Die Wissenschaft setzt sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema Lüge auseinander: Ethik, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Religions- oder Rechtswissenschaft nähern sich dem Phänomen von unterschiedlichen Blickwinkeln an. Für die Philosophie ist die Lüge auch heute noch klassisches Forschungsobjekt: Viele aktuelle moralphilosophische (vgl. Adler 1997, Martin 2009, Carson 2010), aber auch begriffsanalytische Analysen (Mahon 2008, Fallis 2009) beschäftigen sich mit den Phänomenen Lüge und Täuschung. Eine umfassende linguistische Begriffsbestimmung legt Falkenberg (1982) vor. Seine Dissertation „Lügen“ dient vielen linguistischen Analysen der Lüge und auch dieser Arbeit als Diskussionsgrundlage. Falkenbergs handlungstheoretische Begriffsbestimmung geht von einer klassischen Kategorienauffassung mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen aus, postuliert dabei jedoch bestimmte Kriterien, nach denen Falkenberg „Grade der Lügenhaftigkeit“ abstuft. Falkenbergs Begriff des „zentralen Falls der Lüge“ könnte man daher auch als linguistischen „Prototyp der Lüge“ bezeichnen. Eine der wenigen empirischen Untersuchungen zur Lüge stammt tatsächlich aus dem Gebiet der Prototypensemantik: Linda Coleman und Paul Kay (1981) haben eine empirische Untersuchung des englischen Verbs „to lie“ durchgeführt. Auch in der Prototypensemantik geht man zunächst davon aus, dass jeder sprachliche Ausdruck eine endliche Liste von Eigenschaften hat, das Zutreffen aller Eigenschaften auf dieser Liste sagt jedoch nicht unbedingt etwas über den Grad der Kategorienzugehörigkeit aus (vgl. Harras/Haß/Strauß 1991:58). Coleman und Kays Untersuchung und Falkenbergs Lügenbegriff werden vor allem im zweiten Kapitel dieser Arbeit, in dem wir uns dem Prototypen der Lüge annähern wollen, vorgestellt. Eine detaillierte Typisierung sprachlicher Täuschungen nimmt Giese (1992) vor, bei der sie sich in vielen Punkten auf Falkenbergs theoretische Vorarbeit stützt. Für die Bestimmung der Lüge übernimmt sie Falkenbergs Definition und bestimmt Lügen wie Falkenberg als Behauptungen, an deren Wahrheit der Sprecher nicht glaubt. Sie räumt jedoch ein, dass der Begriff „Lügen“ im alltäglichen Sprachgebrauch „abweichend“ von Falkenbergs Definition verwendet werde (vgl. Giese 1992:91). So werde häufig bei eindeutigen, Falkenbergs „prototypischer“ Definition entsprechenden Lügen der Begriff „Lüge“ vermieden. Stattdessen werden im alltäglichen Sprachgebrauch häufig Ersatzausdrücke wie „schwindeln, kohlen, flunkern“ (Giese 1992:92) etc. gewählt. Zudem verwenden Sprecher den Begriff „Lüge“ nicht nur für sprachliche Handlungen, sondern auch für Einstellungen oder Konzepte, wie etwa die oft umgangssprachlich so genannten „Selbst-“ oder „Lebenslügen“. Diese Verwendung wie auch die Vermeidung des Begriffs „Lüge“ im Sprachgebrauch führt Giese darauf zurück, dass „lügen“ nicht nur ein Sprechaktverb, sondern zugleich ein moralischer Begriff ist. Giese orientiert sich bei ihrer Untersuchung schematisch an den verschiedenen Aspekten des Sprechakts, wie er von Austin (1979) und Searle (1971, 1982) beschrieben ist. So liefern etwa verschiedene Teilakte des Sprechakts die Grundlage für verschiedene Typen der Täuschung, die Giese detailliert auflistet, so nennt sie z.B. für den lokutionären Teilakt:
(i) Die Stimme verstellen (am Telefon)
(ii) Künstlich radebrechen, um für einen Ausländer gehalten zu werden […]
(iii) Die Wahl eines bestimmten Jargons oder Soziolekts, der nicht der eigene ist, um für ein Mitglied der entsprechenden sozialen Gruppe gehalten zu werden.
(Giese 1992: 111)
Letztlich bestimmt Giese sprachliche Täuschungen bei ihrer sprechakttheoretischen Analyse als „Perlokutionen sprachlicher Handlungen“(Giese 1992:75), da mit dem Begriff der sprachlichen Täuschung die intendierte Wirkung einer sprachlichen Handlung beschrieben werde. Viele philosophische Analysen versuchen neben einem moralphilosophischen Ansatz eine begriffsanalytische Definition der Lüge vorzunehmen (vgl. Mahon 2008, Fallis 2010 u.a.). Eine vielzitierte und für uns bedeutende sprachphilosophische Arbeit ist der Aufsatz „The intent to deceive“ von Chisholm und Feehan (1977), die als Erste eine Begriffsbestimmung der Lüge aufstellen, die durch eine Definition der Behauptung ergänzt wird. Chisholm und Feehan betrachten die Lüge als Unterform der Täuschung und versuchen, sie von anderen Formen der Täuschung abzugrenzen. Sie bestimmen die Lüge als Behauptung, wobei der Behauptende entweder glaubt, dass seine Proposition falsch ist oder glaubt, dass sie nicht wahr ist (vgl. Chisholm/Feehan 1977:152). Als notwendige Bedingungen für die Lüge nehmen sie also erstens die Täuschungsabsicht des Sprechers an und gehen zweitens davon aus, dass Lügen an Behauptungen („assertions“, vgl. Chisholm/Feehan 1977:149f.) gebunden sind. In ihrer Dissertation „Der Wert der Lüge“ (2002) geht es der Moralphilosophin Dietz zwar in erster Linie um eine Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Moral, doch versucht sie zunächst, den Sprechakt des Lügens zu bestimmen. Dietz charakterisiert die Lüge als „missbrauchte Behauptung“, d.h. sie bestimmt die Lüge, aufbauend auf Austin, nicht als gescheiterte „Scheinbehauptung“, sondern als „unredliche Behauptung“ (Dietz 2002:57), die eine Lüge impliziert. Sprechakttheoretisch charakterisiert sie die Lüge letztlich als „missbrauchte Illokution oder getarnte Perlokution“ (ebd.): Die Lüge missbrauche illokutive Wirkungen durch gezielte Fehlanwendung sprachlicher Konventionen, um damit verdeckte Handlungszwecke zu erreichen (Dietz 2002:62). Einige philosophische Begriffsbestimmungen der Lüge (Carson 2010, Fallis 2010, Sorensen 2007) verzichten auf sonst übliche Bedingungen wie die Täuschungsabsicht oder die Behauptungsbedingung, und bringen dafür neue Bedingungen in ihre Lügendefinition ein. So verzichtet Carson (2010) auf die Behauptungsbedingung, und nimmt stattdessen die zusätzliche Bedingung an, dass der Sprecher bei einer Lüge für die Wahrheit seiner Äußerung garantiere. Letztlich unterscheiden sich die Ansätze von Carson (2010), Fallis (2010) und Sorensen (2007) vor allem durch ihre Verleugnung der Täuschungsabsicht als notwendiger Bedingung von traditionellen Begriffsbestimmungen der Lüge. Zwar werden in den meisten Analysen falsche Implikaturen nicht als Lügen bestimmt (vgl. Falkenberg 1982:138, Fallis 2010:2, Mahon 2008:1.2., Adler 1997:446), in einer Analyse des Lügens und falschen Implizierens stellt Meibauer (2005) jedoch einen Lügenbegriff auf, der auch nicht-wörtliche Lügen einschließt. Er übernimmt weitgehend Falkenbergs Lügendefinition, erweitert sie jedoch auf falsche konversationelle Implikaturen, Ironie und Tautologie. In einer späteren Analyse der Lüge (Meibauer 2011) stützt sich Meibauer weiterhin auf seine erweiterte Lügendefinition, doch seine Zielsetzung verschiebt sich: Er versucht nun, mittels des Phänomens der Lüge einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Bedeutungsminimalismus und Kontextualismus zu liefern, und hebt die Lüge als geeignetes Forschungsobjekt für Fragen zur Semantik-Pragmatik-Schnittstelle hervor.
In seinen „Vorlesungen über Ethik“ (vgl. Menzer 1925) beschreibt Immanuel Kant den Fall von jemandem, der absichtlich vor einer anderen Person seine Koffer packt, damit diese fälschlicherweise annehme, er verreise. Kant selbst schlussfolgert: „… dann habe ich ihn nicht belogen, denn ich habe nicht deklariert, meine Gesinnung zu äußern“ (Menzer 1925:286). Zur Abgrenzung von Lüge und Täuschung stützen sich Chisholm/Feehan auf dieses Beispiel und werten das täuschende Kofferpacken, weil es nonverbal geschieht, nicht als Lüge. Weiter argumentieren Chisholm und Feehan (1977:149), dass, um zu „deklarieren, seine Gesinnung zu äußern“, nur assertive Sprechakte in Frage kämen. Die meisten Analysen (Chisholm/Feehan 1977, Vincent/Castelfranchi 1981, Adler 1997, Meibauer 2005,2011 u.a.) heben als wesentliche Unterschiede zwischen Lüge und Täuschung diese beiden hervor:
(1) Unterscheidungsmerkmale zwischen Lüge und Täuschung
(a) Die Lüge ist im Gegensatz zur Täuschung an sprachliche Handlungen gebunden.
(b) Die Lüge ist im Gegensatz zur verbalen Täuschung an Behauptungen gebunden.
Die Behauptungsbedingung (b) und mögliche Definitionen der Behauptung werden wir uns im zweiten Kapitel genauer ansehen. Adler (1997) wendet richtig ein, dass Kants Beispiel nicht nur den Unterschied zwischen nonverbaler Täuschung und Lüge, sondern auch den zwischen nonverbaler und verbaler Täuschung verdeutliche. Indem er mutmaßt, Kant wolle mit diesem Beispiel auf den Gedanken verweisen, dass jedes Individuum als autonom denkendes Wesen selbst die Verantwortung für die Rückschlüsse, die es zieht, trage (vgl. Adler 1997:444), verweist Adler nicht nur auf Kants „kategorischen Imperativ“, sondern, aus linguistischer Sicht, auch auf Grice‘ Begriff der „Sprecherbedeutung“ (vgl. Grice 1979b), die Grice im sogenannten „Grice’schen Grundmodell“ (vgl. Meggle 1981:17) zusammenfasst.
(2) Das „Grice’sche Grundmodell“...