2. Wohlbefinden und Flourishing
2.1 Was ist Glück?
„Glück ist die Bedeutung und der Sinn des Lebens, das Ziel der menschlichen Existenz.“
Aristoteles
Zur systematischen Erforschung menschlichen Wohlbefindens in der Psychologie hat Ed Diener, amerikanischer Psychologieprofessor, entscheidend beigetragen. Bereits in den 1980er-Jahren beschäftigte er sich umfassend mit der Frage, was menschliches Glück14 sei, und definierte subjektives Wohlbefinden als die Verbindung von positiven im Verhältnis zu negativen Gefühlen und persönlicher Lebenszufriedenheit. Subjektives Wohlbefinden (SWB) lässt sich entweder global oder lebensbereichs-spezifisch einschätzen. Diener unterscheidet die Lebensbereiche Selbst, Familie / Beziehungen, Arbeit, Gesundheit und Freizeit.
Die emotionale Komponente des subjektiven Wohlbefindens setzt sich aus dem Verhältnis von positiven und negativen Gefühlen zusammen. Überwiegen die positiven Gefühle, so erlebt ein Mensch subjektives Wohlbefinden. Positive Emotionen allein genügen jedoch nicht, um das komplexe Konstrukt des Wohlbefindens zu beschreiben; die kognitive Komponente der Lebenszufriedenheit gehört ebenfalls dazu. Sie beinhaltet den Grad der Zufriedenheit mit den eigenen Lebensbedingungen.
Emotionales / affektives subjektives Wohlbefinden | Kognitives subjektives Wohlbefinden |
Anwesenheit positiver Emotionen Abwesenheit negativer Emotionen | Lebenszufriedenheit |
Dieners Forschung zeigte immer wieder, dass subjektives Wohlbefinden über die Zeit hinweg relativ stabil bleibt und auch mit Persönlichkeitsfaktoren zusammenhängt. Personen, die sich eher als extravertiert und optimistisch einschätzen und stabile soziale Beziehungen haben, erleben höheres Wohlbefinden. Äußere günstige Umstände beeinflussen das Glückserleben dagegen weniger stark als zum Beispiel das Erreichen persönlich wichtiger Ziele. Und schließlich tragen kulturelle Einflüsse zum subjektiven Wohlbefinden bei; „Glücklich-Sein“ wird in den USA anders definiert als in Japan oder in den Slums der dritten Welt. Diese Erkenntnisse wurden bereits vor der Jahrtausendwende veröffentlicht (vgl. etwa Diener, Suh, Lucas, & Smith 1999), und so konnte sich die Positive Psychologie in ihrer weiteren Forschung darauf stützen, zum Beispiel bei der Frage, wie sich Glück auf Gesundheit oder Einkommen auswirkt.
Wenn subjektives Wohlbefinden wie beschrieben aus positiven vs. negativen Emotionen und Lebenszufriedenheit besteht, würde folglich das persönliche Glücksniveau steigen, wenn mehr positive Gefühle und / oder eine größere Zufriedenheit mit dem eigenen Leben erlebt werden. Hier setzen die Interventionen der Positiven Psychologie an.
Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden lassen sich nicht nur bei Individuen nachweisen, sondern auch bei Nationen. Felicia Huppert und Timothy So von der Universität Cambridge werteten Ergebnisse einer großen europäischen Umfrage aus, in der jeweils 2000 Erwachsene aus 23 EU-Ländern befragt wurden (Huppert & So 2013). Danach zeigten sich die Dänen als glücklichstes Volk, gefolgt von der Schweiz, Österreich und den anderen skandinavischen Ländern, während Russland, Portugal und die anderen osteuropäischen Länder die Schlusslichter in dieser Rangreihe darstellen. Deutschland liegt genau im Mittelfeld. Für das Glück von Nationen spielt eine Rolle, wie wohlhabend, stabil und demokratisch die Gesellschaft ist. Außerdem scheint relevant, wie die Gesellschaft das Streben nach positiven bzw. die Vermeidung negativer Erfahrungen bewertet (Seligman 2012).
Große Armut macht Menschen unglücklicher – doch großer Reichtum macht sie nicht glücklicher. US-Bürger, deren Lebensstandard heute im Durchschnitt deutlich höher ist als vor 100 Jahren, sind im Vergleich jetzt sogar unglücklicher als früher (Diener & Biswas-Diener 2011). Und ein Land auf der Welt hat die Vermehrung des Glücks zum Staatsziel erklärt: Der König von Bhutan hatte bereits 1972 den Begriff Gross National Happiness („Brutto-National-Glück“) als Ziel für sein Land eingeführt; mehr als 20 Jahre bevor Martin Seligman die Positive Psychologie formal als Forschungsfeld begründete. Ziel des Königs von Bhutan war seinerzeit, sein Land in eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu führen, die sich im Einklang mit den spezifischen religiösen und kulturellen Werten vollziehen und nicht nur westlichen Wohlstandsidealen nacheifern sollte. Dies führte dazu, dass der Tourismus in Bhutan anders entwickelt wurde als in vergleichbaren Ländern; ausländische Reisende mussten beispielsweise dafür bezahlen, um in Bhutan herumreisen zu können, und diese Einnahmen wurden in Bildung und Straßenbau investiert. Bis heute gilt Bhutan als Land, in dem das Glück der Bürger eine wichtige Rolle spielt.
2.2 Was bringt Glück?
Sonja Lyubomirsky ist neben Martin Seligman und Barbara Fredrickson sicher eine der meistgelesenen Autorinnen im Feld der Positiven Psychologie, gerade auch, wenn es um populärwissenschaftliche Veröffentlichungen geht. In ihrem Buch Glücklich sein – The How of Happiness (Lyubomirsky 2008a) zeigt sie zahlreiche wissenschaftlich fundierte und alltagstaugliche Wege auf, um das eigene Wohlbefinden zu erhöhen. Eines ihrer Forschungsergebnisse, das sogenannte „Tortendiagramm“ wird jedoch häufig falsch zitiert. Lyubomirsky konnte mit einer großen Metastudie differenzieren, wie das persönliche Glücksempfinden von verschiedenen Faktoren abhängt, nämlich von äußeren Lebensumständen, anlagebedingten Voraussetzungen und aktivem Handeln (Sin & Lyubomirsky 2009). Das Verhältnis dieser Faktoren wird meist in einem einfachen Tortendiagramm dargestellt.
Abbildung 1: Entscheidende Faktoren für Glück
(Quelle: Sonja Lyubomirsky, University of California, Riverside)
Die äußeren Lebensumstände (wie zum Beispiel materieller Wohlstand oder die derzeitige Wohnsituation) tragen demnach nur etwa 10 Prozent zum persönlichen Wohlbefinden bei, anlagebedingte Voraussetzungen (wie zum Beispiel die Gene) 50 Prozent und das aktive persönliche Verhalten weitere 40 Prozent. Dieses Modell scheint einleuchtend und plausibel, und das ist sicher auch der Grund, warum es häufig zitiert wird. Leider wird dabei in der Regel eine zentrale Tatsache übersehen: Das Tortendiagramm zeigt nämlich nicht prozentuale Anteile der drei Faktoren in Bezug auf das Glückserleben einer einzelnen Person, sondern es beschreibt vielmehr, worauf die Unterschiede im Glücksempfinden zwischen Personen zurückzuführen sind. Es würde auch relativ wenig Sinn machen, wenn man das Modell individuell auf eine einzelne Person anwendet, denn welchen Nutzen hätte die Aussage, dass ihr persönliches Wohlbefinden zu 40 Prozent an ihren genetischen Voraussetzungen hängt? Was könnte die Person damit anfangen?
Die Prozentangaben im Tortendiagramm beziehen sich auf statistische Varianzen, das heißt, auf Unterschiede im Glücksniveau zwischen vielen verschiedenen Personen. Betrachtet man diese Unterschiede zwischen vielen Personen, dann lassen sich diese, grob gesagt, zu 50 Prozent auf genetische Veranlagung zurückführen, zu 10 Prozent auf äußere Umstände15 und eben zu weiteren 40 Prozent auf individuelles, selbstgesteuertes Verhalten. Ein Coach könnte das Tortendiagramm also nutzen, um seine Klienten zu überzeugen, dass sie durchaus aktiv etwas zu ihrem persönlichen Wohlbefinden beitragen können, denn im Durchschnitt lassen sich 40 Prozent der Unterschiede im Glücksempfinden innerhalb einer Gruppe auf aktives Handeln zurückführen. Dies jedoch für eine Person individuell zu beziffern („Wenn Sie diese Intervention durchführen, werden Sie um 40 Prozent glücklicher sein“) wäre sachlich falsch.
„Glücklich zu sein“ heißt weit mehr, als nur „sich gut zu fühlen“. Glück macht nicht nur subjektiv zufrieden, sondern hat weitreichende Auswirkungen16. Glückliche Menschen sind sozial kompetenter, kooperativer, beliebter, großzügiger, flexibler, kreativer und attraktiver für andere. Sie können besser führen und verhandeln, haben stabilere Beziehungen, größere soziale Netzwerke, mehr Erfolg im Beruf und bessere Strategien, um mit Rückschlägen umzugehen. Und es zeigt sich auch ein positiver Effekt auf Gesundheit und Lebensdauer: Ihr Immunsystem ist stärker, damit werden sie seltener krank bzw. schneller wieder gesund.
Übersetzt man das nun in Denk- und Verhaltensmuster, so ergibt sich folgendes Spektrum:
- Glückliche Menschen pflegen und genießen Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden.
- Sie drücken ihre Dankbarkeit aktiv aus.
- Sie bieten anderen Hilfe an, z. B. Kollegen oder Passanten.
- Sie blicken optimistisch in ihre Zukunft.
- Sie genießen ihr...