Frank Wedekind ist der unbewußte Zurechtweiser naturalistischer Dinge. Er ist ein Genie der Verzerrung. Zugleich ein göttlicher Sauhirt. Alles wird bei diesem großen Leergebrannten ganz frei unter einen verrückenden Sehwinkel geschoben. Er ulkt über alles, auch über die Illusion in seinen Dramen. Er benutzt Sterben und Unglück recht gern als komische Quelle. Erst wer die Gefühle so überwunden hat, ist – in anderem Sinne – der wahre Naturalist; jedenfalls der am meisten Sachliche von allen.[102]
Frank Wedekind, welcher den Menschen als Triebwesen sieht, das durch seine Umwelt geschaffen wurde, spiegelt in seiner Auffassung die Prinzipien des Naturalismus wider, jedoch sind seine Werke gespickt von Symbolen und dichterischer Verklärung, aber auch Motiven der Sinnlichkeit und der Freiheit, wodurch er sowohl dem Symbolismus, dem Realismus als auch dem Impressionismus zugeordnet werden kann. Eine klare Abgrenzung zu einer dieser Strömungen fällt bei Wedekind schwer.[103] Dennoch war er in jedem Fall antibürgerlich eingestellt, weshalb er Sachverhalte zumeist sehr überspitzt und teilweise anstößig darstellte, womit er als Wegbereiter des Expressionismus gilt.[104]
Der Künstler schuf mit seinen Werken einen ästhetischen Umbruch des Theaters, der durch surrealistische und bizarre Elemente charakterisiert wird und brachte dadurch einen vollkommen neuen ambivalenten Typus des Dramas hervor, indem er nicht den kulturellen Verfall zum Primärobjekt seiner Werke machte, sondern die Kunst per se, wobei er dennoch unterschwellig Gesellschaftskritik übte, da er sich von einer Welt mit aussterbenden moralischen Idealen umgeben sah. So beschäftigte er sich in seinen Stücken mit
den literarischen und außerliterarischen Genres […], die unterhalb der im traditionellen Bildungskanon anerkannten hohen Kunst, sei es der Tragödie, sei es der Komödie, angesiedelt waren und die, obwohl offiziell ignoriert, in Wahrheit längst den Hauptgegenstand bürgerlichen theatralischen Vergnügens ausmachten. Es waren die niederen Formen, Haltungen und Effekte der Salonkomödie, des Kabaretts, des Zirkus.[105]
Durch den Aufgriff und seiner Inszenierung dieser Genres, nahmen sie bald die einstige Stelle der traditionellen dramatischen Gattungen, deren System allmählich zu zerfallen begann, ein. Mit seiner Dramenkonstruktion schaffte Wedekind es, das Publikum durch vertraute Ordnungen im Theater einzuladen, es durch Vergnügungen zu berauschen und ihm dennoch neue Überzeugungen zu vermitteln.[106]
Die Dramenfigur der Lulu wurde von Wedekind ursprünglich in „Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie“[107] während seiner Aufenthalte in Paris und London 1892 bis 1894 konzipiert. Hinsichtlich des Publikumsgeschmacks und unter dem Druck der Zäsur überarbeitete er es zweifach und veröffentlichte es als ein Doppeldrama „Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“[108] und „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen mit einem Prolog“[109] zunächst 1895 und 1903 und letztlich 1913. Die letzte Veröffentlichung ist für die literaturwissenschaftliche Vertiefung von zentraler Bedeutung.[110]
Lulu stellt das Zentrum der Handlung dar. Sie wurde von der Figur des Dr. Schön im Alter von etwa zwölf Jahren auf der Straße gefunden, woraufhin dieser sie bei sich aufnahm. Er verheiratet sie an den Medizinalrat Goll, welcher im ersten Aufzug an einem Schlaganfall oder Herzstillstand stirbt. Daraufhin heiratet Lulu den Maler Schwarz, welcher sie während ihrer Ehe mit Goll porträtierte. Nachdem Dr. Schön, mit welchem Lulu offensichtlich ein Verhältnis hat, Schwarz darüber aufklärt, dass Lulu bei deren Eheschluss nicht keusch war und ihn zum anderen nicht achtet, nimmt er sich das Leben. Im Anschluss daran bringt Lulu Schön dazu seine Verlobung zu lösen und heiratet ihn, poussiert aber sowohl mit seinem Sohn als auch Rodrigo Quast. Als Schön dies herausfindet, will er Lulu dazu bringen, sich das Leben zu nehmen, woraufhin diese ihn aber erschießt. Hiermit endet die Handlung im Erdgeist.
Die Büchse der Pandora beginnt damit, dass dem Rezipienten verdeutlicht wird, dass Lulu aufgrund des Mordes an Dr. Schön ins Gefängnis musste. Die Gräfin Geschwitz, welche in Lulu verliebt ist, befreit diese jedoch durch eine List. Lulu heiratet Schöns Sohn Alwa. Nachdem ihre Flucht aufgedeckt zu werden droht, flieht sie mit diesem und ihrem Vater Schigolch nach London, wo sie sich prostituieren muss und letztlich durch die Hand des Lustmörders Jack umkommt.[111]
In seinem Doppeldrama erschafft Wedekind eine weibliche Figur, welche der antiken Pandora Hesiods sehr ähnlich ist. Die ominöse Büchse, welche die antike Pandora als Mitgift in die Ehe mit Epimetheus bringt, ist im Fall der Lulu eindeutig ihr Portrait im Pierrot. Dieses lässt sich in allen Aufzügen im Bühnenbild wiederfinden. Trotz des „unmöglichen Kostüm[s]“[112], welches eine Verbindung zu Pandoras Schöpfer Hephaistos darstellt, der als „Götter-Clown“[113] bekannt ist, strahlt Lulu eine Anmut aus, die dem Maler Schwarz „das Blut zu Kopf [schießen]“[114] lässt, ganz wie es Aphrodite und Hephaistos der Pandora zugedacht haben. Ebenso lassen sich die „quälende Sehnsucht und gliederzehrendes Herzweh“[115] in Lulus Wesen wiederfinden, indem sie nicht nur in der Lage ist, die Männer in ihrer Umgebung zu beherrschen, sondern auch eine Frau, die Gräfin Geschwitz, dazu bringt, sich ihr vollkommen zu unterwerfen und alles zu opfern. Auch die Gaben, die Pandora von Hermes erhielt, können bei Lulu entdeckt werden, da sie sich teilweise schmeichelnder Worte bedient, um ihre Ziele zu erreichen[116]. Die fraulichen Geschicke der Pandora, welche sie laut Hesiod von Athene erhielt, lassen sich bei Wedekinds Lulu im Tanz entdecken. Sie tanzte jeden Abend für Medizinalrat Goll, als sie mit diesem verheiratet war. Der Maler Schwarz, obgleich er selbst Künstler war, schlief bei ihren Vorführungen ein, weshalb sie das Tanzen aufgab. Nach seinem Tod jedoch, konnte sie ihr Geschick auf der großen Bühne im Theater präsentieren, wobei ihr „Auftreten doch einen höheren Zweck hat“[117] und Schön über sie schreibt, sie wäre „die geistvollste Tänzerin, die je die Bühne betreten“[118] habe. Ebenso in ihrer Kleidung lassen sich Parallelen zur antiken Pandora feststellen, welche von Athene reizend eingekleidet wurde. So trägt Lulu im Drama beispielsweise ein „grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants […], sehr dekolletiert [… und darunter] schneeweiße Dessous mit handbreit Spitzen“[119] oder zeigt sich auch „in eleganter Pariser Balltoilette, weit dekolletiert, mit Blumen vor der Brust und im Haar“[120]. Die Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde immer mehr zum Bedeutungsträger der fraulichen Existenz: „Sie befreite die Frauen nicht aus ihrer Beengung, sondern fügte den zahlreichen Textilschichten noch eine weitere – sexuelle – Schicht hinzu.“[121] Lulu wehrt sich gegen diese Art von Unterdrückung verbal, indem sie mehrmals verdeutlicht, dass ihr Unterkleid sie „geniert“[122]. Darüber hinaus trägt sie in mehreren Auftritten Blumen als Accessoires, welche wiederum auf Aphrodite zurückzuführen sind, die für alles Blühen und Werden verantwortlich, aber ebenso ehebrecherisch wie Lulu ist. Auch wurde sie von Schön als Blumenmädchen entdeckt, welche mit griechischen Hetären, die die vollkommene Verkörperung von Schönheit, Bildung und Erziehung symbolisieren, gleichgesetzt werden.[123]
Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus sagte 1905 in seiner Eröffnungsrede zu einer Aufführung von 'Die Büchse der Pandora' über die Situation der Protagonistin, es handle sich um einen „Spießrutenlauf der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann“.[124] Er bezeichnet sie weiterhin als „Allzerstörerin […] , weil [sie] von allen zerstört ward“[125]. Aufgrund dieser Aussagen lassen sich Parallelen zu der antiken Pandorafigur ziehen. Anstelle der göttlichen Namensgebung des Allgeschenks, bekommt Lulu den Beinamen der Allzerstörerin, wobei eingeräumt wird, dass sie nicht für ihr Geschick verantwortlich zu machen ist. Ebenso wie die antike Pandora wurde Lulu zu dem, was ihr diesen Namen verschaffte, gemacht. Schön gibt Schwarz sogar den Tipp, er solle Lulu zu dem machen, was er sich vorgestellt hat, wenn sie es noch nicht ist.[126] Weiterhin gibt Kraus dem Rezipienten in seiner Eröffnungsrede schon bekannt, dass Lulu von einem Schöpfer (welchen er damit explizit meint, lässt er unbekannt) zu etwas bestimmt wurde und in den Besitz von jemandem gerät. Auch hier sind deutliche Analogien zu erkennen, da das Allgeschenk zu dem Zwecke der göttlichen Rache geschaffen wurde und als Geschenk an Epimetheus in dessen Besitz übergeht.
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