KAPITEL 1
Der Buddha
Kabukichō, Tōkiō
„Würden Sie bitte herunterkommen? Es ist dringend!“
Der höfliche Rezeptionist meines Hotels am anderen Ende der Leitung klang recht nervös. Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete er nur kurz und knapp, dass meine Anwesenheit in der Lobby des Hotels unbedingt erforderlich sei.
„Da sind zwei Herren für Sie. Hier unten … in der Lobby.“
„Welche Herren?“, fragte ich.
„Ich denke, es sind sehr wichtige Herren, Detig san1. Die Herren erwarten Sie.“
Ich schaute auf meine Uhr. Sie waren überpünktlich an diesem Abend. Genug Zeit für eine chauffierte Fahrt vom Hotel zu Takahiko Inoue, einem der damals einflussreichsten Yakuza-Bosse in Kabukichō2, dem stattlichen und berüchtigten Rotlichtviertel von Tōkiō. Mitten in der Stadt gelegen, umrahmt von edlen Einkaufsstraßen und der größten und lebendigsten Bahnstation Tōkiōs, der Shinjuku3 Station, dem rund um die Uhr pulsierenden Herzen dieses Stadtteils.
Viele Klischees trafen hier in Kabukichō aufeinander. Das „alte“ und traditionelle Japan, welches mit seinen shintōistischen und buddhistischen Tempeln und den beschaulichen Gassen lockte, konnte man in diesem Teil Tōkiōs nur entdecken, wenn man sich auskannte. Nicht-japanische Touristen hätte man hier vergebens gesucht. Diese fand man eher in Stadtteilen wie Akihabara4, der weltbekannten „Elektronik-Meile“, oder an der berühmten Kreuzung von Shibuya.
Kabukichō war anders als alle Rotlichtviertel der westlichen Welt. Auch laut, hektisch, bunt und schrill, aber durchaus sehr japanisch. Animiermädchen, wie lebendig gewordene Manga-Figuren und Callboys aller Art, die ich auf den ersten Blick mit ihren langen, sorgfältig toupierten blonden Haaren und geschminkten Gesichtern nur schwer vom anderen Geschlecht unterscheiden konnte, drehten hier ab den ersten Nachtstunden ihre Runden. Aber nicht nur sie füllten die Straßen, sobald die Sonne unterging. Da gab es gestandene Geschäftsleute auf Erkundungstour mit ihren Geschäftspartnern, junge Männer auf der Suche nach einfachem und schnellem Sex, junge gestylte Frauen, die den Duft eines unbezahlbar teuren, europäischen Parfums verbreiteten, einige wenige Touristen aus allen Teilen Japans und dazwischen ich, als gaikokujin5 stellvertretend für den Rest der Welt.
„Ich komme gleich. Bitte sagen Sie den Herren Bescheid.“
Ich legte auf, packte Diktiergerät und Kamera ein und machte mich flink auf den Weg nach unten. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und sanfte Klaviermusik kam mir aus der menschenleeren Lobby entgegen. Ich bemerkte sofort die beiden Gestalten, die sich von einer makellos weißen Wand lösten und entschieden auf mich zu marschierten. Kam es mir damals nur so vor, oder hatte der Concierge des Hotels tatsächlich die Luft angehalten?
Ich musterte den jüngeren der beiden, einen etwa 25 Jahre alten Mann mit einem recht grobschlächtigen Gesicht. Ich zählte die Narben darauf und schätzte seine krumme Nase auf mindestens drei schlecht verheilte Brüche. Sein schwarzer Anzug saß erstaunlich perfekt auf dem drahtigen Körper, und als er sich sehr tief vor mir verbeugte, wich ich vor Überraschung etwas zurück. Er stelle sich als Toshimoro Makino vor und deutete höflich auf die Drehtür. An seiner Hand erkannte ich nur noch vier vollständige Finger.
Toshimoro Makino, der Leibwächter von Godfather Takahiko Inoue
„Inoue kumichō6 erwartet Sie, Detig san“, brummte Makino zackig.
Sein Begleiter verbeugte sich ebenfalls sehr tief, als ich an ihnen vorbei die Lobby verließ. Wir traten zu dritt hinaus in die schwitzende Abendschwüle Tōkiōs.
Trotz der zahlreichen Erfahrungen, die ich in diesem Land schon machen konnte, war es in diesem Moment doch sehr befremdlich für mich, zum ersten Mal zu erleben, wie ungezwungen und unbeeindruckt sich diese Männer in ihrer Umwelt bewegten. Ich erkannte weder Angst noch verstohlene Blicke, wie ich es von Kriminellen überall auf der Welt erwartet hätte. Diese Männer traten überraschend selbstbewusst auf die Straße und hielten höflich verneigend die Tür der schwarzen Luxuslimousine eines süddeutschen Edelkarossenherstellers für den Gast ihres Bosses auf.
Nach all meinen Erlebnissen als Investigativ-Journalist hätte ich doch eigentlich abgestumpft sein sollen. Es war immer wieder aufregend, sobald man sich in Bereiche begab, wo einem der Verstand eigentlich sagte, dass es ab diesem Zeitpunkt gefährlich werden würde. Ich war während des Jugoslawienkriegs in Bosnien als Kameramann unterwegs gewesen, ich arbeitete in Bagdad und in den verstrahlten Zonen von Fukushima und Tschernobyl, und dennoch versuchte ich mir immer ins Gedächtnis zu rufen, was wohl hätte geschehen können, wenn ich das anstehende Risiko nicht genau abgewogen hätte. Manche Kollegen hatten ihre Unachtsamkeit teuer mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben bezahlen müssen. Auch schusssichere Westen gaben nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Große Vorsicht, gesundes Misstrauen und Besonnenheit waren in unserem journalistischen Beruf immer schon ein Muss.
Nachdem die Wagentür satt ins Schloss gefallen war, musste ich unwillkürlich über eventuell existierende Fluchtmöglichkeiten nachdenken. Schließlich saß ich nun in einem Wagen mit zweifelsfrei kriminellen Männern.
Wer waren diese Männer? Welche rechtswidrigen Taten hatten sie schon begangen und welche würden sie auf Befehl ihres Bosses in Zukunft noch begehen? Im schummrigen Licht des Fahrzeugfonds versuchte ich sie zu beobachten, ohne zu viel zu starren, was mir wahrscheinlich in diesem Moment nicht besonders gut gelang. Auch jegliche Versuche, einen Smalltalk zu eröffnen, scheiterten an einem kurzen Kopfnicken von Makino für „Ja” und einem energischen Schütteln für „Nein”. Die ohnehin schon wortkargen Männer waren völlig verstummt, seit wir im Wagen Platz genommen hatten.
Während ich auf meine Finger starrte und geduldig auf das Ende der Fahrt wartete, erinnerte ich mich nochmals an all das, was mich letztlich hierher gebracht hatte.
Ich konnte durch meine journalistische Arbeit schon viel Zeit in Japan verbringen. Von Natur aus neugierig und offen, traf ich während meiner Arbeit und der viel zu seltenen Freizeit auf Menschen aus allen möglichen Schichten der japanischen Gesellschaft. Reich und Arm, Professoren und Müllmänner, Künstler und Geistliche, Politiker und Hausfrauen. Eines hatten sie alle gemein: die in ihrem Leben tief verwurzelten japanischen Traditionen und die Etikette. Japanerinnen und Japaner, die aus der gewohnten Umgebung herausgerissen wurden und aus beruflichen oder privaten Gründen im Ausland leben, empfinden ihre späteren Besuche im eigenen Heimatland als befremdlich. Das „normale“ Verhalten ihrer Freunde und Verwandten betrachten sie dann als übertrieben altmodisch und sogar unheimlich.
Ein befreundeter Journalist, ein gebürtiger Japaner, der seit mehr als 15 Jahren in Washington lebte, verriet mir, dass er sich ein Leben in Japan nicht mehr vorstellen kann. Zu groß seien doch die Unterschiede, und er wolle sich nicht mehr neu an die – in seinen Augen – viel zu strengen Regeln der japanischen Gesellschaft gewöhnen.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage wollte in dem Wagen keine Kühle aufkommen. Erst am Tag zuvor angekommen, hatte ich mich natürlich noch nicht an den brühend heißen Sommer von Tōkiō gewöhnt. Der August ist die Zeit, in der sogar eingefleischte Tōkiōter Schutz vor der Hitze suchen und selbst die Stadtverwaltung Tōkiōs ihre Einwohner dazu aufruft, so wenig Zeit wie notwendig im Freien zu verbringen.
Makino, unser Fahrer, schaltete nicht einmal das Radio ein, und so blieb mir nichts anderes übrig, als schweigend abwechselnd auf die Yakuza, meine Hände und aus dem Fenster zu starren. Um diese Uhrzeit kamen wir nur quälend langsam in Kabukichō vorwärts. Ununterbrochen huschten Passanten zwischen Taxis, kleinen Lkw und einigen Polizeifahrzeugen hindurch, um in den nächsten klimatisierten Raum vor der feuchten Hitze der Straße flüchten zu können. Die in diesem Viertel besonders hohe Polizeipräsenz fiel mir schon bei meinen ersten Recherche-Besuchen auf. Kabukichō gehört seit jeher zu den von der japanischen Polizei „sensibel“ genannten Bezirken. Ich erkannte die gelangweilten Blicke auf den Gesichtern der Uniformierten, wie sie das Kennzeichen unserer Limousine musterten und sich sofort wieder wegdrehten. Ich konnte nicht anders, ich musste schmunzeln.
Die Yakuza hatten es immer geliebt aufzufallen. Und dazu gehörten nun mal auch noble Karossen aller Art. Ihre Fortbewegungsmittel sollten nach Möglichkeit immer gleichen Typs und gleicher Farbe sein. Noch in den Siebzigern waren amerikanische...