ERSTES KAPITEL
DIE GETEILTE STADT
Der Kaiser als Stadtplaner
Jedes Drama – und die Pariser Kommune ist ein Drama mit Vorbereitung, Wende und Katastrophe – braucht einen Ort. Wir kennen diesen Ort: die Seine-Metropole, die 1871 dieselbe Fläche einnahm wie heute. Den Zeitgenossen war die Stadt fremd und fragwürdig geworden. Zwanzig Jahre schon dauerten die »Großen Arbeiten«, durch die das Straßennetz vor Sklerose, die Bausubstanz vor Überalterung bewahrt werden sollte. Nie zuvor hatte sich die Stadtgestalt in so kurzer Zeit so grundlegend verändert. Für die Bevölkerung brachte das nicht endende Unruhe mit sich: den Verlust des Gewohnten, Ungewissheit für die Zukunft.
Der Staat selbst hatte die Neugestaltung der Hauptstadt zu seiner Aufgabe gemacht. Louis-Napoléon Bonaparte hatte diese Notwendigkeit im Blick, als er im Dezember 1848 zum Präsidenten der Zweiten Republik gewählt wurde. Auch als Kaiser verfolgte er dieses Ziel mit unermüdlichem Eifer. Es gab mehr als einen Grund für solche Bemühungen: das bessere Zusammenwirken der Funktionen einer modernen Großstadt, wie sie Louis-Napoléon im Exil in London kennengelernt hatte; die Erfordernisse der Volksgesundheit, an die man durch die Cholera-Epidemien 1832 und 1849 erinnert worden war; das immer neue Streben nach Verschönerung der Stadt. Vor allem musste der Bevölkerungszunahme in der zweitgrößten Stadt Europas Rechnung getragen werden, eine Folge der Zuwanderung. Von einer Million Einwohner im Jahr 1850 kam mehr als die Hälfte (58 %) aus der Provinz, fast ein Zehntel (6 %) aus dem Ausland, nur jeder dritte (36 %) war in Paris geboren. Jahr für Jahr wanderten zwanzigtausend neue Einwohner zu. Welch bessere Möglichkeit zur Arbeitsbeschaffung ließ sich denken als die Bautätigkeit des Staates und privater Investoren? Alle diese Zielvorstellungen waren bestimmt durch einen umfassenden Entwurf von Repräsentanz und Fortschritt.1 Der politische Wille gab den »Großen Arbeiten« Zusammenhang und langen Atem.
Napoleon III. überreicht Haussmann das Dekret über die Eingemeindung der Pariser Vorstädte
© Ullstein Bild, Berlin (Roger Viollet)
Dem Kaiser stand ein Helfer von außergewöhnlichem Format zur Seite: Baron Georges-Eugène Haussmann (1809–1891), dessen Urgroßvater als Tuchhändler von Köln nach Colmar gezogen war und dessen Vater unter Napoleon I. als Intendant der Grande Armée sein Glück gemacht hatte. Haussmann war nach dem Rechtsstudium in die Verwaltung eingetreten und im Juni 1853 zum Präfekten des Departements Seine ernannt worden, dessen wichtigster Teil Paris war. Mit dem Rathaus (Hôtel de Ville), dem Sitz der Präfektur im Herzen der Stadt, nahm Haussmann gleichsam von Paris Besitz. Der Seine-Präfekt hatte Sitz und Stimme im Ministerrat und im Staatsrat und, wichtiger noch, täglich Zutritt an höchster Stelle. Er verfügte über den Haushalt der Stadt und erschloss die Millionenkredite, ohne die sich nichts rührte. Die nötigen Gesetze, beginnend mit Grundstücksenteignungen zum öffentlichen Nutzen, wurden auf Grund kaiserlicher Erlasse von der Gesetzgebenden Körperschaft beschlossen. Klagen von Abgeordneten aus der Provinz über die hohen Ausgaben für die Hauptstadt verhallten wirkungslos. Auf den Stadtrat brauchte der Präfekt noch weniger Rücksicht zu nehmen. Die Gemeindevertretung wurde unterrichtet, aber nicht befragt. Siebzehn Jahre lang blieb das Vertrauen des Kaisers die wichtigste Grundlage für die Arbeit des Präfekten.
Paris, so wusste Haussmann und so wollte es der Herrscher, nahm eine besondere Stellung ein. »Paris ist keine Kommune, es ist die Hauptstadt des Reichs, das gemeinsame Eigentum des ganzen Landes, die Stadt aller Franzosen«, schrieb Haussmann in einem Bericht an den Kaiser.2 Der Präfekt erläuterte diese Vorstellung, die auf die Herrschaft Napoleons I. zurückging und die 1855 durch ein Gesetz bestätigt worden war, vor dem Stadtrat (Conseil municipal). Ein wichtiger Wirtschaftsstandort sei Paris, gewiss, vor allem aber die Hauptstadt eines mächtigen Kaiserreichs, Aufenthaltsort des Souveräns, Sitz der staatlichen Körperschaften, »universale Heimstatt« der Wissenschaften und Künste. In Paris beginnen die Fernstraßen, die Eisenbahn- und die Telegrafenlinien, von hier gehen alle Gesetze, Verordnungen, Entscheidungen und Ernennungen aus. Das alles hatte politische Konsequenzen. Die Gemeindeordnung von Paris könne nicht auf Wahlen beruhen wie die anderer Gemeinden, führte Haussmann aus. Paris hatte keinen Bürgermeister, die Mitglieder des Stadtrates wurden vom Kaiser ernannt, die Bezirksbürgermeister ebenso. »Hier ist die Ausnahme eine Notwendigkeit. Sie stellt die Regel dar.«3
Den Hauptgrund für diese Sonderstellung sah der Präfekt in der Zusammensetzung der Bevölkerung des Großraums Paris. »Welche Gemeindebindung vereint die zwei Millionen Einwohner, die sich hier zusammendrängen? Kann man bei ihnen überhaupt von einer gemeinsamen Herkunft sprechen? Nein! Die meisten kommen aus anderen Departements, viele aus dem Ausland … Paris ist für sie ein großer Konsummarkt, eine riesige Arbeitsstelle, eine Arena für Ehrgeiz oder auch nur ein Treffpunkt für Vergnügungen. Es ist nicht ihre Heimat.« Der Präfekt meinte damit nicht die fleißigen Wanderarbeiter, die mit ihren Ersparnissen in die Heimat zurückkehrten, sondern »andere, allzu viele, die von einer Werkstatt zur anderen und von einer Bleibe zur anderen wechseln«, mit dem Wohlfahrtsbüro als Familienersatz, »das sind die wahren Nomaden im Schoß der Pariser Gesellschaft«.4 Die Bezeichnung »Nomaden« für einen Bevölkerungsteil, der den Behörden seit Langem Sorgen machte, wurde dem Redner verdacht, als habe er damit die Pariser insgesamt beleidigt. Das ausführliche Plädoyer für den Zentralismus bedeutete auch eine Herausforderung der republikanischen Opposition. Haussmann hätte die Gegenposition zu den späteren Ansprüchen der revolutionären Kommune nicht deutlicher bezeichnen können.
Mit den Vorgaben einer autoritären Politik und den Mitteln einer technokratischen Stadtgestaltung schuf der Präfekt, unterstützt von einem Stab tüchtiger Fachleute, das moderne Paris. Ein neues Straßennetz mit breiten asphaltierten Avenuen und großen Plätzen entstand, mit Parks und Grünanlagen. Die Kopfbahnhöfe, die »neuen Stadttore« (Napoleon III.), waren besser mit der Innenstadt verbunden. Die Gasbeleuchtung machte Paris zur bewunderten »Ville lumière«. Moderne Wasserversorgung und Kanalisation boten bislang unbekannten Komfort für die neuen Mietshäuser, deren Straßenfront strengen Bauvorschriften folgte. Zu den wichtigsten öffentlichen Einrichtungen, den Erfordernissen der Neuzeit angepasst, gehörten der neue Zentralmarkt, der auf allgemeine Bitten seinen alten Platz behielt, und das neue Zentralkrankenhaus, das Hôtel-Dieu, das seinen Standort um zweihundert Meter veränderte, aber in der Nachbarschaft der Kathedrale Notre-Dame bleiben durfte. Beginnend mit dem Neuen Louvre, der Verbindung zwischen dem alten Königssitz und dem Tuilerien-Palast, erstanden neue Bauwerke als Blickpunkte in der sich verändernden Stadtlandschaft, wie Saint-Augustin (8. Arr.) als Begräbniskirche der neuen Dynastie, aber auch Kaufhäuser, Hotels und Theater, die den Bedürfnissen eines internationalen Publikums dienten. Bei der Weltausstellung 1867 konnte sich das Ausland ein Bild von dem neuen Paris und der Macht des Kaiserreichs machen. Nur das Gebäude, das den Stil Napoleon III. am glanzvollsten zur Geltung brachte, die neue Oper, blieb unvollendet zurück und wurde von der nachfolgenden Republik ohne Berührungsscheu angenommen.
Die großen Straßendurchbrüche trafen die ältesten Teile der Stadt mit der Wucht eines Erdbebens. Das Paris Balzacs und Victor Hugos sank in Schutt und Trümmer. »Das war das Aufschlitzen des alten Paris, des Viertels der Aufstände, der Barrikaden, durch eine breite Mittelschneise (Boulevard Sébastopol), die dieses fast undurchdringliche Labyrinth von einem Ende zum anderen durchschnitt«, triumphierte Haussmann in seinen Lebenserinnerungen.5 Von Anfang an standen die Abrissoperationen unter dem Verdacht, dass es dabei in erster Linie um die Sicherung der Staatsmacht gehe. Haussmann widersprach dieser Einschätzung in seinen Erinnerungen etwas gewunden: Der Kaiser habe bei den ersten großen Straßendurchbrüchen nicht den »strategischen Nutzen« im Sinn gehabt. Er sei sich aber über die »sehr glückliche Konsequenz« für die öffentliche Sicherheit im Klaren gewesen.6 Ein Fachmann, Charles Merruau, der Generalsekretär der Präfektur, beurteilte schon die Absichten des Staatspräsidenten Louis-Napoléon Bonaparte anders: »Es mussten vermittels von Avenuen und breiten Straßen Breschen mitten durch die Viertel gelegt werden, die bisher wie Zitadellen des Aufstandes abgeschlossen waren, so die Umgebung des Rathauses, der Faubourg Saint-Antoine, die beiden Seiten der Montagne Sainte-Geneviève.«7 Aus dieser Sicht erschien die Verlängerung der Rue de Rivoli nach Osten als strategische Verbindung zwischen zwei Machtzentren, dem Louvre und dem Rathaus. Die Sanierung der Île de la Cité, der der Kern des mittelalterlichen Paris zum Opfer fiel, sicherte die Polizeipräfektur und das Palais de Justice. Aus Sicherheitsgründen wurde der Sitz des Außenministeriums vom Boulevard des Capucines an den Quai...