Einleitung Ich sehe immer den Menschen vor mir
Es würde aber schon genügen, wenn es nur einen Menschen gäbe, der wert ist, »Mensch« zu heißen, um an den Menschen, an die Menschheit zu glauben.
Julius Spier, jüdischer Emigrant in den Niederlanden, 1941 zu Etty Hillesum, Jüdin, die zwei Jahre später in Auschwitz ermordet wurde.
Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende, als es im November 1944 in Warschau in einem Gebäude, in dem die Wehrmacht gerade ihre Kommandantur einrichtete, zu einer außergewöhnlichen Begegnung kam. Der deutsche Hauptmann Wilm Hosenfeld entdeckte in dem Haus den polnischen Pianisten Władysław Szpilman, der sich unter dem Dach versteckt hatte und kurz vor dem Verhungern war. Hosenfeld, im Zivilberuf Pädagoge, lieferte den jüdischen Musiker nicht aus. Vielmehr versorgte er ihn über mehrere Wochen hin mit Lebensmitteln und sicherte damit sein Überleben.
In kaum einer anderen europäischen Metropole haben die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so gewütet wie in Warschau. Von der einst mondänen, kulturell blühenden Metropole war fast nur noch ein schwelender Trümmerhaufen geblieben. In einem Inferno von Massenmord und Zerstörung hatte Hitler die polnische Hauptstadt im Herbst dem Erdboden gleichmachen lassen. Die deutschen Besatzer, Zehntausende von Soldaten und Sicherheitskräften, hatten in einem gnadenlosen Vernichtungsfeldzug die Führungsschicht des Landes weitgehend liquidiert und Völkermord an den Juden verübt.
Und doch gab es Ausnahmen unter den Deutschen – Menschen wie Wilm Hosenfeld, dessen Lebensgeschichte bislang noch kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist. Allein eine kurze Szene in Roman Polańskis preisgekröntem Film »Der Pianist« über das Leben Szpilmans, der damit weltberühmt wurde, machte erstmals auch auf die mutige Rettungstat des deutschen Offiziers aufmerksam, wenn auch ohne Namensnennung.
Hosenfeld (1895–1952) bewahrte nicht nur Władysław Szpilman (1911–2000), sondern zahlreiche andere polnische Bürger, darunter weitere Juden, vor dem sicheren Tod. Vor dem Hintergrund von Mord und Totschlag wirkt der Offizier heute wie eine Lichtgestalt in einer finsteren Zeit. Wahrscheinlich waren es über 60 Menschen, die dank seiner Hilfe überleben konnten. Er war Retter und in gewisser Weise Opfer zugleich, denn er selbst konnte nicht gerettet werden, sondern starb in sowjetischer Gefangenschaft, ohne seine Familie wiedergesehen zu haben.
Die vorliegende Biographie »Wilm Hosenfeld – ›Ich sehe immer den Menschen vor mir‹« rückt die außergewöhnliche Lebensgeschichte dieses Mannes in den Blickpunkt, eine Geschichte von bewundernswertem Mut, von Widersprüchen, grausamen Zufällen und am Ende von tiefer Tragik. Es wird gezeigt, dass und wie es auch unter den barbarischen Verhältnissen möglich war, das christliche und humane Gewissen zu bewahren und dafür einzutreten. Wilm Hosenfeld, der erst spät für sein mutiges Tun Anerkennung fand – die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrt ihn seit 2008 als »Gerechten unter den Völkern« –, gehört zu diesen Ausnahmen. Sein »Rettungswiderstand« leuchtet deshalb umso klarer als ein Vorbild für Gegenwart und Zukunft.
Der in der Rhön geborene Lehrer und Offizier verbrachte die Kriegsjahre ausschließlich in Polen, wo er zunächst ein Lager für polnische Kriegsgefangene aufbaute und anschließend eine Sport- und Berufsschule für Wehrmachtsangehörige leitete. Diese sechs Jahre wurden zum Wendepunkt seines Lebens, in denen er sich von einem begeisterten Anhänger des Feldherrn Hitler schon bald zu einem der schärfsten und klarsichtigsten Kritiker des NS-Regimes entwickelte. Von Anfang an zeigte sich Hosenfeld unter Missachtung aller dienstlichen Vorschriften und persönlichen Risiken den Polen gegenüber als hilfsbereit, großzügig und entschlussfreudig, wenn es galt, Menschen vor dem Terror seiner Landsleute zu bewahren.
Es gibt wohl kaum einen anderen Wehrmachtsoffizier, der die Verbrechen der Nazis im Zweiten Weltkrieg so umfassend dokumentiert hat wie Hosenfeld. Der Pädagoge führte Tagebuch und schrieb über 800 Briefe nach Thalau in der Rhön, wo er selber an der Dorfschule unterrichtet hatte. Er wurde damit zum Chronisten des mörderischen Alltags im besetzten Warschau, des Aufstands im jüdischen Getto 1943 und des Warschauer Aufstands im Jahre 1944. Die meisten Briefe gingen an seine Frau Annemarie, geborene Krummacher (1898–1971), eine Pazifistin, die in einer Künstlerfamilie in Worpswede bei Bremen aufgewachsen war und während des Krieges auf sich allein gestellt die gemeinsamen fünf Kinder großzog.
Wesentliche Grundlage des vorliegenden Buches ist dieser Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau, ferner das einzigartige Warschauer Tagebuch. Seine Briefe, Notizen und Tagebücher erschienen 2004 als Dokumentation »Wilm Hosenfeld – ›Ich versuche jeden zu retten‹ – Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern«. Das umfangreiche Werk von fast 1200 Seiten – der Anhang allein umfasst über 200 Seiten –, das der Historiker Thomas Vogel im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam herausgegeben hat, schuf die erste wissenschaftlich fundierte Grundlage für eine Beschäftigung mit Wilm Hosenfeld.
Außerdem standen dem Autor neben einem Interview mit der Witwe des geretteten Pianisten, Halina Szpilman, den Informationen seines Sohnes Andrzej Szpilman und Archivmaterial der gesamte Briefwechsel sowie Unterlagen und Dokumente aus dem Archiv der Familie Hosenfeld zur Verfügung. Zahlreiche Gespräche und Interviews, u.a. mit Kindern des Ehepaares Hosenfeld, ergänzen das Material. Die Briefe von Annemarie Hosenfeld werden erstmals ausgewertet und veröffentlicht. Auch sie besaß ein ausgezeichnetes Talent zum Schreiben. Sie sagte während seiner Kriegsgefangenschaft über ihren Mann: Wenn der Vater nach Hause kommt, wird er Schriftsteller.
Im ersten Teil des Buches geht es um die Prägungen, die Wilm Hosenfeld im katholischen Elternhaus, durch die Wandervogel-Bewegung und seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erfahren hat. Er war Patriot und nach dem Krieg Pädagoge mit Leib und Seele, wie seine Aufsätze und Berichte aus der Zeit der Wandervogel-Bewegung, die Wilm und Annemarie Krummacher 1918 zusammengeführt hatte, zeigen.
Teil II des Buches beschreibt Wilm Hosenfelds kritische Gefolgschaft dem Naziregime gegenüber. Der Offizier war ein Kind seiner Zeit. Den Machtantritt Hitlers und auch den Kriegsbeginn 1939 hatte er zunächst begrüßt, weil er sich davon eine Wiedergutmachung für die Niederlage von 1918 und eine neue Ordnung in Europa versprach. Mehr als einmal erlag Hosenfeld den Propaganda-Tiraden von Hitler und Goebbels. Zwei Zitate verdeutlichen, wie sich seine Wandlung vollzog. Nach den Erfolgen der Wehrmacht beim Westfeldzug im Frühsommer 1940 schrieb er noch seiner Frau: Hitler ist ein großes Genie. Er soll die Operationen selbst leiten und die ganzen strategischen Pläne entwerfen, das ist fast nicht zu glauben. Ende Dezember 1943 notierte er in seinem Tagebuch: Als Schande muss jeder Mensch es heute empfinden, dass er auch nur im Geringsten dieses System bejahte.
Obwohl Mitglied der SA, des NS-Lehrerbundes und seit 1935 auch der NSDAP, stellte Hosenfeld sich mehrfach quer zur Parteilinie und geriet beruflich zeitweise ins Abseits. Sein Gewissen und seine Vorstellung vom Zusammenleben der Menschen wollte er sich nicht verbiegen lassen. Das Vorgehen der deutschen Besatzungsmacht gegen Polen öffnete ihm schließlich die Augen und führte zum völligen Bruch mit dem NS-Regime. Sein moralischer und ethischer Kompass blieb während des Krieges intakt.
Die polnische Hauptstadt ist der eigentliche Schauplatz der Lebensgeschichte von Wilm Hosenfeld. Während des Krieges hat Hosenfeld seine Familie in Thalau in der hessischen Rhön mehrfach besucht. »Heimaturlaub« hieß das Zauberwort, das ihn, seine Frau und die Kinder elektrisierte, sobald die Vorgesetzten das Gesuch unterschrieben hatten. Ansonsten blieb das Schreiben von Briefen die einzige Verbindung zwischen ihnen. Die lange Trennung von seiner Frau und den Kindern bestimmte den Briefwechsel, der zwar kein Ersatz für Nähe und Zusammensein war, aber doch ein festes Band zwischen ihnen schuf und dazu beitrug, auch Krisen in ihrer Beziehung zu überwinden.
Der dritte Teil stellt Hosenfelds Gefühl von Mitschuld wie seinen Rettungswiderstand in den Mittelpunkt. Das Schreiben, oftmals täglich, half ihm, die eigenen Maßstäbe zu überprüfen und sich seiner Rolle in der von deutschen Truppen besetzten und von deutschen Bürokraten verwalteten Hauptstadt Warschau bewusst zu werden. Er hielt engen Kontakt zu Polen, deren Patriotismus er bewunderte, und versuchte, die polnische Sprache zu erlernen. Dabei ermöglichte ihm vor allem sein katholischer Glaube eine besondere Nähe zur Bevölkerung, obwohl jedes »Fraternisieren« streng verboten war. Auf bewegende Weise haben die von ihm geretteten und beschützten Menschen sich bei ihm bedankt. Dazu gibt es Fotos und Zeugnisse, die hier erstmals veröffentlicht werden.
Im vierten Teil des Buches wird die sieben Jahre dauernde Kriegsgefangenschaft von Hosenfeld dokumentiert sowie die vergeblichen Versuche, seine Entlassung zu erreichen, um sein von Schlaganfällen bedrohtes Leben zu...