1.
Rot haben immer nur
die anderen –
warum wir uns nicht
an Verkehrsregeln halten
Unser Buch muss auf der Straße beginnen.[1] Denn nirgendwo zeigen sich die kleinen Sauereien so deutlich wie im Straßenverkehr. Das liegt daran, dass es klare Regeln gibt. Und wenn sich alle daran halten würden, dann wäre diese Welt ein friedlicherer Ort mit weniger Blechschäden. Doch die Leute halten sich eben nicht daran. Um die Wahrheit zu sagen: Niemand hält sich an die Regeln (außer Ihnen und mir natürlich). Dabei könnte man diese Regeln in Zweifelsfällen sogar nachlesen, in der Straßenverkehrsordnung. Aber haben Sie da schon mal reingeguckt? Ich jedenfalls nicht. Trotzdem wissen wir ganz genau, wann jemand die Regeln verletzt: Wenn er auf dem Fußweg parkt, bei Rot über die Straße geht oder als Radfahrer auf der falschen Straßenseite unterwegs ist.
Die Leute wissen also Bescheid. Und dennoch haben sie nichts Dringlicheres zu tun, als gegen die Regeln zu verstoßen, sobald sie hinter dem Steuer ihres Wagens Platz genommen haben. Oder auf ihr Fahrrad gestiegen sind. Oder sich die Straßenschuhe angezogen haben, um vor die Tür zu gehen und ein paar fundamentale Grundregeln unseres Zusammenlebens zu brechen. Warum tun sie das? Die schockierende Wahrheit lautet: Weil es Spaß macht. In der Psychologie gibt es sogar einen Begriff dafür, den wir später noch gründlich auswalzen werden. Er lautet «Cheater’s High», die Hochstimmung des Betrügers.[2] Diese stellt sich immer dann ein, wenn a.) niemand ernsthaft zu Schaden kommt. und b.) man gute Aussichten hat, mit seiner Mogelei durchzukommen. Wie im Straßenverkehr eben.
Doch es muss noch etwas hinzukommen, ein Element, das sich auf das «Cheater’s High» etwas ungünstig auswirken könnte: Der Verstoß muss auf Kosten von anderen geschehen. Nicht ernsthaft (siehe Punkt a.), aber doch spürbar. Man muss schon ein bisschen mehr tun, als einfach nur bei Rot über die Ampel zu schlurfen, wenn sowieso alles frei ist und nicht einmal Schulkinder zugucken. Man muss jemanden schädigen, beeinträchtigen oder zumindest verärgern. Sonst ist die ganze Sache, man möchte sagen, nicht der Rede wert. Doch das für unser Thema Günstige ist: Es fällt, wenigstens hierzulande, gar nicht so schwer, die Leute durch geringfügige Missachtung der Regeln gegen sich aufzubringen.
Alles mal nicht so eng sehen –
die kleinen Sauereien der ersten Stufe
Nehmen wir an, Sie sind frühmorgens mit dem Auto unterwegs. Im Berufsverkehr. Die Ampel springt auf Rot, und Sie nutzen die Phase, bevor die anderen Grün bekommen, um noch rasch hinüberzufahren und die kleine Endorphindusche des «Cheater’s High» mitzunehmen. Obwohl niemand direkt zu Schaden kommt, regt so etwas manche Leute schrecklich auf. Denn das was sie sich ausmalen, das ist nicht schön: Derjenige, der sich da noch so rübermogelt, erreicht rechtzeitig und gut gelaunt seine Arbeitsstelle, während sein Kollege, der brav beim Rotlicht stoppt, Gefahr läuft, zu spät zu kommen. Ein Tag, der schon damit anfängt, dass der Ehrliche mal wieder einmal der Dumme ist, kann kein guter Tag werden. Und darum drücken diese Leute wenigstens auf ihre Hupe, damit alle wissen: Da hat sich gerade jemand wieder eine kleine Sauerei geleistet. Und doch befinden wir uns hier erst auf der untersten Stufe der kleinen Sauereien. Was man schon allein daran erkennt, dass die Angehupten die Huperei für die eigentliche Sauerei halten. Manche hupen zurück, andere verwandeln sich kurzzeitig in mediterrane Lebenskünstler, die über ihre humorlosen Landsleute nur den Kopf schütteln – das Ignorieren von Verkehrszeichen, Falschparken, Pinot Grigio und Olivenöl gehören doch irgendwie zusammen.
Auf diese unterste Stufe gehört auch das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, von PS-schwächeren Verkehrsteilnehmern gerne als «Rasen» bezeichnet. Auch da reagieren die Betreffenden häufig verständnislos auf Kritik. Das eindrucksvolle Überbieten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gehört sogar zu den wenigen kleinen Sauereien, die man nicht zu vertuschen versucht, sondern von denen man gerne und häufig ausführlich erzählt. Denn sie verleihen dem Erzähler eine Aura des Verwegenen und Tollkühnen, die man als, sagen wir, leicht übergewichtiger Mittvierziger sonst nicht so bequem erwirbt. So aber gerät man in hinterhältige Radarfallen, wird «geblitzt» und von der Polizei verfolgt. Wie der Chef eines Drogenkartells. Eines kleinen Drogenkartells vielleicht. Nun ja, eines sehr kleinen Drogenkartells, aber immerhin.
Im Straßenverkehrt ist es nicht anders als in der Schule: Wer nicht ab und zu schummelt, abschreibt und/oder abschreiben lässt, der gehört nicht ganz dazu. Makellose Menschen, die nicht gelegentlich ein bisschen mogeln, mögen wir einfach nicht. Irgendwie merkt man ihnen den Mangel an «Cheater’s High»-Zuständen schon an. Sie sind fade und freudlos. Und vor allem machen sie uns ein schlechtes Gewissen. Sie geben uns nicht das beruhigende Gefühl, dass sie genau solche liebenswerten Schelme sind wie wir.
Mit zweierlei Maß messen –
die kleinen Sauereien zweiter Stufe
Wenden wir uns nun den kleinen Sauereien zweiter Stufe zu. Die zeichnen sich dadurch aus, dass wir sehr gereizt reagieren, wenn sie sich ein anderer herausnimmt. Wenn wir selbst so etwas machen, dann sind wir deutlich nachsichtiger. Wir sind nicht gerade stolz darauf wie auf unsere Geschwindigkeitsrekorde, aber wir machen auch kein Drama daraus. Schließlich kann so etwas jedem mal passieren. Außerdem wissen wir genau, wie es dazu gekommen ist: Es waren die äußeren Einflüsse, die auf unseren guten Kern eingewirkt haben – tiefstehende Sonne, dringender Geschäftsanruf, Ablenkung durch Beifahrerin oder dieser Song im Radio. Außerdem ist doch gar nichts passiert. wenn man es genau nimmt. Die Sauereien der zweiten Stufe wollen wir möglichst schnell abhaken – vorausgesetzt es unsere eigenen sind. Hat sie dagegen ein anderer begangen, sind wir nicht so großzügig. Wenn wir können, steigen wir ihm aufs Dach. Und seine Ausflüchte, die lassen wir ihm nun schon überhaupt nicht durchgehen. Denn der andere soll ja nicht einfach so mit seiner Sauerei davonkommen. Er soll sich der Wahrheit stellen und uns gegenüber erklären: «Ich habe Mist gebaut. Das wird nicht wieder vorkommen.»
Nun gibt es durchaus Leute, die ihre kleinen Sauereien im Straßenverkehr hin und wieder zugeben. Zum Beispiel, wenn die Polizei ihnen ihre lichthupenunterstützten Überholmanöver später auf Video vorführt. Interessanterweise reden diese Leute dann über sich selbst wie über eine dritte Person und es ist ihnen furchtbar peinlich, was die sich wieder geleistet hat. Aber wieso und wozu das Ganze passiert ist – keine Ahnung. Wer sich seinen kleinen Sauereien stellen will, der muss sich selbst ein bisschen fremd werden, der braucht Distanz zu seiner eigenen Persönlichkeit. Nur so kann man das eigene Tun mit der nötigen Fassungslosigkeit betrachten.
Die weitergereichte Sauerei
Zur zweiten Stufe gehört aber noch eine andere Art von kleinen Sauereien: die weitergereichte Sauerei. Nehmen wir an, Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Wieder im Berufsverkehr. An der Kreuzung springt die Fahrradampel gerade auf Rot. Sie tun, was Radfahrer mit ihrer Vorliebe für «Cheater’s High»-Erlebnisse tun: Sie treten noch einmal richtig in die Pedale und zischen über die Kreuzung. Dadurch aber nötigen Sie einen Autofahrer, der abbiegen will, zum Beispiel mich, zu einem kurzen Stopp. Weil ich die Fahrradampel aufmerksam im Blick habe, weiß ich, dass Sie gerade gegen § 37 der Straßenverkehrsordnung verstoßen haben. Ich betätige die Wuthupe, kurbele das Fenster herunter, um Sie zu beschimpfen, und brause auf die nächste Ampel zu, die gerade auf Rot umgeschaltet hat. Beherzt brettere ich an den Fußgängern vorbei, die über dieses riskante Manöver den Kopf schütteln. Denn die können nicht ahnen, welche Rechnung ich bei der kleinen Sauerei aufgemacht habe: Wenn dieser bescheuerte Radfahrer nicht bei Rot über die Kreuzung gefahren wäre, hätte ich nicht bremsen müssen und es bei Grün zur nächsten Ampel geschafft. Also darf ich da jetzt rüberfahren. Denn wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätte ich ja Grün gehabt. Die Fußgänger, die ich fast über den Haufen gefahren hätte, dürfen ihre Beschwerden gerne an den Radfahrer richten.
Es liegt auf der Hand, dass dieses Argument die anderen nicht so recht zu überzeugen vermag. Aber die müssen auch gar nicht überzeugt werden. Bei den kleinen Sauereien der zweiten Stufe muss man zunachst sich selbst überlisten. Und wenn die anderen das für lächerliche Ausflüchte halten, so macht das gar nichts.
Die weitergereichte Sauerei gehört zu den beliebtesten miesen Nummern im Straßenverkehr. Irgendeiner fängt damit an, vielleicht gar nicht mal mit Absicht, blinkt falsch, übersieht eines dieser Verbotsschilder oder ihm ist gerade entfallen, wo jetzt links oder rechts ist, ganz zu schweigen...