Armin Nassehi und Peter Felixberger
Editorial
Das Kursbuch wird 50 Jahre alt. Gegründet im Jahre 1965 von Hans Magnus Enzensberger, weitergeführt von Nachfolgern in wechselnden Verlagen und Formaten, sind bis zum Frühjahr dieses Jahres 181 Ausgaben erschienen. Dass diese kontinuierliche Zählung womöglich mehr Kontinuität suggeriert, als es die diskontinuierliche Geschichte des Kursbuchs in seinen Textsorten, Denkungsarten und Autoren, aber eben auch im Wandel der Zeitläufte verbürgt, kann nur einem Beobachter aufstoßen, der Kontinuität mit Stillstand oder Stabilität gleichsetzt. Continere heißt in erster Linie enthalten – etwas zu kontinuieren bedeutet also, dass das Neue das Alte und Überwundene enthält, sonst könnte es gar nicht neu sein, sonst könnte es sich nicht verändern. Das hat sogar in den theologischen Sprachgebrauch Eingang gefunden, da die Erfahrung der sich verändernden Welt irgendwie dem Gedanken der Schöpfung am Anfang zuwiderlief, so dass man auf creatio continua umgestellt hat, was Gott in die merkwürdige Lage versetzt, zwar allmächtig zu sein, sich aber durch seine eigene Schöpfung eingeschränkt zu sehen.
Die Kontinuität von 181 Kursbüchern besteht also vor allem darin, dass es sie gibt und dass sie irgendwie immer in sich selbst enthalten sind – und darin eben unterschieden werden können. Ihre Kontinuität ist ihre Diskontinuität. Und nur wo man wenigstens Kontinuitätszumutungen macht, können Veränderungen sichtbar werden, die stärker von dem Vorherigen abhängig sind, als es Novitäts- und Originalitätsbehauptungen oftmals hergeben.
Wir könnten nun dem großen Jubiläum entsprechend mit wirklich Pathetischem fortfahren, was uns ja schon in die Nähe des Schöpfers selbst gebracht hat. Wir könnten das Kursbuch rühmen, womöglich die früheren Herausgeber, in der Hoffnung, selbst von späteren einmal gerühmt zu werden. Wir könnten darauf hinweisen, wie sehr das Kursbuch in die Debatten der Bundesrepublik eingelassen war. Wir könnten auch historisierend analysieren, wie sich die Zeiten dann doch verändert haben – nicht nur der Stil der Kritik, sondern auch ihr Gegenstand. Wir könnten also hinter das Kursbuch zurücktreten und es selbst zum Gegenstand machen. Oder aber, und dafür haben wir uns entschieden, wir tun das, was wir selbst seit 2012 mit dem Kursbuch tun: weiterschreiben. Wir schreiben das Kursbuch weiter, und zwar in dieser Ausgabe mit zwei unterschiedlichen Textsorten. Zum einen werden frühere Kursbuch-Texte wirklich weitergeschrieben, zum anderen wird in längeren Essays erkundet, wie das, als was das Kursbuch stets wahrgenommen wird, weitergeschrieben werden kann: Kritik, Revolte, Protest.
Wir haben Autorinnen und Autoren des Kursbuchs gebeten, eigene frühere Texte buchstäblich weiterzuschreiben. Dabei haben wir sie mit einem Ausschnitt eines Textes konfrontiert, an den sie frei anschließen sollten. Der älteste dieser Texte stammt von Bahman Nirumand aus dem Kursbuch 13 aus dem Jahre 1968, der jüngste von Barbara Sichtermann aus dem Kursbuch 145 aus dem Jahre 2001. Die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität ist diesem Weiterschreiben ja gewissermaßen als zweite Natur eingeschrieben. Die acht Beiträge arbeiten sich regelrecht daran ab, wie sich die eigenen Perspektiven verändern, wie Befürchtungen sich bewahrheitet haben, wie sich Fragen heute ganz anders stellen, wie begrenzt mancher frühere Blick war und wie sehr das auch bedeutet, dass uns die Begrenzungen unseres heutigen Blicks ähnlich unsichtbar bleiben wie diejenigen von damals.
Wir greifen zwei Beispiele heraus: So beeindruckt schon Krisztina Koenens Beitrag aus dem Kursbuch 102 von 1990 damit, wie sie die damals geradezu revolutionären Erwartungen an eine Demokratisierung Europas nach 1990 bezweifelt hat, um sich nun, weiterschreibend, am Beispiel Ungarns darin bestätigt zu sehen. Sie weist dabei auf die geradezu paradoxe Folge hin, dass mit der Integration gescheiterter Demokratien in die »westliche« Hemisphäre deren demokratische Selbstkritik geradezu unmöglich wird, weil man dann das eigene wieder zum anderen machen müsste.
Besonders beeindruckend und vielleicht auch repräsentativ für eine ganze Generationserfahrung ist die Relektüre von Bahman Nirumand. Seine Rolle bei der Öffnung des sehr engen, auf sich selbst bezogenen Blicks der Bundesrepublik für deren Verflechtung mit der sogenannten »Dritten Welt« kann nicht unterschätzt werden. Jenseits von Vietnam hat er am Beispiel des Irans bereits früh auf Verflechtungen hingewiesen, die erst sehr viel später als Globalisierungserfahrung geradezu universal werden sollten. Beeindruckend ist, wie er zeigt, wie sehr diese Aufklärungsarbeit damals von ganz eigenen Scheuklappen begleitet war – etwa in der Einschätzung der chinesischen Kulturrevolution, die man damals nicht als das große Verbrechen wahrnehmen wollte, das sie in erster Linie war. Und dennoch haben diese Scheuklappen keineswegs jenen Lernprozess behindert, den Nirumand beschreibt: dass Deutschland und Europa weltoffener und pluralistischer geworden sind – was man vom Iran wohl kaum behaupten kann, der vom autoritären Modernisierungsregen des Kalten Krieges in die Traufe der Islamisierung kam. Wenn diese biografische Bemerkung erlaubt ist: Einer der Herausgeber (Armin Nassehi) ist Bahman Nirumand, der als Student mit seiner schwäbischen Mutter und seinem persischen Vater befreundet war, Anfang der 1960er Jahre schon einmal begegnet, als Kleinkind. Auch die Art dieser Begegnung hat sich in 50 Jahren verändert.
Hannelore Schlaffer, Barbara Sichtermann, Cora Stephan, Stefan Welzk, Konrad Paul Liessmann und Peter Schneider, die sechs weiteren Leser und Kommentatoren ihrer eigenen Texte, machen allesamt ganz ähnlich darauf aufmerksam, wie sich die Perspektiven verschoben haben und wie sehr Kritik an die eigenen Kontexte gebunden ist, ohne ihren Stachel über die Zeit zu verlieren, gerade weil sie sich an manchen Stellen selbst korrigieren muss.
Vielleicht ist Selbstkorrektur ein gutes Stichwort für die fünf Beiträge, die sich der Frage nach den Möglichkeiten von Kritik widmen. Denn in all diesen Beiträgen geht es um exakt dies: Welche Potenziale haben Gesellschaften, sich selbst zu korrigieren, weiterzuentwickeln, überhaupt Korrekturbedarf auszumachen. Karen van den Berg exerziert dies an einem geradezu klassischen Thema durch, nämlich am Beispiel der Kunst, die der bürgerlichen Gesellschaft als ihr ganz eigenes Anderes stets den Spiegel vorgehalten hat. Van den Berg macht hier eine deutliche Kontinuität aus, die sich heute freilich neue Arrangements für die künstlerische Bearbeitung von Asymmetrien zwischen Kunst und Establishment sucht. Die beiden Beiträge von Rahel Jaeggi und Armin Nassehi beginnen theoretisch und methodisch an ganz unterschiedlichen Stellen und kommen auch zum Teil zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Möglichkeitsbedingungen von Kritik – aber beide machen besonders stark deutlich, dass Kritik immer weniger mit dem Überblick des Kommandohügels operieren kann. Kritik muss immer stärker mit den konkreten empirischen Ressourcen rechnen, die zur Verfügung stehen, sie muss Praktikabilität nachweisen, um nicht ins Leere zu laufen. Daran schließt Mark Greifs lapidare Bemerkung an, dass wir uns Kritik nicht mehr wie in Kants Diktum vom Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit vorstellen dürfen: Erwachsen zu werden reiche nicht, meint der Mitbegründer und Mitherausgeber des amerikanischen Literaturmagazins n+1.
Der historische Beitrag von Georg von Wallwitz bindet unsere beiden Textsorten zusammen, weil er auch eine Relektüre darstellt. Von Wallwitz rekonstruiert die revolutionäre Bedeutung von Kommunarden – gemeint sind einerseits diejenigen aus dem Paris des Jahres 1871, andererseits die Kommunarden der 1968er Jahre, die sich semantisch explizit auf die Pariser Kommune bezogen haben. Die zweite, so von Wallwitz, war eine bürgerliche Bewegung, die erste, so seine Bemerkung, meinte es wirklich ernst. So unterschiedlich beide waren, so sehr hat sich beider Kritik in die gesellschaftliche Entwicklung eingeschrieben. 1871 und 1968, so schreibt von Wallwitz, haben die Gesellschaft toleranter, durchlässiger und kritikfähiger gemacht – nicht ohne andeutend hinzuzufügen, dass diese gute Nachricht auf eine neue Belle Èpoque hinweist, die zwar genossen werden will, uns aber auch zu Schlafwandlern machen kann.
Ganz besonders möchten wir auf unsere Bildstrecke hinweisen. Es ist uns gelungen, die drei Grandes Dames der politischen Fotografie in Deutschland zu gewinnen, die uns ihre Eindrücke von Kontinuität und Diskontinuität und von Protest, Revolte und Kritik zur Verfügung gestellt haben. Barbara Klemm, Herlinde Koelbl und Regina Schmeken bieten hier Einblicke in historische Situationen – mit und ohne historische Persönlichkeiten, aber alle von historischer Bedeutsamkeit und Unterscheidbarkeit.
Wir haben schon angekündigt, dass wir auf Pathos möglichst vollständig verzichten wollen, sondern das Kursbuch einfach weiterschreiben wollten. Eine Spur Pathos haben wir uns dann doch erlaubt, indem wir die Cover aller bisherigen Kursbücher zur Abbildung bringen, was wirklich ein beeindruckendes Bild ergibt. Noch schöner, weil ein wenig paradox, wäre es gewesen, wenn auch das Cover dieses vorliegenden Kursbuchs schon dabei...