ZU DIESEM BUCH
»Jeden Abend verwandeln sich … an die 15 Millionen Deutsche. Sie verlassen die Welt, in der man spricht, scherzt, streitet, liebt, und betreten ihre eigene. Sie werden zu Singles.«
MICHAEL ALLMAIER IN »DIE ZEIT«2
Wenn ich zurückdenke an meine Zeit in der Ukraine, dann waren wir immer zusammen. Um allein zu sein, musste ich eine Tür abschließen oder in den Stadtpark flüchten. Das Leben mit anderen – erst in der Familie, dann in der Partnerschaft – war für mich alltägliche Normalität. Mit 18 hatte ich geheiratet, mit 19 wurde ich Mutter.
Aus meiner heutigen deutschen Perspektive erscheint mir das intensive Zusammenleben vielleicht wie eine Zwangsgemeinschaft. Doch ich habe meine Jugend und das junge Erwachsenensein genossen – immer beachtet zu werden, mich immer mit anderen austauschen zu können. Die Momente des Alleinseins bekamen dann eine besondere Qualität. Sie waren kleine luxuriöse Inseln im Ozean der Kommunikation. Als ich 2006 nach Deutschland kam, war ich plötzlich viel allein. Ich arbeitete allein am Computer in meinem Büro, trieb allein mein Forschungsprojekt voran, fuhr allein im Bus und saß am Abend allein in meiner Küche am Esstisch. Und ging natürlich allein ins Bett.
Ich bemerkte schnell, dass es nicht nur mir so ging. Meine Büronachbarin hatte einen ähnlichen Tagesablauf. Und auch die Doktorandin, mit der ich manchmal zusammen in der Mensa zu Mittag aß, reihte sich nach kurzen Begegnungen wieder ein in das Heer der Alleinlebenden. Allein zu sein scheint mir in den westlichen Industrienationen allmählich zur Regel zu werden. Viele Deutsche wohnen auf 80, 100 oder mehr Quadratmetern allein. Als mir ein Bremer Bekannter das vierte Zimmer seiner Wohnung öffnete, fragte ich nach seinen Mitbewohnern. Er hatte keine, lebte ohne Partnerin auf 141 Quadratmetern zuzüglich ausgebauten Dachbodens und Dachterrasse. Auf meine Frage, ob er das Alleinsein nicht als bedrückend empfinde, zuckte er nur kraftlos mit den Schultern. Er hatte sich diese Frage offenbar nie gestellt. Zusammen zu sein, einen Partner zu haben – vielen erscheint das inzwischen als ein unerreichbarer Luxus, über den man nicht einmal nachdenken will.
Deutsche Freunde erzählen mir, dass sie genau wie ich aus ihrer Kinderzeit und Jugend das ständige Zusammensein kennen. Ihre Großeltern und auch noch ihre Eltern lebten zusammen, jeden Tag, jede Stunde – ohne das infrage zu stellen. Natürlich war auch damals nicht jede Beziehung erfüllend, natürlich gab es Zwangsgemeinschaften und auch Ehepartner, die in der Ehe verzweifelten. Doch in der Generation unserer Großeltern sorgte das mehr oder weniger freiwillige Zusammensein der Eheleute dafür, dass die Einsamkeit und daraus resultierende körperliche und vor allem seelische Krankheiten wie Depressionen oder Burn-out weniger häufig auftraten. Die Menschen waren vermutlich zufriedener – auch wenn sie härter arbeiten mussten, auch wenn sie in ihren Rollen gefangen waren, auch wenn kein eigenes Auto vor der Tür wartete, mit dem sie sich unabhängig und frei fühlen konnten.
Früher schien also vieles besser – und doch wird alles anders. Tatsächlich will heute kaum jemand mehr so leben, wie es die Großeltern getan haben, doch der Gewinn neuer Freiheiten und Möglichkeiten wird durch Verluste erkauft.
In den zurückliegenden Generationen hat sich das Alleinsein mehr und mehr etabliert. Alleinsein ist für viele vor allem jüngere Leute ein Normalzustand geworden, für manche vielleicht auch ein Idealzustand. Kurz gesagt: In den vergangenen Jahren ist es zu einer Lonelification der Gesellschaft gekommen, zu einem grassierenden Alleinsein, einer sich ausbreitenden Einsamkeit. Gerade junge, moderne Frauen in westlichen Gesellschaften leben immer häufiger ohne Nähe und ohne Liebe. Wie konnte das passieren? Hat die Beziehung ihre Attraktivität verloren? Sind die jungen Leute von heute zu »erwachsen«, um ihre Zeit »albernen« Beziehungsspielen zu widmen? Sind junge Leute heute so »abgeklärt«, dass sie gut und gerne auf den Partner verzichten können?
Lonelification mag für manche auf den ersten Blick eine tolle, fast »coole« Sache sein: Viele aktuelle Romane lehren uns, dass die wahren Helden des Alltags allein stehen, allein erfolgreich sind, allein mehr Spaß haben. Die einsamen Wölfe gewinnen, wenn wir von ihnen lesen, meist sofort unsere Sympathie. Auch in den Filmen sind Ehepartner die eher langweiligen Figuren – interessant, spannend und attraktiv werden ausgerechnet die Alleinlebenden gezeichnet.
Wir neigen dazu, das Alleinsein zu verklären, in der Einsamkeit Größe oder gar Überlegenheit zu entdecken. Einsame Entscheider, einsame Denker, einsame, aber umso inspiriertere Dichter. Und wenn wir noch skeptisch sind, wenn wir noch an der kuscheligen Zweisamkeit hängen, dann will uns spätestens die Werbung von den Vorzügen des coolen Singlelebens überzeugen. Allein mit dem neuen Auto über Landstraßen cruisen, dabei souverän mit der einen Hand den Wagen lenken und mit der anderen das Radio bedienen … Solche oder ähnliche Bilder werden uns jeden Tag im Fernsehen oder im Internet gezeigt. In Apples berühmter iPod-Werbung – schwarze Gestalten vor farbigem Grund mit weißen Hörerkabeln – tanzten die Menschen meist allein und in Ekstase. Auch in Anzeigen von Banken, Versicherungen und Stromversorgern ist der besonders erfolgreiche Mensch allein. Man mag an Caspar David Friedrichs Gemälde eines Bergsteigers aus dem Jahr 1818 denken: »Der Wanderer über dem Nebelmeer«. Ein Mann mit Stock und windzerzausten Haaren hat einen Gipfel bestiegen und blickt nun über die wolkenverhangene Berglandschaft. Damals war der Wanderer Symbol deutscher Innerlichkeit, heute könnte er als weltweit gültiges, gesellschaftliches Ideal dienen: der einsame Gipfelstürmer, der Held, der alle anderen hinter sich gelassen hat und an seinem Ziel angekommen ist – dem Alleinsein.
In Michel Houellebecqs erfolgreichem Roman Elementarteilchen3 lebt der Wissenschaftler Michel zusammen mit einem Kanarienvogel. Auf den ersten Blick ist Michel, der nicht zufällig den Vornamen Houellebecqs trägt, der ideale einsame Held – ein herausragender Denker, ein Mann, der mit seiner Wissenschaft die Welt erklären kann. Doch Houellebecq schildert eine andere, ernüchternde Wirklichkeit – das trostlose Leben eines einsamen Mannes mit einem einsamen Vogel. Aus Mitleid lässt Michel seinen Kanarienvogel eines Tages aus dem Käfig, er will ihm die Freiheit geben und aus der Einsamkeit erlösen; es endet damit, dass das Tier aus dem Fenster stürzt, auf einen benachbarten Balkon fliegt und »sich zitternd vor Kälte und Angst an die Betonwand«4 drückt. Der Vogel, der mit seiner Freiheit nichts anfangen kann, der die Einsamkeit verinnerlicht hat, wird bei Houellebecq zum Symbol für die allein lebenden Menschen in der modernen Welt, die vor Kälte und Angst zittern.
Der Roman-Michel kündigt bald seinen Job, der ihn nicht erfüllt hat. Am ersten Abend, den er nach seiner Kündigung allein im Apartment verbringt, entdeckt er den Vogel tot im Käfig. Emotionslos nimmt er das Ableben des Seelenverwandten zur Kenntnis. Er isst zu Abend – »eine Portion Seewolf mit Kerbel der Marke Monoprix Gourmet […] und […] dazu einen mittelmäßigen Valdepenas« –, wirft den Kadaver in den Müllschlucker des Apartmenthauses und legt sich schlafen. Aber in der Nacht findet er keine Ruhe: »Michel richtete sich nachts zitternd auf, es war noch nicht halb zwei. Er schluckte drei Xanax. So endete sein erster Abend in der Freiheit.«5
Houellebecqs Romane – so Ausweitung der Kampfzone, Elementarteilchen und Karte und Gebiet – handeln von den modernen, einsamen Menschen, die ihr Leben lang auf der Suche sind nach Zärtlichkeit, Zuneigung und Sex, die aber die ersehnte Erlösung trotz unzähliger Anläufe nicht finden, die sich längst in der Einsamkeit verfangen haben, die längst mehr auf Tabletten wie Xanax vertrauen als auf ihren eigenen Verstand.
In Elementarteilchen findet Michel dann doch die Frau, die er liebt – aber sie begeht Selbstmord. Auch sein Bruder Bruno, die zweite Hauptfigur des Romans, trifft schließlich auf die Richtige. Sie erkrankt an einer Nekrose, und Bruno kann nicht verhindern, dass sie sich aus dem Fenster stürzt – sie hat nicht an seine Liebe geglaubt. Houellebecq schildert in Elementarteilchen nicht ohne Zynismus die Lage der verwirrten, modernen Menschen und das Alleinsein, das zu Verzweiflung und Depression, zu Medikamentenabhängigkeit und manchmal zum Suizid führt.
Alle Versuche, das Alleinsein zur coolen neuen Existenzform zu erheben, alles Bejubeln des schrulligen Singles, der Quirkyalone – Singles aus Leidenschaft (so der Titel eines Beststellers aus dem Jahr 2005) kann die vielen stillen Tragödien nur oberflächlich verdecken. Tatsächlich bedroht das in der ganzen westlichen Welt grassierende Alleinsein das Glück und auch die Gesundheit vieler Menschen. Die Lonelification, die...