Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip
Die Geschichte der Menschheit mit ihren Kriegen und Revolutionen, mit ihren Bestrebungen um Änderung, Besserung, Beseitigung oder Erhaltung von Zuständen und Einrichtungen, mit all ihren politischen, wirtschaftlichen, religiösen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen vollzieht sich in immer veränderten Forderungen dennoch immer mit derselben Begleitmusik. In allen Zeiten, bei allen Völkern, wo Meinung gegen Meinung, Losung gegen Losung stand und steht, empfehlen sich die Beschützer des Alten wie die Pioniere des Neuen als die Sachverwalter der Freiheit. Es gibt keine Bewegung, hat nie eine gegeben und kann keine geben, die erfolgreich um Anhang für sich werben könnte, wenn nicht auf ihrer Standarte das Bekenntnis zur Freiheit beschworen ist. Wo Ziele erstrebt werden, die über materielle Nützlichkeit hinausreichen oder doch hinauszureichen scheinen, kann Gefolgschaft nur mit sittlichen Zwecksetzungen gewonnen werden; zum sittlichen Begriff schlechthin aber, dem alle übrigen sittlichen Werte ein- und untergeordnet sind, der die hohen seelischen Eigenschaften der menschlichen Gesellschaft wie Ehre, Ruhm, Kultur, glückliche Verbundenheit, in der natürlichen Vorstellung aller zur Gefolgschaft geeigneten Massen umfasst, wird von allen verschiedenen und entgegengesetzten Parteien und Vereinigungen die Freiheit erhoben. Denn das Wort Freiheit ist im Sprachgefühl der Menschen das einzige, das in sich die Eigenschaften der individuellen Tugend mit denen eines gesellschaftlichen Ideals verbindet.
Daß offenbar jeder Mensch die Freiheit als gesellschaftliches Ideal empfindet, ist ein Beweis dafür, daß die Sehnsucht nach individueller Freiheit in der menschlichen Natur selber begründet ist. Dieser Sehnsucht nach persönlicher Steigerung der Lebenswerte muß jede Werbung Rechnung tragen, die die allgemeine Erhöhung des Kollektivgefühls zu bewirken verspricht. Daher und weil bei primitiven Menschen ebenso wie bei differenzierten das Streben nach veredelter Gemeinschaft durchaus gleich empfunden wird mit dem Streben nach vermehrter Freiheit in der Verbundenheit aller, spielt sich fast aller öffentliche Kampf um die Geister der Menschen als ein Wettstreit der Weltanschauungen, der politischen und wirtschaftlichen Bekenntnisse und der sozialen Grundsätze ab, die eigene Freiheitlichkeit als die beste zu erweisen, das fremde und feindliche Prinzip als freiheitswidrig herabzuwürdigen. Wäre nun die Freiheit im Sprachbewußtsein der Menschen ein klar erkanntes und in ihrer Bedeutung einhellig erfasstes sittliches Gut, dann bedürfte es keiner konkurrierenden Anpreisung gesellschaftlicher Programme unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, dann wäre es leicht, unter den empfohlenen Systemen dasjenige herauszufinden, das der positiven Forderung am nächsten käme oder gar sich mit ihr deckte.
Leider verbindet sich jedoch bei den meisten Menschen mit dem Wort Freiheit nur ein ganz verschwommener Empfindungswert, so daß aus dem gesellschaftlichen Begriff, der aus dem stärksten ethischen Drang des Menschen stammt, die seichteste aller öffentlichen Phrasen werden konnte. Es gibt in den vielen Jahrtausenden übersehbarer Menschengeschichte keine Tyrannis, keine Unterdrückung und Vergewaltigung von Arbeits- und Willenskräften, die sich nicht des Freiheitsverlangens ihrer Opfer bedient hätte, um zur Macht zu kommen. Der Sklave nämlich stellt sich fast niemals die Freiheit vor, sondern leidet nur unter der greifbar erlebten Unfreiheit und läßt sich somit leicht überreden, neue Knechtschaft auf sich zu laden, wenn nur der neue Herr die glaubhafte Zusicherung gibt, er werde ihn aus der alten Knechtschaft befreien. Die Erfolglosigkeit aller bis jetzt geführten Kämpfe um gesellschaftliche Freiheit hat also ihre Ursache darin, daß sie nie für die Erringung wahrhaft freien Lebens, für einen positiv von Freiheit durchdrungenen sozialen Zustand geführt wurden, sondern ihren Ausgang nahmen von der Unerträglichkeit des Bestehenden und ihr Ziel begrenzten auf die rein negative Befreiung von dieser Unerträglichkeit.
Das Versprechen: wir werden euch, das Volk, den Staat, die Gesellschaft, die Menschheit befreien!; die Aufforderung: befreit euch, das Volk, den Staat, die Gesellschaft! hat mit Freiheit nur insofern zu tun, als in diesen Parolen ihr Nichtvorhandensein anerkannt und als Übel festgestellt wird. Was dagegen aufgestellt wird, beschränkt sich in fast allen Fällen auf die Ausmalung von Verhältnissen, die sich durch Abwesenheit der Dinge auszeichnen werden, deren Ausmerzung Sinn der Befreiung sein soll. Umgekehrt begegnen aber auch die Hüter der befehdeten Einrichtungen, Zustände oder Gebräuche dem Appell, sich von ihnen zu befreien, mit dem Beweise, daß alles, was sie ersetzen soll, dem Geiste der Freiheit widerspreche, und die Einen wie die Anderen lassen die Darstellung der Unfreiheit des Bekämpften als Überzeugungsgrund dafür gelten, daß die von ihnen gewünschten oder verteidigten Werte den Charakter der Freiheit trügen. Es bleibt also zu untersuchen, ob der Begriff der Freiheit als gesellschaftliches Prinzip überhaupt in positiver Formulierung zu fassen ist und wie die Organisation der Gesellschaft beschaffen sein müßte, die die Freiheit zum lebensbewegenden Inhalt des menschlichen Zusammenhalts machen wollte.
Es kann sich hier natürlich nicht um eine philosophische Deutung des Freiheitsbegriffes handeln, wie sie etwa Schopenhauer in seinen zwei Grundproblemen der Ethik vornimmt. Allerdings ist auch nicht darauf zu verzichten, das gesellschaftliche Problem der Freiheit als ein Problem der Ethik zu betrachten. Doch ist es nur deswegen nicht überflüssig, die Notwendigkeit solcher Betrachtung aus ethischen Gesichtspunkten besonders zu betonen, weil leider die Behandlung gesellschaftlicher Fragen als Fragen vorwiegend sittlicher Natur längst nicht mehr überall als selbstverständlich zu gelten scheint. Vermehrte gesellschaftliche Freiheit wird dazu helfen, das Primat der Ethik für alle auf die Beziehung der Menschen zu einander gerichteten Erörterungen sicherzustellen. Hiermit ist aber schon gesagt, daß der gesellschaftlich genommene Freiheitsbegriff auch keineswegs schlechthin als politischer Wert aufgefasst werden darf. Zwar wirkt sich bestehende und mangelnde Freiheit wesentlich politisch aus, in dem weiten Sinne nämlich, daß alle Herrschaft, auch wirtschaftlicher Macht, politisch gefügt sein muß, um sich zu erhalten. Aber Politik betrifft in viel zu enger Weise wandelbare Einrichtungen und auf Widerruf statuierte Bindungen, als daß ein Ewigkeitsprinzip menschlicher Verständigung sich in ihren Methoden verwirklichen ließe.
Die zu lösende Frage ist diese: Der Mensch strebt nach Erfüllung seiner individuellen Möglichkeiten. Er will seinen einmaligen, von allen anderen Menschen unterschiedenen Charakter mit den darin begründeten Fähigkeiten, Neigungen, Kräften, Leistungs- und Genußanlagen unabhängig von auferlegtem Zwange frei entwickeln und verwerten. Diese Unabhängigkeit, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in sich schließt, ist seine Vorstellung von Freiheit; ohne sie kann es keine Freiheit für ihn geben. Die Menschen aber sind auf ihre Arbeit angewiesen und zwar jeder auf die Arbeit aller, alle auf die Arbeit eines jeden. Infolgedessen ist die Gemeinschaftsaufgabe jeder Gesellschaft, die sogenannte soziale Frage zu lösen, d.h. Arbeit, Verteilung und Verbrauch so zu organisieren, daß Leistung und Verwendung in das richtige Verhältnis zum Ertrage der Erde gebracht werden. Unter gesellschaftlicher Freiheit wird nun gemeinhin verstanden, daß die Organisation der gemeinsamen Arbeit der Willkür und dem Nutzen Einzelner entzogen und der Gesamtheit des produzierenden und konsumierenden Volkes übertragen werde. Ist nun - und das entscheidet, ob die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip bestehen kann, - eine Regelung der menschlichen Beziehungen erreichbar, bei der das Höchstmaß verbundenen Werteschaffens zum Nutzen aller und unter Ausschaltung der Willkür Einzelner geleistet wird, - und gleichzeitig die Persönlichkeit zur vollen Entwicklung ihrer Fähigkeiten, zum vollen Ausleben ihrer Kräfte, zur vollen Befriedigung ihrer Bedürfnisse gelangen kann?
Der marxistische Sozialismus bejaht mit Entschiedenheit die Lösbarkeit der sozialen Frage, also die Organisierbarkeit der Arbeit in der Form, daß der Ertrag jeder Leistung dem Leistenden selber zugute kommt. Er postuliert dazu - und darin begegnen sich alle Lehren des Sozialismus - die Vergesellschaftung des Grundes und Bodens und der Produktionsmittel, sohin die Beseitigung des Herrentums über die Arbeitskraft anderer Menschen. Ohne Zweifel ist hier eine Voraussetzung nicht nur kollektiver, sondern auch individueller Freiheit erfüllt. Doch beschränkt sich der Marxismus auf die Forderung der ökonomischen Gleichstellung der Menschen. Marx und Engels, denen Lenin hierin folgt, stellen zwar als letztes Endziel und schließlich Folgerung der sozialisierten Wirtschaft die Überwindung des Staates und die Vollendung des freiheitlichen Kommunismus hin, wonach jeder nach seinen Fähigkeiten schaffen, jeder nach seinem Bedarf verbrauchen soll, doch gelangt bei ihnen die freiheitliche Zielsetzung nirgends über hypothetische Hindeutungen hinaus. Ihre Theorien erschöpfen sich in wirtschaftlichen Analysen der bestehenden und anzustrebenden Produktionsformen und gewähren der Darstellung der Freiheit als gesellschaftliche Grundeigenschaft so gut wie keinen Raum.
Die nichtsozialistischen Gesellschaftslehren, soweit sie dem Worte Freiheit höheren Wert als nur den einer Werbeformel beimessen, gehen von der bekannten Behauptung des Malthusischen Gesetzes aus, daß der Ertrag der...