1 Wie entwickeln sich Potenziale optimal?
Unsere Kinder sollen gesund und glücklich sein, klug, erfolgreich und beliebt. Dazu lernfreudig und gut in der Schule, damit sie gute Zukunftschancen haben.
Die Ansprüche und Anforderungen an Eltern und Kinder in Bezug auf die richtige Erziehung und Bildung setzen uns Mütter und Väter heute enorm unter Druck.
Ein Kind braucht eine anregende Umgebung, die die Neugier fördert und zu Entdeckungsreisen einlädt. Experten reden von bestimmten Zeitfenstern für Lernprozesse, die sich schnell wieder schließen. Kein Talent soll übergangen werden, Sprachen, Sport und Kreativität wollen angeregt und gefördert werden. Das Thema Schule steht in Familien oft im Mittelpunkt. So geraten Erwachsene und Kinder zwischen musikalischer Frühförderung, Fremdsprachen-Unterricht, Kindertheater und Malkursen – und das natürlich alles neben der Schule – oft in Stress. Natürlich wird wie selbstverständlich erwartet, dass wir Eltern jederzeit liebevoll auf unseren Sprössling eingehen und immer ein tolles Vorbild sind. Und ganz nebenbei muss auch die finanzielle Basis stimmen, die das ganze Programm für unseren Nachwuchs erst möglich macht.
Von den Kindern wünschen wir uns, dass sie freudig auf alle Angebote reagieren und diese dankbar annehmen. Aber sie haben ihren eigenen Kopf und machen uns mitunter einen Strich durch die gut gemeinte Rechnung. Schule, Freizeit, individuelle Förderung und häufig auch die Berufstätigkeit der Eltern fordern Familien oft mehr ab, als sie leisten können. Wo also nun beginnen, um mit den Anforderungen, denen Eltern und Kinder sich heute gegenübersehen, besser umgehen zu können?
1.1 Eine sichere emotionale Basis und echte Gefühle
So banal es klingt: Der erste Schritt ist, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, mit allen ihren Stärken und ihren individuellen Schwächen. Eine gute emotionale Bindung zwischen Eltern und ihrem Sprössling kommt vor der Bildung und ist die Basis dafür, dass Kinder Offenheit, Neugierde und Wissensdurst entwickeln, um später auch in der Schule erfolgreich zu sein. Darin sind sich alle Experten einig.
Jedes Kind hat essentielle Grundbedürfnisse, ohne die es nicht leben kann. Nahrung, Schlaf, Luft zum Atmen, Körperpflege und Bewegung zählen selbstverständlich dazu. Aber auch die seelischen Bedürfnisse sind wichtig, damit es seine Potenziale entfalten kann.
Kinder brauchen Erwachsene, auf die sie zählen können. Diese emotionale Sicherheit entwickelt sich vom ersten Lebenstag an. Das sogenannte Urvertrauen entsteht durch die Gewissheit, dass Mama und Papa vor allem dann da sind, wenn das Kind sie braucht. Eine sichere Beziehung zu den Menschen, die seinen Alltag begleiten, und das Gefühl, wichtig und wertvoll zu sein, ermöglichen erst das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Dazu gehört auch, Kinder schrittweise loszulassen und ihnen zuzutrauen, dass sie die Verantwortung übernehmen können, die ihrem jeweiligen Alter entspricht. Der Schuleintritt ist ein Meilenstein. Hier ist das Kind zum ersten Mal gefordert, sich alleine zu beweisen. Eltern können helfend da sein, ersparen können wir unseren Kindern diesen großen Schritt nicht.
Die Botschaft an das Kind sollte lauten:
Du kannst immer mehr alleine schaffen. Aber ich bin sicher da, wenn du Hilfe brauchst.
1.1.1 Mut zu Echtheit und spürbaren Emotionen
Viele Eltern tun alles dafür, dass ihr Kind möglichst ohne Ärger, Schmerz und Kränkungen aufwächst. Sie versuchen ständig, freundlich und perfekt sein. Aber Erwachsene, die immer ausgeglichen sind, Kinder, die immer motiviert sind, und ein Familienleben, das immer harmonisch läuft, gibt es nur im Werbefernsehen. Menschen haben verschiedene Stimmungen, und Schwierigkeiten gehören zum Leben. Nur von und mit echten Menschen, die Gefühle zeigen, die Fehler machen und daraus lernen, bekommen Kinder die Kraft, selbst mit schulischen und privaten Rückschlägen oder schlechter Laune umzugehen. Ständig lächelnde Eltern und Lehrer, die ihre wahren Emotionen unterdrücken, verunsichern Kinder und verhindern eine emotionale Orientierung. Gefühle wie Zorn, Enttäuschung oder Trauer sind in Ordnung, solange wir Erwachsenen die Kinder nicht dafür verantwortlich machen. Auf der anderen Seite profitieren Kinder sehr, wenn Eltern keinen perfekten Nachwuchs erwarten. Denn Kinder wollen geliebt werden, wie sie sind, unabhängig von Leistung und Laune.
Der amerikanische Kinderpsychoanalytiker Donald W. Winnicot hat beruhigende Erkenntnisse: Er sagt, dass eine Mutter, dass Eltern nicht perfekt, sondern »gut genug« sein müssen. Sie müssen nicht alles richtig machen. Im Gegenteil: Der Kinderpsychologe warnt, dass eine zu perfekte, zu sehr am Nachwuchs orientierte Erziehung dem Kind zu wenig Raum lässt, um sich eigenständig zu bewähren und sich selbst kennenzulernen.
Die Botschaft an das Kind sollte lauten:
Wir alle haben unsere Ecken und Kanten. Auch wenn es manchmal turbulent zugeht, habe ich dich immer lieb. Deine Leistungen haben damit nichts zu tun.
1.2 Neugier schützen und Selbstvertrauen fördern
Jedes Kind ist von Grund auf neugierig und wissbegierig. Ohne Neugier und Entdeckungsdrang wäre Lernen gar nicht möglich. Wenn Kinder dabei liebevoll unterstützt und angeregt werden, gelingt es ihnen leichter, sich Unbekanntem zuzuwenden. Die Erfahrungen, die sie dabei machen, sind wichtig zum Aufbau eines stabilen Selbstvertrauens. Effizientes Fördern ohne Druck und Zwang weckt die Freude an neuen Herausforderungen. Und dennoch brauchen Kinder uns Erwachsene, die Eltern besonders, damit sie sich Trost, Zuspruch und Nähe holen können, wenn sie bei ihren Abenteuern auf die Nase gefallen sind oder plötzlich Angst bekommen.
Neue Erfahrungen bringen umso weiter, je mehr sie zu den individuellen Eigenarten und Interessen passen. Je besser es gelingt, einem Kind die Förderung zu vermitteln, die seinen Potenzialen entgegenkommt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem körperlich, seelisch und geistig gesunden Menschen heranwächst. Ein Kind, das besonders viel Freude an Sport hat, wird weniger Anregungen aus einem Malkurs mitnehmen als eines, das jede Minute nutzt, um zu zeichnen. Hier liegt die Verantwortung sowohl bei den Eltern als auch bei der Schule, die Begabungen und Talente zu erkennen und entsprechend zu fördern bzw. Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich das Kind bestmöglich entfalten kann.
»Die Erziehung streut keinen Samen in euch hinein, sondern lässt Samen in euch aufgehen.«
Khalil Gibran (1883–1931)
1.2.1 Regeln einhalten und Individualität erlauben
Grundlegende gesellschaftliche Spielregeln erleichtern das Leben und sind die Basis jeder sozialen Gemeinschaft. Wenn Kinder manierlich essen oder höflich grüßen, entsteht das Gefühl, auch außerhalb der Familie willkommen zu sein. Kinder sollen Zähne putzen, Spielzeug wegräumen und ältere Menschen vorlassen. Und bis zu einem gewissen Grad sind diese Erwartungen auch berechtigt. Aber ist es wirklich notwendig, dass Jens mit seinem Vater täglich Schach spielt, obwohl ihn eigentlich die Autowerkstatt um die Ecke viel brennender interessiert? Muss Lisa gerne zeichnen, nur weil ihre Mutter begeistere Grafikerin ist? Freut sich Matteo wirklich über die Sprachreise nach Paris, obwohl er leidenschaftlicher Sportler ist?
Kinder sehnen sich danach, gesehen und gefördert zu werden, aber sie lehnen ganz automatisch zu hochgesteckte Erwartungen oder fremde Interessen ab. Stehen an erster Stelle die Ziele der Eltern, die Abarbeitung eines Lehrplans bzw. die Normen der Leistungs- und Wissensgesellschaft, dann lernen sie vor allem Anpassung und verlieren leicht ihre Individualität und Begeisterungsfähigkeit. Das kann die Entwicklung beeinträchtigen oder zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Deshalb ist es wichtig, die eigene Erwartungshaltung an das Kind immer wieder zu überprüfen.
Die Botschaft an das Kind sollte lauten:
Lass mich wissen, was dich interessiert, was dich begeistert. Ich zeige dir, wie du mehr darüber erfahren kannst, auch wenn ich selbst nicht viel darüber weiß.
1.3 Anerkennung und Wertschätzung
Damit Kinder erfolgreich lernen und Freude am Erfolg spüren, brauchen sie von der Umwelt Anerkennung. Sie sind von uns Erwachsenen abhängig und lieben ihre Eltern grundsätzlich und bedingungslos. Deshalb haben wir Macht über sie und können sie leicht er- oder entmutigen. Wir können Freude über Erfolge zeigen und zu weiteren Schritten ermutigen, oder wir können unser Augenmerk mehr auf die Fehler und Defizite richten. Wenn in der Beziehung zum Kind aber Kritik und Sorge dominieren, fällt es dem Kind sehr schwer, zu einem Selbstvertrauen zu gelangen, das für eine kontinuierliche Leistung wichtig ist. Wenn sich der natürliche Wissensdrang durch Verunsicherung zurückzieht, haben Ängstlichkeit oder Selbstzweifel freie Bahn.
1.3.1 Ermutigung bei Rückschlägen
»Die Kunst, zu ermutigen, ist eine Form aufmerksamer Nächstenliebe«, lautet ein Grundsatz der chinesischen Erziehungslehre. Damit ist nicht gemeint, dass wir Kinder prinzipiell und für alles immer loben müssen. Ganz im Gegenteil. Wenn die Tochter zum Beispiel kein Problem mit Mathematik hat und uns jeden Tag korrekt...