Vor meiner Haustür im Berliner Stadtteil Kreuzberg stapelte sich der Müll. Fast-Food-Verpackungen, Zigarettenschachteln, allerlei Plastik, Glasscherben, manchmal auch Reste von Wassermelonen oder Ölkanister aus Plastik. Müll zieht Ratten an, und die krochen dann auch an feuchten Tagen buchstäblich aus ihren Löchern. Nun war das Abfallaufkommen kein Wunder – der Gehweg wird täglich von unzähligen Schülern, Touristen oder anderen Passanten benutzt, und die werfen eben ein gerüttelt Maß an Zeug auf die Straße. Das Problem bestand darin, dass dieser Müll nicht entfernt wurde. Der Hauseigentümer stellte sich auf den zunächst seltsam anmutenden Standpunkt, der von einer winzigen Mauer eingerahmte Grünbereich vor seinem Haus gehöre gar nicht ihm; ebenso sah es die benachbarte Wohnungsbaugesellschaft. Die Berliner Stadtreinigung aber hielt diesen Bereich für Privatbesitz: Die Straßenkehrer pickten den Müll auf der Straße auf und ignorierten den zehn Zentimeter daneben liegenden Abfall.
Tatsächlich handelte es sich hier um ein rechtliches Problem. Kurz nach der Wende hatte das Land Berlin im Rahmen eines Programms zur Begrünung der Quartiere viele Vorgärten in öffentliche Hand überführt. Das war zu einer Zeit, in der man in Berlin größenwahnsinnig von einer neuen Hauptstadt träumte. Allerdings besaß der Bezirk nie die Mittel, um die Begrünungsfantasien zu realisieren, und über die Jahre wurde dann schlicht und einfach vergessen, wessen Eigentum diese Bereiche eigentlich sind. Ich weiß, dass ich in einer mehr als belebten Gegend wohne, die Leute und der Lärm haben mich auch nie gestört. Aber Müll konnte ich nicht ertragen. Nachdem ich mir eine Greifzange besorgt und diverse Male selbst aufgeräumt hatte, wandte ich mich ans Ordnungsamt. Dort antwortete man zunächst gar nicht. Als ich dann meinen Presseausweis ins Spiel brachte, reagierte man postwendend. Eine geschlechtslose Person namens Schubert gab mir eine Vorgangsnummer.
Etliche freundliche, bittende, aggressive Mails und einige Monate später hatte sich kaum etwas getan. Nun ist Friedrichshain-Kreuzberg ein schlecht verwalteter Bezirk. Das geht mit der Parkpflege los und reicht bis zur Schneeräumung. Dennoch ist das Ordnungsamt seit Jahren im Kiez präsent, gerade im Sommer. Dann messen die Mitarbeiter zum Beispiel zentimetergenau nach, wie viel Raum die vielen Außengastronomien einnehmen, und erheben bei Verstößen die entsprechenden Bußgelder. Die Restaurant- und Ladenbesitzer wurden auch schon scharf kontrolliert, als es im Viertel nur wenige Läden und Restaurants gab (Teile von Kreuzberg lagen lange Zeit direkt an der Berliner Mauer und stellten quasi das unterentwickelte »Ende der Welt« dar).
Wenn ich mit jemandem über diese Geschichte spreche, dann heißt es gleich: »Jaja, die Verwaltung, die sind eh nur noch hinter unserem Geld her.« Schnell sind weitere Angelegenheiten auf dem Tisch: »Knöllchen«, Geschwindigkeitskontrollen, Gebühren für sämtliche Leistungen von der Abfallbeseitigung bis zur Erneuerung des Führerscheins, allerlei Sondersteuern und auch zunehmend Steuern im Allgemeinen empfinden viele als fortschreitende Ausplünderung. Und dann die Verschwendung von Geldern für sinnlose Großprojekte oder Ähnliches, die den Bürgern keinen Nutzen bringen! Kaum jemand hat noch den Eindruck, die Verwaltung handle gemeinwohlorientiert.
Eine neue Kritik der Bürokratie
Ich will hier nicht den Müll vor der Haustür zur gesellschaftlichen Katastrophe aufblasen. Es geht mir um das mangelnde Vertrauen in die Verwaltung, das meiner Meinung nach für die demokratische Gesellschaft problematisch ist. Individuelle Beschwerden über den alltäglichen Behördenwahnsinn gibt es reichlich, doch eine aktuelle Kritik der Bürokratie fehlt. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren anders. Der real existierende Sozialismus galt als Paradebeispiel einer pervertierten Herrschaft der Administratoren. Der damals in Europa und Deutschland viel gelesene jugoslawische Autor Milovan Ðilas entlarvte die sozialistischen Bürokraten als »neue Klasse«.1 Sie hätten sich die Verfügungsgewalt über das kollektive Eigentum und den Produktionsprozess gesichert und damit enorme Privilegien. Anders als die Kapitalisten im Westen seien sie allerdings nach wie vor davon überzeugt, sich für das Volk aufzuopfern – eine furchteinflößende Mischung.
Auch im Westen wurde Kritik an einer neuen Besitzerschicht laut. Hier kursierte das Stichwort von der »Herrschaft der Manager«.2 Gemeint war die technokratische Arroganz der Nomenklatura in Wirtschaft und Staat, der autoritäre Gestus der »Fachmänner«. Die Bürokraten wussten alles besser: Hier muss ein Hochhaus hin, dort eine Autobahn, hier ein Atomkraftwerk, dort ein NATO-Stützpunkt. Die Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre waren auch ein Kampf gegen diese Art der Verwaltung. In der Friedens- und Umweltbewegung ging es um die direkten Auswirkungen der Entscheidungen auf die Einzelnen: Die Individuen fühlten sich »betroffen« von den zumeist nicht kalkulierten Folgen einer autoritären Modernisierung und protestierten.
Nach dem Fall der Berliner Mauer war dann allerorten die Rede von Bürokratieabbau. Allerdings hat der angebliche Abbau die Macht der Verwaltung nicht eingedämmt, vielmehr wirkt sie sich anders aus. Früher zeigte sie sich autoritär und wollte durch ihre Präsenz den Individuen ein regelrechtes Korsett anlegen und Normverhalten erzwingen: Die Verwaltung organisierte gesellschaftliche Disziplin. Weil sich der Wohlfahrtsstaat seit Mitte der siebziger Jahre zurückgezogen hat, verfügt sie inzwischen jedoch über weniger finanzielle Mittel, und ihre Einflussmöglichkeiten sind geringer geworden. Darüber hinaus stellten die Neuen Sozialen Bewegungen die technokratische Basis des Verwaltungshandelns nachhaltig infrage. Die Individuen haben sich also größere Spielräume erobert und wurden gleichzeitig »freigesetzt«, denn der Abbau des Wohlfahrtsstaats führte zu Problemen. Es erwies sich als immer schwieriger, die notwendigen »Lebensmittel« (Wohnraum, Strom, Wasser, Gesundheit, Bildung, öffentlicher Verkehr etc.) im bezahlbaren Rahmen und gemeinwohlorientiert zu organisieren.
In all diesen Bereichen müssen die Einzelnen heute sehr viel mehr Aufwand betreiben: Sie müssen deutlich mehr recherchieren, mitarbeiten, bezahlen. Prekäre Lebensumstände sind ja nicht nur für jene ein Thema, die kaum genug verdienen, um ihren Unterhalt zu bestreiten. Prekär ist auch die Situation der Angehörigen des sogenannten Mittelstands. Ihnen fällt es schwer, für dauerhafte Stabilität in ihrem Leben zu sorgen – ständig muss man sich um etwas kümmern, »privat vorsorgen« und nachsorgen, nie hat man genug Zeit, man ist überfordert. Für die Individuen gibt es zweifellos einen Freiheitszuwachs, doch damit geht eine hohe Belastung einher. Zudem übt eine »abgebaute« Bürokratie ihre Macht nun indirekter aus, durch Prüfung, Evaluation, Kontrolle, aber auch durch Abwesenheit und Unberechenbarkeit. Früher sollte durch Disziplin ein Alltag ohne Abweichungen hergestellt werden, gegenwärtig behindert die Bürokratie hingegen teilweise die Wünsche der Individuen nach »Normalität«.
Erstaunlicherweise ist das Beamtentum im Rahmen des Bürokratieabbaus selten zum Gegenstand kritischer Diskussionen geworden. Die Behörden funktionieren weiterhin wie Klöster: weltabgewandt und den eigenen Regeln folgend. Die Welt der Beamten ist von der Ausbildung bis zur Unkündbarkeit ein nahezu geschlossenes System. Das Feedback erfolgt primär intern: Gute Bewertungen ihrer Vorgesetzten sind den Mitarbeitern wichtiger als zufriedene Bürger. Der Betrieb fördert Ängstlichkeit und vermeidet strukturell jedes Risiko. Einmal etablierte Routinen werden aufrechterhalten, obwohl die äußeren Bedingungen sich längst verändert haben. Das bedeutet aber nicht, dass es in der Verwaltung keine reformorientierten Kräfte gibt. Doch sie können sich oft kaum gegen die Trägheit der alltäglichen Routinen durchsetzen.
Tatsächlich weist der Betrieb unterdessen enorme innere Widersprüche auf, was angesichts seiner Größe auch nicht verwunderlich ist: Fortschrittliche und konservative Fraktionen bekämpfen sich, die einen unterstützen Projekte, die anderen werfen ihnen Steine in den Weg etc. In Kreuzberg gab es in den letzten Jahren eine Reihe von Konflikten, bei denen sich das deutlich gezeigt hat. Seien es die Flüchtlingsproteste mit dem Camp am Oranienplatz und der Besetzung des Gebäudes der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule, die wilde Ansiedlung von Alternativen, Obdachlosen und Roma-Familien auf der »Cuvry-Brache« (»Deutschlands erste Favela«, hieß es dramatisch im Stern3) oder der Drogenhandel im Görlitzer Park, stets gab es eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Behörden: Bezirk, Land, Bund, Polizei verfolgten unverhohlen unterschiedliche, häufig gegenläufige Interessen, und teilweise existierten intern zusätzliche Fraktionen. Solche Spannungen sind sicher unausweichlich, aber die Effekte für die Bürger sind verheerend. Die Entscheidungen werden unberechenbar. Und ungreifbar, weil unklar ist, wer eigentlich im Gewirr der Kompetenzen und Gegnerschaften verantwortlich ist.
Diese Weltabgewandtheit sorgt für eine strukturelle Unwilligkeit zu ernsthaften Reformen und führt zu erheblichen Kollisionen mit den Initiativen der Individuen. Teile der Bürokratie pflegen fortgesetzt Fantasien von der technokratischen Allmacht, was sich etwa in der angeblich im Dienste des Gemeinwohls stehenden...