. Daraus schloss Angela Merkel, dass die Deutschen mehrheitlich schon so staatshörig seien, dass sie nichts mehr wissen wollten von dem marktwirtschaftlichen Prinzip »so viel Freiheit wie möglich, so viel Staat wie nötig«, sondern dass sie, umgekehrt, »so viel Staat wie möglich, so viel Freiheit wie nötig« wollten. Darauf riss sie das Ruder um 180 Grad herum, und seitdem praktiziert sie eine dem deutschen Wahlvolk gefällige Politik. Viele nennen dies auch »Opportunismus pur«.
Hätte sich Ludwig Erhard im Juni 1948 bei der Währungsreform auch so kleinmütig und opportunistisch verhalten, hätte es wohl seine so überaus erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft nicht gegeben. Denn nach dem Willen der alliierten Besatzungsmächte sollte nur die D-Mark eingeführt werden, marktwirtschaftliche Elemente mit freier Preisbildung jedoch erst später.
Doch Erhard hob eigenmächtig gleichzeitig die Bewirtschaftungs- und Preiskontrollen auf. Darauf wurde er zum Militärgouverneur General Lucius Clay zitiert, der ihm erklärte, er habe kein Recht gehabt, die Preiskontrollen auszusetzen. Worauf Erhard antwortete, er habe sie nicht ausgesetzt, sondern abgeschafft. Sein mutiger Alleingang in die Marktwirtschaft setzte eine wirtschaftliche Dynamik in Gang. Das Wirtschaftswunder begann.
Noch vor 2005 auf dem...