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E-Book

Mein Leben für die Natur

Auf den Spuren von Evolution und Ökologie

AutorJosef H. Reichholf
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783104007786
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Warum nichts so bleibt, wie es ist - Die persönliche Rückschau des großen Naturforschers Josef H. Reichholf Vögel, die sich in Wasserfälle stürzen, Ameisen, die unterirdische Pilzgärten anlegen, Jaguare, die ursprünglich in Italien und auf dem Balkan lebten, bevor sie nach Nord- und Südamerika wanderten. Kaum jemand hat so viele Tiere beobachtet - seltene und weitverbreitete - wie der große Naturforscher und bekannte Autor Josef H. Reichholf. Basierend auf der Vielfalt seiner Erfahrungen und Forschungen entwickelte er seine viel diskutierten Thesen zur Ökologie, Evolution und zum Naturschutz. Nach einem halben Jahrhundert blickt er zurück und zieht Bilanz: In der Natur gibt es keinen besten oder einzig richtigen Zustand, Stabilität bedeutet Stillstand und führt zum Niedergang. Leben ist steter Wandel, nichts bleibt so, wie es ist.

Josef H. Reichholf ist Evolutionsbiologe, Naturforscher und Bestsellerautor. Bis 2010 war er Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und lehrte an beiden Münchner Universitäten. Zahlreiche Bücher, Fachpublikationen und Fernsehauftritte machten ihn einem breiten Publikum bekannt. 2007 wurde Josef H. Reichholf mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet, nach dem Cicero-Ranking 2009 gehört er zu den 40 wichtigsten Naturwissenschaftlern Deutschlands. Bei S. Fischer erschien von ihm: ?Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends?, ?Warum die Menschen sesshaft wurden?, ?Einhorn Phönix Drache. Woher unsere Fabelwesen kommen? und ?Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie?.Literaturpreise:Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2007

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Leseprobe

Iguaçú Zur Einführung


Die Szenerie ist atemberaubend. Mit ohrenbetäubendem Getöse stürzen die Wassermassen des Iguaçú in die Schlucht. Gischt steigt in Wolken auf. Sie hüllen alles ein in triefende Nässe. Ein Regenbogen steht über dem ›Teufelsschlund‹, der Hauptschlucht, in die der Fluss zu verschwinden scheint. Von schmalen Uferpfaden und von Stegen aus kann man auf sie hinabschauen: Die Wasserfälle des Iguaçú sind die wohl schönsten überhaupt. Iguaçú bedeutet ›Großes Wasser‹ in der Sprache der Guaraní-Indianer, die einst hier im südostbrasilianischen Bergland lebten. »Groß« ist dieses Wasser wirklich. In der Regenzeit des Südsommers stürzen gut 5000, bei starkem Hochwasser über 7000 Kubikmeter pro Sekunde in die Tiefe. Diese Menge entspricht, kommt mir in den Sinn, den stärksten Hochwässern des Inns, an dem ich aufgewachsen bin. Im Winter führt dieser wasserreichste Alpenfluss allerdings viel weniger Wasser als der Iguaçú. Vergleichbar ist er ohnehin nicht. Es fehlt ihm die Tropennatur.

Daher verdränge ich den albernen Gedanken an den heimatlichen Inn auch gleich wieder. Der Iguaçú bietet Natur der Extraklasse, auch für tropische Verhältnisse. Über fast drei Kilometer Breite erstrecken sich die Wasserfälle. Flach, hufeisenförmig, zerteilt von zahlreichen Inseln, greifen sie um die Schlucht herum, in die dieser Nebenfluss des noch viel gewaltigeren Paraná hinabstürzt. Palmen ragen von den Felswänden auf, Bambusgebüsch und anderes frisches Grün stehen im steten Sprühregen. Über den Fällen kreisen große Vögel; schwarze, breitflügelige Raben- und dunkelbraune, langflügelige Truthahngeier. Papageien kreischen, wenn sie zu Paaren oder in kleinen Gruppen vorüberfliegen. Bunte Tukane schwingen sich in Bögen an den von Lianen behangenen Rändern von Wald und Buschwerk entlang. Ihr Flug wirkt wie zu sehr belastet von den übergroßen Schnäbeln. Die hochstehende Sonne erzeugt auf dem wirbelnden Wasser ein geradezu verwirrendes Spiel von Lichtern und beständig schwankendem Glitzern. Wie heller Milchkaffee, der sahnig aufschäumt, ergießen sich die Fluten über die Felskanten. Sie bilden beiderseits der Hauptschlucht Wasservorhänge unterschiedlicher Breite, die gleichfalls im Teufelsschlund, so genannt von den Brasilianern und Argentiniern, deren Länder sich an den Iguaçú-Fällen treffen, verschwinden.

Wie verweht von der Gischt des Wassers, gleitet ein über handtellergroßer blauer Schmetterling vorüber. Ein Morpho ist es, einer jener berühmten, unfassbar schönen Schmetterlinge der mittel- und südamerikanischen Tropen.

Man macht Fotos, weiß nicht, wo man hinschauen soll, und versucht unablässig, die Kamera vor der Nässe zu schützen. Die Szenerien wechseln fast mit jedem Schritt auf den schlüpfrigen Stegen. Manche überspannen auf der argentinischen Seite kleine Wasserfälle, die dort wie Schleier an den Felswänden hängen. Einzigartig! Wundervoll! Welche Superlative passen zu diesem Naturwunder?

Als ich 1970 an den Iguaçú-Fällen stand und wie berauscht vom zu Schauenden versuchte, die Eindrücke aufzunehmen, herrschte noch kein touristischer Hochbetrieb, der weiterschiebt, wo man verweilen möchte. Ein einfaches Stahlseil sicherte den glitschigen Weg. Manche Stege überflutete gerade das leichte Hochwasser. Wer den Zug des Wassers an bloßen Füßen verspüren wollte, konnte barfuß weitergehen. Obwohl warm, kühlte es bei den subtropischen Lufttemperaturen.

Allmählich wurde es Abend. Unmerklich zunächst, weil die Sonne hier auf 26 Grad südlicher Breite, also nur wenig südlich des Wendekreises des Steinbocks, sehr steile Bögen macht. Dann aber sank sie tropenschnell. Die Gischt über der Schlucht flammte golden auf. Neben dem großen Regenbogen über den Hauptfällen entstanden an den Seiten mehrere kleine. Und da geschah es: Ein schlanker Vogel, schwarz und etwas größer als eine unserer Schwalben, löste sich aus der milchig-goldenen Gischtwolke, schoss geradewegs auf die Wasserwand vor mir zu, und weg war er. Das ging so schnell, dass ich nicht folgen konnte. Er tauchte nicht wieder auf. Weggerissen von der Strömung und zerschmettert in der Tiefe – dachte ich. Es kreisten ja beständig Raben- und Truthahngeier über dem schäumenden Wasser am Fuß der Fälle. Den kleinen Vogelkadaver würden sie aber wohl nicht beachten. Ihre Suche galt den großen Fischen, die vom Sog erfasst worden waren und sich nicht mehr daraus befreien konnten. Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht, denn nun sausten Dutzende, Hunderte der schwarzen Vögel heran, und als ob sie Massenselbstmord begehen wollten, verschwanden sie in den Wasservorhängen. Da es so viele waren, die angeflogen kamen, konnte ich durchs Fernglas erkennen, dass es Segler waren. Greisensegler ist ihr deutscher Name. Er nimmt Bezug auf ihre wissenschaftliche Bezeichnung Cypseloides senex. Der Artname senex bezieht sich auf den grauen Kopf, der jedoch nur deutlich wird, wenn man die rasend schnell fliegenden Verwandten unserer Mauersegler aus der Nähe betrachten kann. Oder ein Präparat davon in einer wissenschaftlichen Vogelsammlung in Händen hält. Mit »alt« oder gar »greisenhaft« hat das, wie ihre Flugkünste zeigen, nichts zu tun. Vielleicht brauchen diese Segler, die von den Brasilianern Andorinhas da cachoeira[1],

»Schwalben der Wasserfälle«, genannt werden, diesen hellgrauen Kopf bei ihrer äußerst ungewöhnlichen Nistweise. Denn was ich an jenem Abend, fast starr vor Staunen, erlebte, ist Teil ihrer (für sie) ganz normalen Lebensweise.

Was sie taten, war nichts anderes, als ihren Schlafplatz anzufliegen, nämlich die Felswand hinter den Wasserfällen. Dort klammern sie sich mit ihren kleinen, sichelförmigen Krallen der kurzen Füße an die Felsen und verbringen dicht an dicht, und ohne sich zu rühren, die zwölf Nachtstunden bis zum nächsten Morgen. Dann lösen sie sich aus der Starre. Sie fahren die im Schlaf gesenkte Körpertemperatur wieder auf normale Leistung hoch, schütteln sich vielleicht kurz und werfen sich hinein in die Wasservorhänge. Diese reißen sie zwar ein Stück in die Tiefe, aber nach Bruchteilen einer Sekunde kommen sie wohlbehalten wieder frei und fliegen hinaus zur Jagd nach Fluginsekten über den Wäldern und Savannen.

Ist dieses Nächtigen hinter den Wasserfällen schon staunenswert genug, so geschieht schier Unglaubliches bei der Fortpflanzung. Die Greisensegler bauen nämlich auch ihre Nester in die Felsnischen hinter den Wasservorhängen, bebrüten darin ihre Gelege und ziehen die Jungen groß. Dann heißt es, täglich vielfach das Wasser zu durchfliegen, um die mit Speichel zu Bällchen geformten Kleininsekten, die sie aus dem sogenannten Luftplankton erbeutet haben, an die hungrigen Jungen zu verfüttern. Sind diese ausgewachsen und zum Ausfliegen bereit, müssen sie sich zu ihrer ersten richtig aktiven Lebenstätigkeit vom Nest mit Schwung ins Wasser stürzen und danach sogleich versuchen, Luft unter die Schwingen zu bekommen. Das ist ihr Jungfernflug. Was für eine Lebensweise, stellt man nicht nur als Biologe bewundernd fest. Und es drängt sich die viel größere Frage auf, wie denn so eine Lebensweise zustande kommen konnte. Was in aller Welt mag eine Vogelart, die als Angehörige der Segler ausgeprägter als alle anderen Vögel »in der Luft lebt« und sich im Flug sogar paart, dazu veranlasst haben, ausgerechnet die Felsnischen hinter den tropisch-südamerikanischen Wasserfällen zum Nisten und zum Nächtigen zu benutzen?

Ich war eigentlich nicht hierher an die Iguaçú-Fälle ins Grenzgebiet zwischen Brasilien, Argentinien und Paraguay gekommen, um solche Fragen zu klären. Damals hatte ich nicht einmal gewusst, dass es dieses Phänomen überhaupt gibt. Es ist auch nur eines der unzähligen Beispiele ungewöhnlichster Formen des Lebens in den Tropen. Man muss sicherlich kein Biologe sein, um über die Wunder der Tropenwelt zu staunen. Aber was besagen sie? Was bedeuten sie für die Menschen? Auch für uns, die wir in den klimatisch gemäßigten Breiten leben und den Wohlstand genießen? Sind sie für daran Interessierte etwas dem Besuch eines Zoos, eines botanischen Gartens Vergleichbares, das man auf einer »Studienreise« genießt? Und in welchem Verhältnis stehen sie zur Natur bei uns? Bilden sie lediglich einen exotischen Kontrast dazu?

 

Um die Tropennatur, um ihre Fülle zu erleben, reiste ich direkt nach Abschluss meines Biologiestudiums nach Südamerika. Schon als Kind hatte ich Naturforscher werden und nach Brasilien, an den Amazonas, gehen wollen. Meine Mutter sagte dies in weinerlichem Ton jedem, der danach fragte, als ich tatsächlich dort war. Zwischen dem Träumen von den Tropen in früher Jugendzeit und meiner Ankunft in Brasilien im Januar 1970 waren zwar etwa ein Dutzend Jahre vergangen, aber in der Rückschau sind dies eigentlich gar nicht so viele. Wann sich die Wunschbilder von den Tropen in mir aufbauten, kann ich anhand eines Buches zeitlich ziemlich genau eingrenzen. Es handelte von der Reise Alexander von Humboldts in die südamerikanischen Tropen und hieß passend für jugendliche Leser Draußen wartet das Abenteuer. Ich verschlang es, wie man ein Buch nur verschlingen kann. 1957, spätestens 1958, muss das gewesen sein, denn ein weiteres Buch aus dieser Zeit wirkte nachhaltig über die Bilder: Die Welt in der wir leben, die deutsche Fassung des amerikanischen The World We Live In, dessen drucktechnisch billigere Volksausgabe ich nach langem Sparen erworben hatte. Es zeigte in großen bunten Bildtafeln auch die Fülle des Lebens im Tropischen Regenwald Südamerikas. Ich saugte die Bilder und...

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