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Aufzeichnungen eines Untermenschen

Ein Bericht über das Ghetto in Riga und die Konzentrationslager in Deutschland

AutorAlexander Bergmann
VerlagEdition Temmen
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl213 Seiten
ISBN9783837880366
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Als einer von wenigen lettischen Juden hat Alexander Bergmann den Holocaust überlebt. Erst im Ghetto in Riga, anschließend in verschiedenen Konzentrationslagern und zuletzt als Zwangsarbeiter in einem Außenlager des KZ Buchenwald hat er eine Odyssee erlebt, deren Qualen mit menschlichem Maß kaum zu begreifen sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg als Rechtsanwalt in Riga tätig, konnte er erst nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft 1990 daran denken, seine Erinnerungen der Jahre 1941 bis 1945 aufzuschreiben und öffentlich zu machen. Alexander Bergmann berichtet präzise und mit hohem analytischen Verstand, seine 'Aufzeichnungen' gehören in unser kollektives Gedächtnis.

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Leseprobe

HARRI

1. JULI 1941

Familie Bergmann im Jahr 1936. Von links nach rechts: Vater Jean, jüngster Bruder Daniel (Danja), Mutter Klara, älterer Bruder Michail (Mika) und der Autor Alexander (Sascha).

Ohne dass wir uns verabredet hätten, trafen wir uns an der Ecke Elizabetes und Lazaretes iela, jetzt Jerusalemes iela, neben Gutmanns Schulbedarfladen. Doch unser Treffen war durchaus nicht zufällig. An der Ecke, in der Lazaretes iela, stand unsere Schule, und wir drei Klassenkameraden standen nun da und warteten in der Hoffnung, andere aus unserer Klasse zu treffen.

Ich hatte es am bequemsten von uns dreien, denn die letzten Tage hatte ich zusammen mit meinen Eltern und Brüdern im Keller der Schule zugebracht, um vor eventuellen Bombardierungen in Sicherheit zu sein. Das Haus, in dem wir wohnten, war nur 50 m von der Schule entfernt. Es war aus Holz gebaut und hatte auch keinen richtigen Keller. Mein Vater, der stellvertretender Schulleiter war, hatte uns in die Schule gebracht, weil wir hier sicherer waren.

Riga war von Bomben verhältnismäßig wenig zerstört worden. Nur der Flughafen Spilve mit den Flugzeugen und die Altstadt um die Petri-Kirche herum und auch der Turm der Kirche selbst, in dem sich ein Beobachtungspunkt zur Verteidigung der Stadt befand, wurden in den ersten Kriegstagen zerstört. Der Lärm, den das Krachen der Bomben und die Detonationen verursachten, war kaum auszuhalten. Das fast völlige Fehlen irgendwelcher Informationen über die Front um Riga und dazu der Höllenlärm der Explosionen versetzten uns in Angst.

Als es mir einmal gelang, auf die Straße herauszukommen, hatte ich ein niederschmetterndes Bild vor mir: Über die menschenleere Brivibas iela, die west-östliche Hauptverkehrsader der Stadt, zogen die Rotarmisten aus Riga hinaus. Staubbedeckt und schlecht gekleidet in Wickelgamaschen und bis auf die Knie reichenden Soldatenblusen, kamen sie mir vor wie Kleinwüchsige. Die Soldaten waren schlecht bewaffnet und bewegten sich völlig ungeordnet vorwärts. Als ich ihrer ansichtig wurde, ließ mich das böse Gefühl nicht los, dass sie Riga bereits aufgegeben hatten.

An dem Tag, an dem wir uns trafen, war ich morgens aufgewacht, und alles um mich herum war ungewöhnlich still. Keine Explosion, kein Schießen … Und erst nach einiger Zeit hörten wir in unserem Keller aus den Lautsprechern, die auf der Straße aufgestellt waren, Musik und auch die lettische Nationalhymne, die vor mehr als einem Jahr durch die »Internationale« ersetzt worden war. Auf der Straße war ich erschüttert von dem, was ich an diesem ersten Julitag, dem ersten Tag der Besetzung Rigas durch die deutschen Truppen, zu sehen bekam.

Es war, als hätte sich alles mit den Nazis verbündet – eine strahlende Sonne an einem azurblauen Himmel, die freudigen Gesichter der Vorübergehenden und ganz besonders der Anblick der deutschen Soldaten. Hochgewachsen, sonnengebräunt mit aufgekrempelten Ärmeln, mit allen möglichen Waffen behängt, zogen sie in tadelloser Marschordnung über die Elizabetes iela. Sie sangen Lieder, deren Melodien und Texte ich noch heute im Ohr habe. Über das Pflaster der Rigaer Straßen marschierten die Sieger!

Woher sollte ich 16-jähriger Junge wissen, dass da vor mir keine Frontsoldaten marschierten, sondern speziell ausgewählte Einheiten, die den Einwohnern klarmachen sollten, dass hier eine unbesiegbare deutsche Armee Einzug hielt? In diesem Universum beruht vieles auf Täuschung, und ich muss gestehen, dass es den Nazis absolut gelang, auch mich zu täuschen. Mir wurde angst und bange, und gleichzeitig durchzuckte mich der Gedanke – was wird mit uns Juden?

In unserer Familie gab man sich bezüglich der deutschen Nazis keinen Illusionen hin. Die Eltern und folglich auch wir Kinder wussten gut Bescheid über die Lage der Juden in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Verwandte, die früher in Berlin gelebt hatten, waren 1936 nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze nach Lettland zurückgekehrt, ebenso war nach der Besetzung der Tschechoslowakei meine Tante Betty aus Prag nach Riga zurückgekommen.

Bis zur sowjetischen Besatzung hatten wir ausländische Zeitungen abonniert, hatten Hitler im Radio gehört, wie er gegen die Juden, als die Quelle allen Unglücks für das deutsche Volk, gehetzt und gedroht hatte, mit ihnen abzurechnen. Vater beherbergte in unserer Wohnung zwei jüdische Emigranten aus Österreich. Ihnen war es nach dem »Anschluss« 1938 gelungen, das Land zu verlassen und eine Aufenthaltsgenehmigung in Lettland zu erhalten.

Aus Meldungen des englischen Rundfunks wussten wir, dass in Warschau eine Reihe von Wohnvierteln durch eine steinerne Mauer abgesperrt worden war und man dort eine halbe Million Juden aus der Stadt und der Umgebung eingesperrt hatte. Das bedeutete, dass in Warschau ein Ghetto für die Juden eingerichtet worden war. Wir hatten auch Informationen über die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen und wussten von der Willkür der SS, die dort herrschte und mordete. In einem dieser Lager war auch ein naher Freund unseres Vaters ermordet worden.

Wir rechneten mit Unterdrückungsmaßnahmen vonseiten der Deutschen, wie z.B. Berufsverbote, Reduzierung der Nahrungsmittel, eine mögliche Verschleppung in ein Ghetto u.Ä. Doch weder ich noch meine Eltern konnten uns vorstellen, dass uns gleich in den nächsten Tagen quasi der Prolog der Katastrophe erwarten würde, die nicht nur die lettischen Juden hinwegfegen sollte, sondern fast alle Juden Europas.

Es ging nicht darum, wie später viele im Ghetto behaupteten, dass man unmöglich von den Deutschen, die sich doch während der Okkupation Rigas im Ersten Weltkrieg der jüdischen Bevölkerung gegenüber anständig benommen hatten, ein so grausames Verhalten hätte erwarten können. Es ging auch nicht um die Deutschen an sich, sondern darum, dass ein normaler Mensch des 20. Jahrhunderts sich nicht vorstellen konnte, dass es in der sogenannten zivilisierten Welt möglich wäre, ein ganzes Volk zu vernichten. Jetzt, nach der Shoah, da wir es besser wissen, werfen wir uns oft gegenseitig vor, nicht weitsichtig genug gewesen zu sein.

Im Widerspruch zu dem eben Gesagten, werde ich später schreiben, hätten wir allen Grund gehabt, die Katastrophe voraussehen zu können, denken wir nur an Hitlers Buch »Mein Kampf«.

Doch das widerspricht sich nur scheinbar und beweist, dass auch ich, wie andere auch, die besten Gedanken erst hinterher, also nach dem Krieg hatte. Mit einem Wort: Ich behaupte, dass ich die Masse der Nachkriegsinformationen auf die Vorkriegszeit übertrug, obwohl sie uns damals nicht bekannt waren.

Auf dem Tisch in meines Vaters Arbeitszimmer in unserer Wohnung war Seumes bekannter Text auf einer Holztafel eingebrannt: »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder«.

Begleitet von dem Gesang der deutschen Soldaten und Seumes Vers mit Bitterkeit im Ohr, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Da traf ich auf meine Mitschüler Aisik Aisikovitsch und Harri Fainson. Sie hatten dasselbe gesehen wie ich. Allerdings mit dem einen Unterschied, dass neben Aisik, der von der Schlagkraft der deutschen Truppen ebenso überwältigt war wie ich, dieser Umstand bei Harri völlig andere Emotionen und Antriebe ausgelöst hatte.

Harri war unser Klassengenie. Seine Familie war nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland nach Lettland emigriert. Kurz danach kam er in unsere Klasse. In allem war er anders als wir, die gewöhnlichen Schüler der 9. Klasse, auch was sein Äußeres anbetraf. Man konnte ihn fast mit Don Quichotte vergleichen – baumlang, dünn, leicht nach vorne gebeugt. Außerdem war er kurzsichtig, mit einer Brille auf der Nase. Dazu war er auch noch blond. Mit dem edelmütigen Hidalgo verband ihn sein Idealismus und der Wunsch, Gutes zu tun. Im Unterschied zu dem Ritter stand er fest mit den Füßen auf der Erde und versuchte nicht, gegen Windmühlenflügel zu kämpfen.

Im Sportunterricht war Harri keine große Nummer, was bei den Klassenkameraden zu Spott und Gelächter hätte führen können. Doch Harri war eine von allen anerkannte Autorität. Während wir uns mit der Lösung algebraischer Gleichungen herumschlugen, löste Harri Differentialgleichungen. Schon allein das Wort Differentialgleichung ließ uns erschauern. Harris Kenntnisse in Chemie waren so groß, dass unsere Chemielehrerin mir nach dem Krieg eingestand, dass Harri sie ohne Schwierigkeiten hätte ersetzen können. Wenn unser strenger Mathe-Lehrer für die Klasse eine Kontrollarbeit in Geometrie ansetzte, auf die wir völlig unvorbereitet waren, bat die ganze Klasse Harri, irgendetwas zu tun, damit die Kontrollarbeit nicht stattfände. Harri tat etwas. An dem für die Arbeit festgesetzten Tag war es unmöglich, den Klassenraum zu betreten. Es herrschte eine solch schlechte Luft in dem Zimmer, dass man kaum atmen konnte. Der Lehrer war nicht imstande, den Grund dafür herauszufinden. Auf unsere spätere Fragen, wie er das erreicht habe, murmelte Harri etwas von Käse-Destillation.

Im Jahre 1940 bombardierten deutsche Flugzeuge London und versuchten auf diese Weise, England aus dem Krieg auszuschalten. Viele Menschen kamen dabei um, und Harri machte es sich zur Aufgabe, die Stadt zu verteidigen. Ich sah selbst das Antwortschreiben mit...

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