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E-Book

Interpretation

Vom Text zum Klang

AutorGerhard Mantel
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783795786526
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Gerhard Mantel geht in diesem Buch der Frage nach, über welche Mittel und Werkzeuge ein Interpret verfügen sollte, um einen Notentext zu dem vom Komponisten intendierten geistig-emotionalen Erlebnis zu machen. Im gedruckten Werk ist die 'eigentliche Musik' bekanntlich noch nicht vorhanden. Welches aber sind die ästhetischen und gestalterischen Kriterien dafür, wie der Interpret mit dem Notentext umgehen kann oder muss, um ihn zu interpretieren und dem Hörer zu erklären? Die Klangvorstellung, die innere Vorwegnahme der musikalischen Wirkung, ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Interpretation. Darüber hinaus ist es aber wichtig zu wissen, worauf diese Wirkung beruht und wie sie erzielt werden kann. Auf der Basis jahrzehntelanger Konzert- und Unterrichtserfahrung führt der Autor den Leser zu einer Einheit von Wissen, Planung, Intuition und Emotion und damit zu einer 'Interpretationstechnik', die für eine gelungene Interpretation unverzichtbar und in jeweils ganz persönlicher Form von jedem Musiker erreichbar ist.

Gerhard Mantel wurde 1930 in Karlsruhe geboren. Seine musikalische Ausbildung als Cellist erhielt er bei Professor August Eichhorn in Heidelberg. Später setzte er seine Studien in Paris bei Pierre Fournier, Paul Tortelier und André Navarra sowie bei Pablo Casals und Maurice Gendron fort. Bereits mit 21 Jahren wurde Gerhard Mantel Solocellist in Bergen (Norwegen), zwei Jahre später wurde er Solocellist beim WDR Symphonieorchester in Köln. Neben unzähligen Konzerten in aller Welt wirkte bei er bei mehr als 100 Hörfunk- und Fernsehproduktionen sowie zahlreichen Schallplattenaufnahmen mit. Professor Gerhard Mantel unterrichtet an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und erteilt Meisterkurse im In- und Ausland. Zudem ist er Ehrenpräsident der Deutschen Sektion der ESTA (European String Teachers' Association). Darüber hinaus gründete und leitet er das 'Forschungsinstitut für Instrumental- und Gesangspädagogik e.V.'.

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Leseprobe

I. Intuition


1. Begabung


Bei der Beurteilung von künstlerischen Leistungen, sei es in Wettbewerben, Konzerten oder Prüfungen, bei »Jugend Musiziert« oder im familiären Bereich, fällt früher oder später unweigerlich der Begriff der Begabung. So schwierig es ist, diesen Begriff überhaupt zu definieren – er wird oft in dem Sinne verwendet, dass jemand ohne nachzudenken, intuitiv schnell und anscheinend mühelos etwas erreicht, das einem anderen gar nicht oder nur mit großer Anstrengung gelingt. Begabung wird auch häufig als eine genetisch bedingte Eigenschaft verstanden.

Eines der unbestrittenen Ergebnisse der Begabungsforschung ist sicher dieses, dass Begabung sich aus einer Reihe von sehr verschiedenen Eigenschaften zusammensetzt. Fest steht auch, dass manche dieser Eigenschaften bei Musikern gar keine speziell musikalischen Eigenschaften sind. Z.B. geht es da um Neugier, Geduld, Zähigkeit und Hartnäckigkeit beim Verfolgen von Zielen, Ehrgeiz, sogar eine Portion Wille zur Selbstdarstellung kann hier eine Rolle spielen.

Oft wird mit dem Begriff Begabung die Vorstellung verbunden, dass der Erfolg sich mit wenig Anstrengung und wenig Bewusstheit, sozusagen als »Geschenk« einstellt. Der Begabte handelt unbewusst richtig, nach Gesetzen, die er nicht zu kennen braucht. Als beliebtes Beispiel wird gern eine Parallele zum Spracherwerb gezogen: Jedes Kind lernt »automatisch« seine Muttersprache mit allen Regeln dieser Sprache, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, ohne diese Regeln definieren zu können.

Wie verhält es sich aber mit einer ganz anderen Erfahrung, die sich in dem Goethe-Wort »Genie ist Fleiß« niederschlägt? Eine ähnliche Einschätzung finden wir auch in den eingangs zitierten Zeilen Goethes. Die Bewertung einer Begabung wird im Allgemeinen dann besonders positiv ausfallen, wenn möglichst wenig anstrengende »Kopfarbeit« dahinter steckt, wofür in Musikerkreisen der Begriff des »Verkopften« kursiert. Man könnte also daraus folgern: Je weniger einer denkt, desto besser spielt er.

So kommt es, dass sich mancher angehende Musiker die bange Frage stellt, wie begabt er eigentlich ist und ob er an seiner – als vollkommen unveränderlich eingestuften – Begabung irgendetwas ändern, verbessern könnte.

Wenn Begabung als eine genetische Grundausstattung verstanden wird, die ja zweifellos jeder Mensch in sich trägt, dann ist eine solche Fragestellung sinnlos. Man kann ja auch sein Geburtsdatum, die Körpergröße, die Eltern und die angeborene Augenfarbe nicht ändern. Leitet man aber den Begriff »Begabung« vom Verb »begaben« (= mit etwas ausstatten, versehen) ab, dann ergibt sich ein Spielraum, innerhalb dessen man sich bis zu einem gewissen Grad selbst begaben oder begaben lassen kann.

Es stimmt, dass es immer wieder Menschen gegeben hat und gibt, die aus einer intuitiven Veranlagung heraus ästhetische Zusammenhänge erfassen und realisieren können. Es gibt Wunderkinder, die mit einem überdurchschnittlich guten Gefühl für ihr Instrument ausgestattet sind, mit einer körperlichen Beweglichkeit und mit einer Fähigkeit ihre musikalischen Vorstellungen umzusetzen, die man tatsächlich nur bewundern kann. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Wunderkinder in einer Phase ihres Lebens gefördert werden, in der rein biologische Reifungsprozesse und musikalische Lernprozesse noch aufs Engste miteinander verschmolzen sind. Diese Menschen stellen aber einen winzigen Prozentsatz all jener dar, die Musik zu ihrer Lebensgrundlage machen wollen – eine Handvoll Ausnahmeerscheinungen unter Hunderten und Tausenden von Musikstudenten, die eben keine Wunderkinder sind.

Offensichtlich gibt es unbewusst gelernte Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen für das Beherrschen eines Instruments weitgehend ausreichen. So kommt es, dass Musiker mit beschränkter Fähigkeit zu »intellektueller« Begriffsbildung trotzdem intelligent Musik machen können, dass Streicher »sauber« spielen können, ohne irgendeine Kenntnis der physikalischen Grundlagen der Intonation zu haben. Dies gilt aber nicht für alle Menschen. Niemand kann sich nachträglich zum Wunderkind stilisieren.

Es ist deshalb sinnlos, die verschiedenen Arten von Begabung gegeneinander ausspielen zu wollen, etwa »verkopft« versus »aus dem Bauch«, »geübt, gelernt« versus »intuitiv « etc. Es ist sinnlos und kontraproduktiv, die mehr intuitive Begabung gegen die mehr begriffl ich orientierte (kognitive bzw. diskursive) Begabung, (das ist ja auch eine »Begabung«, eine Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit zur Reflexion) auszuspielen, zumal in jedem Menschen beide Begabungsformen, wenn auch unterschiedlich stark, wirksam sind.

Die »unbegriffliche«, intuitive Begabung wird im Allgemeinen mehr bewundert. Sie kann sich aber nur »indirekt«, ungesteuert weiterentwickeln – vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass so mancher hochbegabte Gewinner von Wettbewerben später stagniert.

Wer hingegen auch kognitiv, mit Hilfe von Begriffen arbeitet, also mit klaren, bewusst eingesetzten Selbstanweisungen aufgrund künstlerischen »Know-hows« und ausgestattet mit klaren methodischen Kenntnissen, die sich aufgrund von Erfahrung herangebildet haben, hat die besseren Möglichkeiten, sich auch in späteren Entwicklungs-stufen weiter zu entfalten. Ob man mehr intuitiv oder mehr bewusst seine Kunst verfeinert, hängt also auch von der musikalischen Lernbiografie ab. Vereinfachend kann man sagen: Je früher man beginnt, desto stärker ist die Intuition am Lernprozess beteiligt.

Intuition bedeutet »Einsicht« und wird im landläufigen Verständnis als eine Erkenntnis erlebt, deren Wurzeln nicht präsent sind, zumindest nicht bewusst. In Wirklichkeit ist Intuition jedoch immer das Resultat intensiver geistiger und emotionaler Beschäftigung. Im Gegensatz zu körperlichen Erlebnissen oder Ereignissen sind die komplexen Lernprozesse, die sich im Gehirn abspielen, nie direkt »fühlbar« und infolgedessen auch nicht als solche verfolgbar. Lernprozesse müssen aber der Intuition vorausgegangen sein; sie sind die Voraussetzung für das Glücksgefühl der als Geschenk, als Gabe, als Begabung erlebten Intuition.

Zwischen dem Wunderkind und dem sich weniger spektakulär Entwickelnden gibt es keine starre Grenze, sondern ein Kontinuum. So treffen wir auf Künstler der Spitzenklasse, die nie Wunderkinder waren und ihre Kunst über andere Kanäle als die kindliche Intuition gelernt und entwickelt haben. Daraus lässt sich schließen, dass ein wichtiger Teil der Begabung als Absorptionsfähigkeit bezeichnet werden kann. Mozarts Vater Leopold war der kompetenteste Instrumentalpädagoge seiner Zeit. Ein Teil von Wolfgangs Begabung muss in der Fähigkeit gelegen haben, das musikalische Wissen seines Vaters wie ein Schwamm aufzusaugen.

Eines steht fest: Musikalische Fantasie braucht geistiges und emotionales »Futter«! Sie wächst nicht im Vakuum auf der Basis eines »Prinzips Hoffnung «, sondern entsteht als Resultat der Verarbeitung vieler musikalischer Eindrücke. Die Eindrücke mögen, ja sie müssen von außen kommen, aber die Verarbeitung – mental, emotional, körperlich – kommt von innen. Dazu bedarf es der genannten Bereitschaft, Neues zu wagen und die Sicherheit von Gewohnheiten aufzugeben zugunsten der Freiheit des Experiments. Es gilt, Gewohntes mit Ungewohntem zu vergleichen. Wichtig ist dabei die Bereitschaft, Fehler zu machen und zu akzeptieren.

Viele stellen sich die Frage: Wie komme ich zu einer musikalischen Vorstellung? Zur Beantwortung dieser Frage muss man wissen: Die musikalische Vorstellung ist keine feste Größe, sondern entsteht, entwickelt und verändert sich in Abhängigkeit vom eigenen Verhalten.

Jeder Instrumentalist hat ein ganz individuelles Begabungsprofil. Man trifft auf phänomenale Bewegungsbegabungen, die erstaunlicherweise schwere Defizite im rhythmischen Bereich aufweisen können. Manche Instrumentalisten haben eine große Ausdrucksbegabung, aber vor lauter Begeisterung über die von ihnen selbst gespielte Musik nehmen sie schwere (z.B. intonatorische oder rhythmische) Mängel nicht wahr. Andere erreichen ein geradezu betörendes Klangprofil, ohne irgendeinen Sinn für Struktur zu entwickeln. Kann man bei einem Instrumentalisten, der über einen Triller wie von einer elektrischen Klingel und ein Staccato wie von einem Specht verfügt, schon von »musikalischer Begabung« sprechen? Allein diese Beobachtungen zeigen, wie unklar der Begabungsbegriff ist und wie wenig hilfreich, wenn man auf Probleme trifft.

Der musikalische Erfolg eines Studenten wird vom Umfeld – außer vom Lehrer – auf seine Begabung zurückgeführt, ein Misserfolg dagegen wird einem schlechten Lehrer angelastet. Der Ausspruch mancher Pädagogen: »Ich unterrichte nur begabte Schüler« ist, so gesehen, doppeldeutig. Hinter einer...

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