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Bildungspanik

Was unsere Gesellschaft spaltet

AutorHeinz Bude
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783446250352
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Werden unsere Schüler und Studenten gegen die internationale Konkurrenz bestehen können? Die Ergebnisse der PISA-Studie haben in Politik und Gesellschaft eine Grundsatzdiskussion über das Schulsystem ausgelöst. Diese Debatte muss das Grundrecht auf Bildung genauso ernst nehmen wie das Bedürfnis, durch Bildung einen sozialen Status zu erreichen. Denn gerade auf dem Feld der Bildung werden soziale Unterschiede ausgespielt. Wie viel Gleichheit braucht unsere Gesellschaft? Wie viele Unterschiede erträgt sie, und was bedeutet das für die Schule in Deutschland? Diese Diskussion will der Soziologe Heinz Bude in Gang bringen - weil sie weiterführt als der panische Blick auf PISA-Werte.

Heinz Bude, Jahrgang 1954, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1997 bis 2015 leitete er den Bereich 'Die Gesellschaft der Bundesrepublik' am Hamburger Institut für Sozialforschung, seit 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet (2011) und Lebenslügen im Kapitalismus (2014, Hanser Box) und Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen (2016).

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Leseprobe

1. Die verfahrene Lage


Wer sich in Deutschland heute öffentlich über Bildung äußert, findet sich schnell in einer Falle wieder. Von der einen Seite warten die Leute nur darauf, dass man sich als hartherziger Verteidiger klassenmäßiger Privilegien entpuppt, und von der anderen sind alle Antennen darauf gerichtet, ob man als Feind oder als Freund für das Wohl der eigenen Kinder spricht. Beide Seiten sehen sich im Recht und sprechen der anderen das Rederecht ab. Eine dritte Position wird nicht geduldet.

Die einen, die im »aufgeklärten Milieu« die herrschende Meinung darzustellen meinen, empören sich über die ungeheure soziale Selektivität des Bildungs- und in Folge davon des Lebenserfolges in Deutschland. Die dazu erhobenen Daten vermitteln ein ums andere Mal dasselbe deprimierende Bild einer geschlossenen Gesellschaft, in der die soziale Herkunft wie nirgends sonst in Europa über den erreichten Bildungsabschluss und den erklommenen sozialen Status im Leben entscheidet. Weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus einem Elternhaus, in dem der Vater ungelernter Arbeiter ist, schafft es, in eine leitende Angestelltenposition zu gelangen. Dagegen werden etwa zwei Drittel der Kinder aus Familien leitender Angestellter selbst wieder leitende oder hochqualifizierte Angestellte.1 Das passiert in einem Land, das sich über eine lange Nachkriegszeit als Aufstiegsgesellschaft begriffen hat, in der die Tochter eines katholischen Landarbeiters Scheidungsanwältin und der Sohn eines Bergmanns Ingenieur im Flugzeugbau werden konnte.

Der zentrale Grund dafür scheint klar zu sein: Es ist das dreigliedrige Schulsystem von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, das viel zu früh sortiert und viel zu wenig kompensiert. In Deutschland glaubt man immer noch, dass beim Übergang zur fünften Klasse festgestellt werden kann, welches Kind auf die Universität gehört, welches sich auf eine Facharbeiterexistenz vorbereiten soll und welches sich bestenfalls für die »Jedermanns«- oder besser: »Jederfrausarbeitsmärkte« der Randbelegschaften und der Selbstbeschäftigten rüsten kann. Und danach soll sich eigentlich nichts mehr bewegen: Die Gymnasiasten bleiben unter sich, lernen Gedichte von Hölderlin kennen, dürfen sich Gedanken über das Unentscheidbarkeitstheorem von Gödel machen und sollen selbständig ein Referat über das Schicksal chinesischer Wanderarbeiter erarbeiten; bei den Realschülern steht der Unterricht für die Arbeitswelt mit dem Ideal des Lernens am Material im Vordergrund, womit sie vielleicht noch eine fachgebundene Hochschulreife erreichen können; und die Hauptschüler sollen sich schon mal damit anfreunden, dass sie sich als Frisörin oder als Koch in Mindestlohnbereichen durchschlagen müssen.

Das Ergebnis dieses brutalen selektiven Mechanismus steht der Gesellschaft heute vor Augen: Das Entstehen eines institutionellen Ghettos im Bildungssystem, wohin kein Lehrer will und schon gar keine Lehrerin, wo auf dem Schulhof der Ethnorassismus von Palästinensern gegen Russen, von Albanern gegen Ghanesen und von Türken gegen Deutsche regiert und wo den Schülern und Schülerinnen beschieden wird, dass sie nicht nur arm an Zertifikaten, sondern auch an Kompetenzen sind. So ist die Hauptschule zur Restschule geworden, wo die von der Wirtschaft dringend benötigten Talente verplempert werden.

Nüchternen ausländischen Beobachtern erscheint Deutschland als Land hoher ökonomischer und geringer sozialer Produktivität. Man investiert vorrangig in Maschinen und Management und nachrangig in Menschen und Mentalitäten. Bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte sich die Politik der Bundesrepublik daran gewöhnt, dass genug fachgeschultes Personal für die exportorientierte Hochproduktivitätsökonomie zur Verfügung stand. In der frühen Bundesrepublik der fünfziger Jahre waren das die gut ausgebildeten und hochmotivierten Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten sowie die hungrigen und geschickten Bewohner der ländlichen Gebiete Oberbayerns, Ostfrieslands oder des Schwarzwaldes, die in der Autoindustrie, im Maschinenbau oder in der chemischen Industrie unterkamen; und in den neunziger Jahren hat die nach dem Mauerfall ins Land strömende polytechnische Intelligenz aus Mitteleuropa und Russland als Manpowerreserve gedient. Für Bürgerkriegsflüchtlinge wie für die »Russlanddeutschen« war das vereinte Deutschland noch einmal das Gelobte Land. Und dazwischen haben in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die geduldigen »Gastarbeiter« aus Südeuropa und vor allem aus der Türkei die Anlernpositionen am Band oder im Lager besetzt. Wenn die Bänder liefen und die Schornsteine rauchten, kamen die Leute wie von selbst.

Das Reservoir für diese »innere Landnahme«2 hat sich heute erschöpft. Die Türkei stellt sich zu Beginn unseres Jahrhunderts als aufstrebende Volkswirtschaft dar, die ihren Einwohnern erweiterte Chancen für ein gutes Leben bietet; und Polen zum Beispiel ist längst ist mehr nur die »verlängerte Werkbank« westlicher Unternehmen. Man sieht sich angesichts eines durchschlagenden Fachkräftemangels jetzt genötigt, in die Populationsreserven zu investieren, die im Lande selbst noch vorhanden sind. Man kann in einer solchen Situation 8 oder 10 Prozent eines Jahrgangs nicht einfach als Restgröße abschreiben. Die Hauptschule kann nicht länger als Parkbank für die Unterklasse hingenommen werden, das gesamte Bildungssystem muss vielmehr so renoviert werden, dass dieses brachliegende Arbeitskraftpotential wirtschaftlich genutzt und gesellschaftlich anerkannt werden kann.

Die Lösung dieses Problems, das man ernsthaft nicht bestreiten kann, scheint auf der Hand zu liegen: Es ist die Ganztagsschule als Vorstufe einer Einheitsschule mit differenzierten, aber gleichrangigen Abschlüssen. Der Königsweg einer investiven Bildungspolitik besteht in der Verlängerung der gemeinsamen Beschulung aller Kinder. Denn je länger die Kinder gemeinsam lernen, umso größer ist die Chance, dass sie voneinander lernen. Die von Hause aus Privilegierten lernen dadurch, dass sie anderen zeigen, welche Informationen relevant für die Lösung eines Problems und welche dafür irrelevant sind, selber besser zu lernen; und die von Hause nicht so Privilegierten lernen in dem Maße, wie sie kürzere Wege erkennen und direktere Verbindungen erschließen, dass es beim Lernen etwas zu lernen gibt. Insgesamt lernen alle voneinander, dass man auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Ziel kommen kann.

Vor allem aber entlastet diese Art des gemeinsamen Lernens das Lehrpersonal vom Zwang zum schnellen Urteil über ein Kind. Es wird Zeit für Lernprozesse gewonnen, die Nachteile ausgleichen und unvermutete Talente an den Tag bringen. Die Lehrperson wandelt sich von der Vorführerin und Instrukteurin im Frontalunterricht zur Anregerin und Begleiterin von Lernprozessen im Gruppengeschehen. In dem Maße, wie die Lehrerin und der Lehrer dabei das einzelne Kind vor Augen haben, dient die individuelle Förderung dem Fortschritt aller.

Es geht offenbar nicht anders: Man muss die Spitze entprivilegieren, um die Basis zu reaktivieren. Am Ende muss das Gymnasium dran glauben, weil nur so die produktive Mischung herzustellen ist, die das ganze System in Bewegung hält. Die Herausforderung besteht darin, den Teufelskreis zu durchbrechen, der die einen in der Schule erfahren lässt, dass sie wie von selbst immer besser und die anderen, dass sie, was auch immer sie unternehmen, immer schlechter werden. In der Schule sollen doch alle ihre Chance haben: Die aus den bildungsnahen genauso wie die aus den bildungsfernen Elternhäusern. Mit der institutionell arrangierten Verlängerung des gemeinsamen Lernens könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Man könnte die soziale Selektivität bekämpfen und die gesellschaftliche Produktivität erhöhen.

Warum aber, wenn das alles so glasklar dargelegt werden kann, passiert nichts? Auch darauf hat die eine Seite eine schlagende Antwort. Es stehen die massiven sozialen Interessen der Mittelklassen dagegen, die von sozialmoralischer Ansteckungsangst getrieben werden und sich mit verstärktem Bildungsprotektionismus gegen jene anderen abschotten wollen, die keinen Sinn für die Bedeutung von Bildung haben und die Schule als billigen Aufenthaltsort für ihre Kinder betrachten. Man will seine Kinder aufs Gymnasium retten, weil es dort nur mit Kindern von Eltern in Berührung kommt, die wissen, was die Stunde geschlagen hat, die leistungsbereit, sozial engagiert und zivilgesellschaftlich eingebunden sind, bei denen also im sozialen Sinne kein Unterschied zu einem selbst besteht. Die defensiv eingestellten Mittelklassen verteidigen das Gymnasium als Refugium der Selbstähnlichkeit in einer Welt heilloser Differenzen. Wenn man unter sich bleibt, braucht man keine Angst davor zu haben, dass die Kinder falschen Kontakt pflegen und in der Phase des pubertären »Jugendirreseins«, wie das Eduard Spranger in der Psychologie des Jugendalters von 1924 genannt hat, auf die falsche Bahn geraten. Auf einem Gymnasium mit Erziehungsanspruch und Leistungsbetonung können die Eltern sich darauf verlassen, dass es für ihre Kinder so eingerichtet ist, dass die soziale Endogamie gewahrt bleibt.

Man weiß also von dieser Seite, worin die Probleme bestehen und was zu tun ist, und kennt sogar den Schuldigen, der alles verhindert. Dagegen kann nur eine vernünftige Mehrheit aus der Mitte unserer Gesellschaft etwas ausrichten, die Bildung als Bürgerrecht versteht. Entgegen einem ständischen Begriff von Bildung, der allein die Interessen einer bürgerlichen Klasse im Blick hat, zielt der Bürgerrechtsbegriff von Bildung auf das gesellschaftliche Fundament für die Freiheit des einzelnen. Es geht nicht um staatlich...

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