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E-Book

Endspiel

Die Metamorphosen des Wladimir Putin

AutorMichail Sygar
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783462315158
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Russland vor dem Bürgerkrieg? Europa vor dem Krieg? »Die erste überzeugende Beschreibung dessen, was in den letzten 20 Jahren in Russland geschehen ist. Ein wichtiges Buch und eine Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu bekommen.« Swetlana Alexijewitsch (Literaturnobelpreis 2015) Wie konnte Wladimir Putin zum Paria der Weltgemeinschaft werden? Warum destabilisiert der russische Präsident die Ukraine, Europa und sein eigenes Land? Michail Sygar, intimer Kenner des Kremls und der Machteliten, erklärt in seinem glänzend geschriebenen Buch die Wandlung Putins vom Reformer zu dem Mann, den die Welt fürchtet. Der im Jahr 2000 überraschend zum Präsidenten gewählte Wladimir Putin orientiert sich zunächst nach Westen, will in den Club der Staatenlenker wie Tony Blair, George W. Bush und Gerhard Schröder aufgenommen werden. Doch bald fühlt er sich betrogen, von der Nato-Osterweiterung, den angeblich vom Westen unterstützten »orangen« Revolutionen in Georgien und der Ukraine. Er räumt potenzielle Rivalen wie Michail Chodorkowski aus dem Weg und zieht innenpolitisch die Zügel an. Es folgt eine Phase, in der Putin sich eher wie ein mächtiger Oligarch gibt, in der er das »gute Leben« der Superreichen schätzen lernt. Während der Präsidentschaft Medwedews bleibt er mit seinen PR-Stunts - halbnackt auf dem Pferd, mit Weißkranichen fliegend - omnipräsent. Als sich zu Beginn seiner dritten Amtszeit das Großstadtpublikum von ihm abwendet, besinnt Putin sich auf das einfache Volk, mit dem er sich im Hass auf Amerika einig weiß. Die Maidan-Revolution in Kiew füttert seine Paranoia: Die USA haben es in Wirklichkeit auf ihn abgesehen. Die Folgen sind bekannt - aber unabsehbar auch für sein eigenes (politisches) Überleben.

Michail Sygar, geboren 1981, ist Chefredakteur von Doschd, dem einzigen unabhängigen Fernsehsender in Russland, der angesichts staatlicher Repression derzeit nur über das Internet zu empfangen ist. Sygar, einer der bekanntesten Journalisten Russlands, hat als Kriegsreporter für die Tageszeitung Kommersant berichtet und war stellvertretender Chefredakteur der russischen Ausgabe von Newsweek. Gemeinsam mit Waleri Panjuschkin hat er das Buch »Gazprom. Das Geschäft mit der Macht« veröffentlicht.

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Leseprobe

Kapitel 2 Boris Beresowski, der aufdringliche Pate


Boris Beresowski bin ich nie begegnet. Dabei habe ich fast zehn Jahre lang bei einer Zeitung gearbeitet, die ihm gehörte – der größten Wirtschaftszeitung Russlands der 2000er-Jahre, dem Kommersant.

Als ich 2007 an einem Buch über Gazprom mitgeschrieben habe, sollte ich eigentlich Beresowski aufsuchen und interviewen. Doch das habe ich bewusst vermieden. Mir schien, wenn Beresowski als Gesprächspartner in dem Buch auftaucht, dann könnte das nur kompromittierend wirken. So zweifelhaft war sein Ruf und alles, womit er zu tun hatte. Außerdem war ich überzeugt, dass Beresowski permanent lügt. Welchen Sinn sollte also ein Interview haben, das ich von vornherein für unglaubwürdig hielt?

Viele meiner Freunde, darunter auch sehr gute, dachten über Beresowski völlig anders. Einige kannten ihn persönlich und waren sogar mit ihm befreundet. Besonders in seinen letzten Lebensjahren, als er einsam war und das Londoner Exil ihn sehr bedrückte. Sie versichern, er sei absolut offen gewesen. Da ich dieses Buch erst nach seinem Tod geschrieben habe, musste ich mich auf die Erinnerungen von Freunden des verstorbenen Oligarchen verlassen.

Ein Jahr vor seinem Tod hat er meinen Journalistenkollegen vom Fernsehsender »Doschd« ein langes Interview gewährt. Außerdem hat er in seinen Zeugenaussagen im Prozess gegen Roman Abramowitsch seine Sicht auf die Ereignisse Ende der Neunziger- und Anfang der 2000er-Jahre wortreich dargelegt. Das Gericht in London war übrigens der Meinung, Beresowski habe in seinen Aussagen permanent gelogen, und entschied daher gegen ihn.

Beresowski besaß eine sehr wichtige Eigenschaft, die ihn von allen übrigen Helden dieses Buches unterscheidet. Er hat viele Male Irrtümer zugegeben. Gegen Ende seines Lebens (natürlich nicht in den Phasen seines abenteuerlichen Triumphes) hat er seine Taten oft bereut. Einige meinen, dabei sei er absolut ehrlich gewesen. Andere sind sich sicher, dass auch das eine billige Pose war.

Der Gänserich muss ins Loch

»Gestern bin ich mir wie Beresowski vorgekommen«, scherzt Roman Abramowitsch gern, »ich habe mehrere Leute zur selben Zeit zu mir bestellt.« Menschen, die Beresowski näher kannten, sehen ihn als ein zerstreutes Mathematikgenie, das vor Ideen sprühte, aber bei Weitem nicht immer kontrollieren konnte, wie man sie umsetzte.

Von Beresowski kursiert die Geschichte, wie er sich zufällig mehrere völlig über Kreuz liegende Geschäftsleute zur gleichen Zeit als Gäste einlud: Wladimir Gussinski, Michail Chodorkowski und Wladimir Potanin. Angeblich brachte er sie in verschiedenen Zimmern seines Hauses unter, damit sie sich nicht begegnen sollten. Dann aber tauchte ein Freund auf, dem er versprochen hatte, mit ihm ins russische Bad zu gehen. Er ging also mit seinem Freund ins Bad (offenbar ebenfalls in seinem Haus) und vergaß die übrigen Gäste. Es verging eine Stunde, und die Eingeladenen begannen im Haus umherzugehen, wobei sie sich natürlich über den Weg liefen. Schließlich versammelten sie sich alle um den Tisch im Esszimmer, wo plötzlich Beresowski im Bademantel vor ihnen stand.

Was ihm dann im Jahre 2000 passierte, schockierte ihn noch mehr, obwohl er auch daran nicht unschuldig war.

Die Präsidentschaft Wladimir Putins kann man teilweise auch als Beresowskis Idee sehen. Denn er hatte Putin bereits Anfang der Neunzigerjahre kennengelernt, und er war es auch, der den ehemaligen Stellvertreter Sobtschaks in den engeren Kreis um Boris Jelzin einführte. Von ihm stammt die Vorstellung, Putin sei der geeignetste Nachfolgekandidat des Präsidenten. Doch auch diese Idee führte sofort ein Eigenleben, das mit dem seinen nichts mehr zu tun hatte. Und das ihn immer mehr verdross.

Anfangs empörte Beresowski, dass Beteiligte an Putins Sieg nicht belohnt und ehemalige Gegner nicht bestraft wurden, wie man es 1996 gehalten hatte, als Beresowski und Gussinski die Spitzen der Wirtschaft zur Unterstützung Jelzins überredeten und nach dem Sieg dafür ihren Lohn erhielten. Gussinskis Fernsehsender NTW bekam eine Frequenz, auf der er unionsweit senden konnte. Beresowski wurde zum stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrates ernannt. Aber im Wahlkampf 1999/2000 kämpften Beresowski und Gussinski auf verschiedenen Seiten der Barrikade. Neben Gussinski waren auch Primakow, Luschkow und einige Dutzend Gouverneure unter die Verlierer geraten. Aber die Sieger hatten nichts davon, und die Verlierer mussten nicht leiden. Luschkow blieb Oberbürgermeister der Hauptstadt. Primakow sollte den Posten des Chefs der Industrie- und Handelskammer erhalten – sozusagen als Ehrenpension. Und ihre ehemaligen Anhänger mischten sich unter Putins Gefolgschaft.

Nur den Medienmagnaten Wladimir Gussinski, der gegen Putin agitiert und den Medienkrieg geführt hatte, beschloss der Kreml zu bestrafen. Denn Gussinski soll Putin bereits im Winter 2000 von oben herab erklärt haben, er werde ohne die Unterstützung seines Senders NTW niemals Präsident werden. Besonders aber kränkte Putin das Kabarettprogramm »Kukly« (»Puppen«), wo man ihn mit Klein Zaches verglich.

»Das ist nicht persönlich gemeint, es geht nur ums Geschäft«, behauptete Woloschin. Gussinskis Geschäft beruhe ausschließlich auf Krediten. Er nehme sie bei Banken auf und zahle sie nicht zurück, weil er davon ausgehe, dass man ihm seine Schulden erlasse, weil man Angriffe seitens des allmächtigen NTW-Fernsehens befürchte. Gussinski hatte mehr als eine Milliarde Dollar Schulden bei Staatsunternehmen. Aber wenn der Zahlungstermin näher rückte, organisierte Gussinski eine Präventivattacke auf den Gläubiger. Der verlängerte den Kredit sofort, und das auch noch zu Vorzugsbedingungen. Er brauche sich nicht einmal anzustrengen, sondern nur permanent Schulden machen, behauptete Woloschin.

Aber die Sache lief anders. Schon einen Monat nach Putins Amtseinführung eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft gegen Gussinski ein Strafverfahren. Er wurde verhaftet und ins berüchtigtste Untersuchungsgefängnis von Moskau, Butyrki, gebracht. »Das war nicht unbedingt nötig, man hätte es auch lassen können«, erinnerten sich Kreml-Insider. Aber jetzt bestimmte nicht mehr er die Spielregeln, sondern die neuen Vertreter der staatlichen Gewaltorgane aus der Umgebung des Präsidenten. Beresowski hingegen war zufrieden. An dem Tag, da Gussinski festgenommen wurde, jubelte er ganz offen: »Der Gänserich muss ins Loch![1] Dass er es nicht vergisst! Dass er es nicht vergisst!« Doch die Geschäftswelt war schockiert. Oligarchen schrieben einen gemeinsamen Brief mit der Forderung, Gussinski freizulassen. Der Einzige, der nicht unterschrieb, war Beresowski.

Als Gussinski verhaftet wurde, befand sich Putin gerade auf einem offiziellen Besuch in Spanien. Auf die Frage der Journalisten, was mit Gussinski los sei, antwortete er, er wisse es nicht, da er »den Generalstaatsanwalt telefonisch nicht erreicht«. Gussinski musste nur ganze drei Tage hinter Gittern verbringen. Dann suchte ihn der Presseminister in seiner Zelle auf. Sie unterschrieben eine Vereinbarung, wonach der Oligarch freigelassen werde, wenn er sich von seinem Fernsehsender NTW trenne. Gussinski kam frei, verließ auf der Stelle Russland und machte die Vereinbarung öffentlich. Für Putins internationales Image war das ein schwerer Schlag. Gerade war er von einer Werbetour durch Europa zurückgekehrt, da ging Wladimir Gussinski mit Gegenpropaganda auf Tour und erzählte überall, was für ein schrecklicher Kerl der neue Präsident Russlands sei. Putin ärgerte nicht, wie plump die Operation durchgeführt wurde, denn keiner der Organisatoren musste dafür büßen, ihn ärgerte der Skandal. Daher ordnete er an, die Übernahme von Gussinskis Fernsehsender zu stoppen, bis Gras über die Sache gewachsen sei.

Doch mit Gussinskis Verhaftung wurde gleichsam der Geist aus der Flasche gelassen. Fast alle großen Geschäftsleute, die Oligarchen, wie man sie seit der Jelzin-Zeit nannte, mussten Betriebsprüfungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen über sich ergehen lassen. Das war offenbar keine geplante Operation, die Vertreter der staatlichen Gewaltorgane, die »Silowiki«, hatten das Signal ihres Chefs vielmehr so verstanden, dass sie Ordnung schaffen sollten.

Auch in der ausgehenden Jelzin-Zeit hatte die Staatsanwaltschaft nicht selten aufsehenerregende Strafverfahren eingeleitet, denn Ende der Neunzigerjahre erreichten die Kämpfe unter den Oligarchen ihren Höhepunkt. Aber jetzt breitete sich das Gefühl aus, diese Aktivierung der Ermittlungsorgane sei ein Merkmal der neuen Zeit. Der zu Beresowskis Medienholding gehörende Kommersant spielte darauf in seinen Schlagzeilen an. Immer wieder erschien er mit dem Aufmacher »Abgeholt wurde …« – eine deutliche Anspielung auf die Repressalien der Stalinzeit.

Wenn man allerdings jeden Fall einzeln betrachtet, dann wird klar, dass es im Jahre 2000 keinerlei stalinsche Repressalien gab. Jeder Fall von »Abgeholt wurde …« klärte sich bereits im Stadium der Ermittlungen, denn in allen berichteten Fällen handelte es sich um banale Schutzgelderpressung.

Das U-Boot

Dass die neue Macht so unberechenbar war, erboste Beresowski derart, dass er sich zum Äußersten entschloss. Er wollte Putin zwingen, auf ihn zu hören, und schien alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, ihn mit Worten zu überzeugen. Da dies nichts...

Blick ins Buch

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