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E-Book

Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde

Das Phänomen Realfakes

AutorVictoria Schwartz
VerlagBlanvalet
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641159481
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Sie wollen nicht mehr dein Geld - jetzt wollen sie deine Liebe!
Alles begann mit einer Twitternachricht. Und als es endete, wusste Victoria, dass sie nach allen Regeln der Internet-Kunst betrogen worden war. Von einem Fremden, der sich in ihr Leben geschlichen hatte. Dem sie alles über sich erzählte hatte. Für den sie Gefühle empfand. Und der ihr über Monate eine komplexe virtuelle Täuschung vorgespielt hatte. Denn dieser Mann erschuf nicht nur eine falsche Internet-Identität, sondern Dutzende. Die von Familienmitgliedern. Freunden. Arbeitskollegen. Ausschließlich zu dem Zweck, Victorias Herz zu erobern. Wie es ihr gelang, aus eigener Kraft den massiven Betrug ihres Realfakes zu enttarnen, liest sich spannend wie ein Thriller und gilt als neuer Leitfaden unserer digitalen Gesellschaft. Victorias Botschaft: »Das Netz ist voll von tollen Leuten. Überlassen wir es nicht den Anderen!«

Victoria Schwartz lebt in Hamburg und ist freie Kommunikationsdesignerin und Texterin. Neben ihrer Tätigkeit für verschiedene Hamburger Verlage arbeitete sie als Autorenfilmerin und ließ sich zur Familien- und Wirtschaftsmediatorin ausbilden. Seit 2013 berät sie nebenberuflich Menschen, die Opfer von Fakes im Internet wurden, recherchiert für sie und hilft ihnen bei der Einschätzung und Verarbeitung des Erlebten.

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Leseprobe

Liebesbeweise

Er und ich schlichen uns beide immer mehr in das Leben des anderen ein. Ich ertappte mich dabei, dass meine Gedanken während des Tages immer wieder zu ihm abschweiften. Ich rechnete die Stunden zurück und fragte mich, ob er schon aufgestanden war, was er machte. Und dass auch er an mich dachte, war offensichtlich. Normalerweise meldete er sich, sobald er aufgestanden war, und erzählte mir kurz, was er den Tag über vorhatte. In Hamburg war es dann meist schon später Nachmittag, und während ich mich mit der U-Bahn auf dem Weg von der Redaktion nach Hause befand und der Hafen vor den Fenstern vorbeiglitt, blickte ich lächelnd auf das Display meines iPhones und tauschte mich mit einem Menschen aus, der trotz der räumlichen Entfernung ganz nah bei mir zu sein schien.

Im Laufe der Zeit hatte sich Kai bei Facebook mit weiteren Personen vernetzt, darunter auch mit seinen Brüdern und seiner Schwester Andi. Natürlich war ich neugierig auf Kais Familie und Freunde und sah mir deren Profile an. Die meisten seiner Freunde kamen aus den USA, Jamaika und Barbados und gehörten eindeutig zur Surferszene. Es gab aber auch einige aus dem Ruhrpott. Bei zweien konnte ich sehen, dass sie auf dieselbe Schule wie er gegangen waren.

Kai lud fast täglich neue Fotos hoch und dokumentierte so sein Leben. Viele zeigten ihn und seine Schwester Sarah, um die er sich nachmittags kümmerte. Auch über den Rest der Familie erfuhr ich nach und nach immer mehr, zum Beispiel durch Bilder der Geburtstagsfeier seines Großvaters. Am Wochenende traf Kai häufig Freunde, hing mit ihnen am Strand ab oder besuchte abends irgendwelche Clubs. Einige von ihnen waren auch bei Facebook und luden Fotos ihrer gemeinsamen Unternehmungen hoch, auf denen sie Kai markierten. Mit diesen Markierungen verlinkten sie automatisch seinen Account, sodass die Bilder dann auch in seiner Chronik erschienen und ich sehen konnte, mit wem er etwas unternommen hatte.

Es war offensichtlich: Kai hatte eine gute Zeit auf Jamaika, und dementsprechend bestach er durch seine Lebensfreude und seinen Optimismus. »Ich kann Menschen einfach nicht verstehen, die ständig schlecht gelaunt sind«, schrieb er mir. »Damit schaden sie sich nur selbst. Statt über ihr Leben zu nörgeln, sollten sie lieber versuchen, etwas daran zu ändern.«

»Du hast gut reden«, antwortete ich. »Du fährst monatelang in die Sonne, kannst surfen und am Strand liegen. Du hast Familie an Orten, an die andere in Urlaub fahren. Aber nur, wenn sie das nötige Geld dafür besitzen. Da fällt es ziemlich leicht, gute Laune zu haben!«

Er gab mir recht, betonte aber, wie anstrengend sein Leben in Münster sei. »Ich habe kaum Freizeit dort. Ist mir auch nicht so wichtig. Im Grunde mache ich mir den Stress selbst. Ich arbeite in Deutschland nur so viel, damit ich mir die monatelangen Auszeiten im Herbst und Winter leisten kann. Aber ich halte es in der Kälte einfach nicht aus. Dafür steckt zu viel Karibik in mir.«

»Warum ziehst du nicht einfach zu deiner Familie? Was hält dich in Deutschland?«

»Meine Arbeit in Münster macht mir Spaß. Auf Jamaika würde ich einen Bruchteil von dem verdienen, was ich in Deutschland bekomme. Und die Arbeitsbedingungen dort wären viel schlechter. Na ja, und in die USA will ich nicht. Mir liegt die Mentalität der Leute da nicht so. Die Oberflächlichkeit. Der Materialismus. Von der Politik ganz zu schweigen. Außerdem bin ich ganz froh über den räumlichen Abstand zu meinen Eltern, besonders zu meiner Mutter. Ein Viertel des Jahres sehe ich sie, den Rest habe ich meine Ruhe vor ihnen.«

»Aber bist du glücklich, so wie es ist?« Ich konnte nicht recht nachvollziehen, warum er freiwillig in Deutschland wohnte, wenn er so einfach in ein Land ziehen konnte, in dem es ganzjährig warm war und man die schönsten Strände vor der Haustür hatte. Und zumindest mit seinem Vater schien sich Kai doch zu verstehen. Gute Arbeitsbedingungen hin oder her, sich aufzureiben, nur um sich mit dem Verdienst dann einen Urlaub in dem Land leisten zu können, in dem man genauso gut wohnen konnte? Hmmm …

»Niemand hat gesagt, dass alles immer toll sein muss«, erwiderte er. »Manche Dinge kann ich nicht ändern. Was soll ich da dann ständig drüber nachdenken? Im Großen und Ganzen mache ich das, was ich will. Ich bin zufrieden mit meinem Leben.«

Diese Antwort kam so schnell, dass sie fast trotzig auf mich wirkte. Ich erwiderte: »Natürlich muss nicht alles immer toll sein, das ist mir schon klar, aber alles ist toller, wenn man dort ist, wo die Sonne scheint! :)«

Es vergingen einige Minuten. Ich putzte mir unterdessen die Zähne. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Dann schrieb er: »Aber alles ist schwieriger, wenn andere dir das Leben schwer machen und du nicht du selbst sein kannst. Sorry, ich muss los.« Noch bevor ich antworten konnte, ging er offline.

Seltsam. War ich ihm irgendwie zu nahe getreten? Aber womit? Keine Ahnung, was mit Kais Familie los war, aber so entspannt wie meine war sie definitiv nicht. Ich hatte eine harmonische Kindheit gehabt und kannte Streitereien innerhalb meiner Familie gar nicht.

Überhaupt fand ich Spannungen zwischen Menschen furchtbar und versuchte darum generell, diese gar nicht erst aufkommen zu lassen oder sie so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen. Diese Harmoniesucht hatte einen riesigen Nachteil: Hatte ich das Gefühl, jemandem auf den Schlips getreten zu sein, zerbrach ich mir so lange den Kopf darüber, bis ich die Möglichkeit hatte, die Angelegenheit mit der anderen Person zu klären.

So kam es, dass ich ganze sechs Tage darüber nachdachte, was ich verkehrt gemacht haben könnte – denn von Kai hörte ich nichts. Da er sich vorher täglich gemeldet hatte, war diese Sendepause nun umso unverständlicher und schmerzhafter. Ich hatte doch gar nichts getan – oder doch? Natürlich hatte ich ihm längst geschrieben und gefragt, ob alles in Ordnung sei, darauf aber keine Antwort bekommen. Ich sorgte mich, und er fehlte mir. Vielleicht sogar eine Spur zu doll.

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie viel Raum er in meinen Gedanken einnahm, wie wichtig er mir geworden war. Wie oft wir uns vorher spontan Nachrichten geschickt hatten, wenn einer von uns schnell etwas erzählen wollte oder etwas gesehen hatte, von dem er annahm, der andere fände es genauso lustig oder interessant. Und es war tatsächlich erstaunlich, wie ähnlich wir uns waren. Der gleiche Humor, die gleiche Sicht auf die Dinge, fast identische Interessen. Kai teilte sogar meine Leidenschaft für Yoga und war darin, wie Fotos belegten, viel besser als ich. Ich war selten auf jemanden getroffen, bei dem ich mir so sicher sein konnte, dass er genau verstand, was ich meinte, wenn ich ihm etwas erzählte.

Aber nun schwieg er. Und fehlte mir. Besonders schmerzlich war das Gefühl, nicht einmal zu wissen, ob ich jemals wieder etwas von ihm hören würde. Das Internet hatte es zwar möglich gemacht, dass Kai mir sehr schnell sehr nahegekommen war, aber gleichzeitig konnte er auch von einem Moment auf den anderen wieder aus meinem Leben verschwinden. Dazu gehörte nichts weiter, als mich bei Facebook, Twitter und WhatsApp zu blocken und schon war er mich los.

Ich hatte schon mit so vielen Menschen aus dem Internet Kontakt gehabt – und so viele irgendwann aus den Augen verloren. Warum machte es mir nun so viel aus, dass Kai sich ein paar Tage nicht meldete? Mir schwante Böses. Ich hatte mich doch nicht etwa verliebt? In einen Typen aus dem Netz, den ich noch nie gesehen hatte? Der jünger war als ich, zu weit weg, zu gut aussehend? Und der sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin nicht mehr bei mir meldete?! Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Gefühle mit ihrem Verstand bekämpfen können, also fand ich mich mit der neuen Erkenntnis ab: Allem Anschein nach war ich verliebt.

Und ertappte mich dabei, dass ich viel zu oft Kais Onlinestatus bei WhatsApp checkte, um zu sehen, ob er dort aktiv war, was bedeutet hätte, dass er nur mir nicht schrieb. Doch laut dem dort angegebenen Datum hatte er das letzte Mal mit mir getextet und war seitdem offline geblieben. Auch bei Facebook postete er nichts. Ich war erleichtert.

Am Abend des siebten Tages fand ich endlich eine Mail von ihm in meinem Facebook-Postfach. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Kai Cruz Montag, 14. November 2011 um 22:02

Liebe Vicky,

ich hoffe, es geht dir gut.

Ich möchte dir etwas sagen, was mir wichtig ist, und ich hoffe, diese Mail kommt für dich nicht schräg rüber.

Du bist definitiv eine der interessantesten Frauen, die ich seit langer Zeit getroffen habe, dabei kenne ich dich (noch) nicht mal richtig. Ich habe das Gefühl, dass du es verdient hast, mehr über mich zu erfahren. Warum ich bin, wie ich bin. Ich habe es bisher nur wenigen Leuten erzählt. Also, here we go: Ich war ein ziemlich schwieriges Kind. Meine Oma, die Mutter meines Vaters, hat immer gesagt, ich wäre eine »alte Seele«, weil ich oft sehr ernst war und zu reif für mein Alter. Ich habe extrem sensibel auf alles um mich herum reagiert und jede veränderte Stimmung sofort gespürt. Wenn zum Beispiel meine Eltern Stress miteinander hatten und versuchten, es vor uns Kids zu verbergen, habe ich es trotzdem immer mitbekommen, und es ging mir dann richtig schlecht. Sogar körperlich. Wohl dadurch, dass ich unterbewusst so viel wahrgenommen habe, jede Schwingung, einfach alles, habe ich irgendwann gelernt, daraus abzuleiten, was als Nächstes kommen würde. Oma hat immer so getan, als könnte ich wahrsagen, was natürlich Quatsch war, denn ich sah nichts voraus nach dem Motto »Wir werden einen...

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