Master-Plan
Ewig strahlt das Juwel
Jan Six blickt mich so eindringlich an, als habe er gerade seinen ockergelben Mantel über die linke Schulter geworfen, als wolle er in diesem Moment aus dem Bild treten, um mit mir einen Spaziergang durch Amsterdam zu machen. Jene Stadt, die während seiner Regentschaft Weltstadt war. Jan Six bleibt, lächelt, und das seit 1654. In jenem Jahr hat ihn Rembrandt für die Ewigkeit festgehalten. Das Besondere an dem Auftragsporträt: Es ist der einzige echte Rembrandt, der noch an dem Platz hängt, für den es gemalt wurde: in der Beletage des Patrizierhauses an der Amstel. Jan Six war mehrmals Bürgermeister sowie Förderer und Freund von Rembrandt.
Jan Six der Zehnte hat ebenfalls den beneidenswerten Blick auf die Amstel – wie schon sein Ur-Vorfahr. Das ist gediegenes Amsterdamer Ambiente. Reden wir also über die Stadt, Mijnheer Six!
Der Grachtengürtel, Heren-, Keizers- und Prinsengracht, ist untrennbarer Bestandteil der Mythologie von Amsterdam. Er wurde in der sumpfigen Brache vor der Stadtmauer erbaut und umrundet wie ein steinernes Korsett die Altstadt, ein übervölkertes Labyrinth enger Gassen. Wir haben es mit etwas sehr Kostbarem zu tun, wenn wir vom Drei-Grachtengürtel sprechen, erzählt Jan Six, und doch handele es sich um eine Filmkulisse. Alles Attrappe, relativiert er die Schönheit des historischen Stadtbildes, wo kein Hochhaus den Blick verstellt. Die Stadt habe Seuchen und Herbststürme überstanden, blieb von Feuersbrünsten und allzu verheerender Kriegszerstörung verschont, aber die Moderne habe ihr schwer zugesetzt. Blicke man hinter die restaurierten Fassaden, so fände man nichts als Verwüstungen. Von der ursprünglichen Innenausstattung seien allenfalls zwei Prozent bewahrt geblieben. Wir haben es mit europäischer Geschichte zu tun, und das bringe Verpflichtungen mit sich. Das alles erzählt Jan Six. Im Gegensatz zu seiner Blickweise bin ich immer wieder angenehm überrascht, was alles erhalten geblieben ist. Aber vielleicht liegt das auch nur am idealisierten Blick.
Und Six kann sich richtig in Rage reden, wenn er mit dem Finger auf Stadtplaner, Projektentwickler und vor allem auf die Stadtväter zeigt, die weder eine Vision haben noch über Fingerspitzengefühl verfügen. Beängstigend sei, dass die Stadt den Massentourismus noch mehr fördern wolle, als ob wir nicht schon genug Besucher hätten. Damit würde die kulturelle Identität gefährdet. Ich will die Amsterdamer wachschütteln, erzählt der 1947 geborene Jan Six. Wenn er von seinem Haus aus an der Amstel entlangwandert, falle ihm immer wieder die Einmaligkeit des Grachtengürtels auf. Ein Problem sei auch, dass die Stadt langsam im Sumpf versinke. Den Untergang werden wir nicht mehr erleben, beruhigt mich Six und gibt mir den Tipp, alte Stadtansichten im Historischen Museum anzuschauen. Etwa das Idealbild, so wie es Caspar Philips Jacobsz zwischen 1768 und 1771 aufgezeichnet hat.
Sie können natürlich nicht alle Museen besuchen, aber jene, die ein umfassendes Bild zur Stadtgeschichte vermitteln, sollten Sie doch betreten: Das Historische Museum. Wechselausstellungen, die die Stadt zum Thema haben. Das restaurierte Schifffahrtsmuseum, Terrasse am Wasser, mit seiner spannend schönen Sammlung zur maritimen Geschichte und der Nachbau des Ostindienfahrers »Amsterdam«. Schön auch für Kinder, besonders weil hier im Sommer Szenen aus dem Seemannsleben nachgespielt werden.
Wie fahrlässig mit dem historischen Erbgut umgesprungen werde, sieht Six, wenn er von seiner Beletage auf den Amstelhof blickt, in dem eine Dependance der Hermitage (St. Petersburg) eingerichtet wurde. Eine falsche Wahl sei das, denn das Gebäude zähle seiner Meinung nach gemeinsam mit dem Rijksmuseum, der Centraal Station und dem Koninklijke Paleis zu den besonders markanten historischen Bauwerken. Im Amstelhof, ein Altersheim aus dem 17. Jahrhundert, hätte das Historische Museum einziehen müssen. Da geben ich und viele andere ihm Recht. Aber der Direktor der Hermitage-Zweigstelle hatte die besseren Beziehungen – bis hin zur Königin. Allein das zählt.
Die Stadt stand im 17. Jahrhundert, zu Lebzeiten von Bürgermeister Six, auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Es war die klassische europäische Stadt, die die Verheißungen von Freiheit, Wohlstand und Gezelligheid verwirklicht hatte und deren architektonische Gestalt auch ein Symbol des Gemeinwohls war. Die Amsterdamer zimmerten ihre wendigen Dreimaster in Serie, schossen sich auf Spanier und Portugiesen ein, klauten deren Seekarten, segelten nach Afrika, Asien und Südamerika, wo die Reichtümer der Welt lockten.
Im Sumpf erbaut, auf Pfählen ruhend, kroch die Amphibie Amsterdam immer weiter an Land, um bald nach Paris, London und Neapel die viertgrößte Stadt Europas zu werden. Eine Weltstadt, Knotenpunkt des Handels, Börsenplatz, Sitz großer Unternehmen und der VOC. Der erste multinationale Konzern hatte Handelsstationen in China, Ostindien, Ceylon und Afrika und unglaubliche Gewinne erzielt. Amsterdam war die Schaltzentrale der damaligen globalen Ökonomie und Machtzentrale im Sklavenhandel. Von hier aus wurde ein Weltreich zwischen West- und Ostindien, Kapstadt und Nieuw Amsterdam, dem heutigen New York, regiert und dirigiert. Die Kapitalströme beeinflussten Europa, Niederländisch war Weltsprache, die Tabak- und Zuckerhändler erbauten sich ihr Tusculum an der Amstel. Der vorherrschende Duft, der in den Straßen hing, war Tabak. Die Menschen waren »kollektiv nach Tabak und Alkohol süchtig«, hatte der Historiker Simon Schama herausgefunden.
Es gab koffiehuizen, getrennt nach Männern und Frauen, und hungern musste auch niemand. Das von allen Ständen favorisierte Gericht war hutspot, ein auch heute noch beliebter Kartoffel-Karotten-Eintopf mit Fleisch. Kurz, von allem gab es im Überfluss – dank der neu entwickelten Marktwirtschaft. Amsterdam, die damals am dichtesten bevölkerte Stadt der Republik, war aber auch die kriminellste. Der Zeedijk, der Dam und der Leidseplein waren die berüchtigtsten Arbeitsplätze der Diebe. Auch heute ist es dort nicht anders. Ich kann Ihnen versichern, es ist in der Tat ein merkwürdiges Gefühl, wenn man in der eigenen Manteltasche eine Hand berührt, die dort nichts zu suchen hat.
Die drei Wasseravenuen, die Heren-, die Keizers- und die Prinsengracht, gelten als ein architektonisches Gesamtkunstwerk. Der Halbmond war die erste planmäßige Erweiterung einer mittelalterlichen Stadt und das größte städtebauliche Projekt seiner Zeit. Der Master-Plan wurde wie ein Scheibenwischer in etwa 60 Jahren verwirklicht. Aufgefallen ist Ihnen inzwischen sicher auch, dass überall Wohnboote liegen – nur nicht an der Herengracht. Das liegt daran, dass der vornehme Charakter dieser Wasserstraße erhalten bleiben sollte.
Venezianer sahen im Grachtengürtel das klassische Schönheitsideal einer idealen Stadt verwirklicht, eine Architektur nach menschlichem Maß. Und dann das Grün. Die Grachten sind von Linden, Ulmen sowie Platanen bestanden und das alles sorgt für eine heitere Atmosphäre.
»Wir befinden uns hier im Herzen der Dinge. Finden Sie nicht, dass die konzentrischen Kanäle von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen? Der bürgerlichen, von Albträumen bevölkerten Hölle natürlich«, fragt der Pariser Tourist Clamence, ein traumatisierter Egoist, in Albert Camus’ ›Der Fall‹, und fährt fort: »Aber dann verstehen Sie, warum ich sagen kann, der Mittelpunkt der Dinge sei hier, obgleich wir uns am Rande des Kontinents befinden. Aufgeschlossene Menschen begreifen diese Wunderlichkeiten.« Ein Buch ohne Handlung, das 1956 veröffentlicht wurde und dem Autor ein Jahr danach den Nobelpreis eingebracht hat.
Auf den ersten Blick erkennt der Besucher nicht, dass dem Amsterdamer Stadtbild zahlreiche Wunden zugefügt wurden. Das sieht nur ein Kenner wie Jan Six. Genau 78 Grachten wurden in den letzten 150 Jahren in Straßen umgewandelt, aber eine der größten Planungssünden wäre es gewesen, wenn der »Plan Kaasjager« Wirklichkeit geworden wäre. Der frühere Polizeipräsident wollte die Gracht Singel – rund um das historische Zentrum – in eine Schnellstraße verwandeln. Von Planlosigkeiten ohne Ende weiß auch drs. Walther Schoonenberg zu erzählen. Ich treffe den Vorsitzenden der Vereinigung ›Vrienden van de Amsterdamse Binnenstad‹ in seinem Haus an der Herengracht. Wir schauen gemeinsam auf die Gracht. Obwohl wir den Blick kennen, bestätigen wir uns gegenseitig, wie schön das doch alles ist. Auch er teilt die Auffassung von Six, dass die Stadtväter stets ein widersprüchliches Verhältnis zur Stadt hatten. »Sie erkennen einfach den Wert des Gesamtkunstwerkes nicht«, erklärt mir Schoonenberg. Da könne man es auch Touristen nicht übel nehmen, die meinen, sie befänden sich in einem Freizeitpark, und sich benehmen, als hätten sie nie soziales Verhalten gelernt.
Um den Erhalt des Kunstwerkes, das Amsterdam heißt, haben sich auch Stiftungen wie ›Hendrick de Keyser‹, ›Stadsherstel‹ sowie ›Diogenes‹ verdient gemacht. Wichtige und erfolgreiche Lobbygruppen. Schließlich ist das historische Zentrum »das Huhn, das die goldenen Eier« legt.
Wann aber ist ein Grachtenhaus ein Baudenkmal? Ein »stilechtes« Gebäude findet man kaum, und so stellt sich Restauratoren immer wieder die Frage, wie weit sie in die Baugeschichte zurückgehen können. Zumeist ist das Skelett aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, die Giebelfront im Stil Louis XIV. gehalten, der Giebel vielleicht Barock, die Sprossenfenster wieder jünger und das Portal erst einige...