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Zeit

Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen

AutorRüdiger Safranski
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783446250116
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein Buch über das Leben: Was macht die Zeit mit uns? Und was machen wir aus ihr? Rüdiger Safranski ermutigt uns, den Reichtum der Zeiterfahrung zurückzugewinnen. Jenseits der Uhren, die uns ein objektives Zeitmaß vorgaukeln, erleben wir die Zeit ganz anders: In der Langeweile, bei der Hingabe, bei den Sorgen, beim Blick auf das Ende, streng gegliedert in der Musik und lose gefüllt beim Spiel. Und wieder anders im gesellschaftlichen Termingetriebe, in der beschleunigten Wirtschaftswelt, in den Medien, in der globalen Gleichzeitigkeit. Facettenreich beschreibt Safranski das Spannungsfeld zwischen Vergehen und Beharren und ermuntert uns, aufmerksam mit diesem wertvollen Gut umzugehen.

Rüdiger Safranski, geboren 1945, studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Wissenschaftlicher Assistent, Herausgeber und Redakteur der Berliner Hefte, Dozent in der Erwachsenenbildung, seit 1986 freier Autor. Für sein in 26 Sprachen übersetztes Werk wurde er u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2014), mit dem Ludwig-Börne-Preis (2017) und dem Deutschen Nationalpreis (2018) ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! Biographie (2019) und Klassiker! (2019, mit Michael Krüger und Martin Meyer). Er lebt in Badenweiler.

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Leseprobe

 

 

Kapitel 2

 

Zeit des Anfangens

 

Die Lust des Anfangens. Berühmte Anfänger in der Literatur, von Kafka bis Frisch und Rimbaud. Der Fall Schwerte/Schneider. Anfangen, Freiheit und Determination. Erster Besuch bei Augustinus: Das programmierte Lied. Offene und geschlossene Zeit. Schwierige Anfänge im modernen Fortpflanzungsgeschäft. Mit sich anfangen und sich übernehmen. Hannah Arendts Philosophie der Natalität. Chancen für vielversprechende Anfänge.

 

Wer kennt sie nicht, diese Lust des Anfangens. Eine neue Liebe. Eine neue Arbeit. Ein neues Jahr. Eine neue Zeit. In der Geschichte wird das neu Anfangende Revolution genannt. Wenn Revolutionen auch immer wieder ihren Kredit verspielt haben, so bleibt doch der Mythos eines lichterlohen Augenblicks, wo alles so aussieht, als finge alles neu an. Die Erstürmung der Bastille 1789, der Sturm aufs Winterpalais 1917, die Öffnung der Mauer 1989. Zeitenbrüche. Solche Augenblicke haben das Pathos der Nullpunktsituation, ein neues Spiel: Wir fangen alle neu an. Was kann sich daraus nicht alles ergeben!

Es gibt Anfänge, die sind zu groß. Eine Liebesgeschichte kann einen Anfang haben, dem eine Fortsetzung nimmer gewachsen ist. Dann dauert die Geschichte so lange, wie die Kraft des Anfangs sie trägt, und folglich wird das Ende des Anfangs der Anfang vom Ende sein.

Alltäglicher sind andere Anfänge. Man fängt mit der Lektüre eines neuen Buches an. Man braucht noch nicht zurückzublättern, weil man irgendwelche Zusammenhänge vergessen hat. Alles liegt noch vor einem. Satz für Satz entrollt sich eine neue Welt.

In jedem wahrhaften Anfang steckt die Chance zur Verwandlung. Man will sich vom Halse schaffen, was einen nach rückwärts bindet – an seine Geschichte, seine Tradition, an die tausend Dinge, in die man verstrickt ist. Aber wie gelingt diese souveräne Geste, etwas hinter sich zu lassen, ohne daran gefesselt zu bleiben? Das ist ziemlich schwierig, umso verlockender sind die Träume und Phantasien eines neuen Anfangs.

In besonderem Maße hat es Literatur mit dem Abenteuer des Anfangens zu tun. Literatur ist im Verhältnis zum Ernstfall des Lebens ein virtuelles Handeln, ein Probehandeln. Ein Autor experimentiert mit Biografien, auch mit der eigenen. Er stellt sich andere Lebensläufe vor. Und schon mit diesem Vorstellungsakt springt er aus der gewöhnlichen Zeitreihe heraus und probiert ein anderes Leben aus. So verstanden ist Literatur fast immer, egal welches ihr Thema ist, der Ausdruck eines neuen Anfangs, jedenfalls macht sie das Verlangen nach einem neuen Anfang häufig zu ihrem Thema.

Ein berühmtes Buch über das Anfangen ist Franz Kafkas 1922 geschriebenes Romanfragment »Das Schloss«. Kafka, der von sich selbst sagte, mein Leben ist das Zögern vor der Geburt, lässt seine Romanfigur, den Landvermesser K., das Experiment eines neuen Anfangs unternehmen. Ohne Vergangenheit, aus einem Nirgendwo kommend, betritt er ein Dorf zu Füßen eines Schlosses, um neu anzufangen. Noch unterliegt K. nicht dem Gesetz des Wahrnehmungsverlustes durch Vertrautheit, Gewohnheit, kulturelle Selbstverständlichkeit. Er hat die Chance, eine ungeheure Welt zu entdecken, die allerdings die gewöhnliche ist, gesehen aus der Perspektive dessen, der noch nicht dazugehört, eben weil er in ihr ein – Anfänger ist. Dieser anfängliche Blick auf die Welt macht wohl den Zauber des Kafkaschen Schreibens aus, nicht nur für uns, sondern für den Autor selbst. Kafka fand Glück im Schreiben, weil ihm hier das Anfangen eine neue Welt aufschloss, auch wenn es sich dabei oft um bedrückende und quälende Geschichten handelt, die aber immer geheimnisvoll und überraschend waren. Deshalb brach er seine umfangreich konzipierten Romane auch ab, wenn der Schwung des Anfangs verbraucht war.

Die Romanfigur »Stiller« (1954) von Max Frisch ist ein anderer moderner Archetyp eines Menschen, der von dem Verlangen nach einem neuen Anfang umgetrieben wird. Stiller war als Bildhauer gescheitert, als Freiwilliger hatte er im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, und die Ehe mit seiner Frau Julika war misslungen. In der Hoffnung, ein neues Leben beginnen und ein anderer werden zu können, flieht Stiller nach Amerika. Später kehrt er unter anderem Namen zurück, wird aber als »Stiller« verhaftet. Es ist die Vergangenheit als Identität der Person, die sich in ihrer Geschichte manifestiert. Stiller wollte den radikal neuen Anfang. Der erste Satz seiner Aufzeichnungen und zugleich der Beginn des Romans lautet: Ich bin nicht Stiller. Was er unter Schmerzen lernen muss: er kann nur neu anfangen, wenn er sich annimmt. Ein neuer Anfang wird nicht gelingen, wenn man vor sich flieht. Oder doch?

Da gibt es eine Geschichte, diesmal eine, die sich wirklich zugetragen hat und vor einigen Jahren aufgedeckt wurde. Inzwischen ist sie schon fast wieder vergessen, obwohl Claus Leggewie ein eindringliches Buch darüber geschrieben hat.

Am 2. Mai 1945 meldete sich bei den Behörden in Lübeck ein gewisser Hans Schwerte und behauptete, seine Papiere im Osten verloren zu haben. In Wahrheit handelte es sich um den 1909 geborenen Germanisten und SS-Offizier Dr. Hans Ernst Schneider. Er war Leiter des »Germanischen Wissenschaftseinsatzes« in Himmlers »Amt Ahnenerbe« gewesen, einer Einrichtung, die u.a. den medizinischen Menschenversuchen im Konzentrationslager Dachau zuarbeitete. Von 1940 bis 1942 war er in den besetzten Niederlanden als Herausgeber von Propagandaschriften und bei der Kontrolle des Hochschulwesens tätig.

Dieser Dr. Schneider fing als Hans Schwerte ein neues Leben an, heiratete seine Frau zum zweiten Mal, studierte und promovierte nochmals, diesmal über den »Zeitbegriff bei Rainer Maria Rilke«, habilitierte sich über »Faust und das Faustische. Ein Kapitel Deutscher Ideologie«, ein Klassiker der liberalen, ideologiekritischen Germanistik. Er machte Karriere, wurde 1965 auf einen Lehrstuhl an der RWTH Aachen berufen, war dort von 1970 bis 1973 Rektor, wurde Beauftragter für die Pflege der Beziehungen zu den Hochschulen der Niederlande, wobei er dann teilweise für dieselben niederländischen Universitäten zuständig war wie dreißig Jahre zuvor als SS-Mann. Er war ein bei den Behörden und den Studenten beliebter Hochschullehrer, ein Großordinarius, ein Promotor der liberalen Hochschulreform der siebziger Jahre, ein Wissenschaftler, dessen literaturhistorisches Werk als Beispiel für den modernisierten Geist seines Faches, der Germanistik, galt. Mit einem Bundesverdienstkreuz ging Schwerte in den Ruhestand, aus dem er 1994 aufgeschreckt wurde, als er davon Kunde erhielt, dass niederländische Fernsehjournalisten seine Enttarnung vorbereiteten. Ihr kam er im selben Jahr mit einer Selbstanzeige zuvor. Die Habilitation und die Professur samt Ruhegehalt wurden ihm aberkannt, obwohl sie doch fachlich gesehen durchaus redlich erworben worden waren. Nicht lange vor seinem Tod 1999 in einem Altersheim erklärte Schwerte/Schneider, er verstünde die Welt nicht mehr, er habe sich doch selbst entnazifiziert.

Man hat gesagt, Hans Schwerte hätte auch als Dr. Schneider im Nachkriegsdeutschland Karriere machen können. Das mag sein. Jedenfalls aber hat ihm der äußere Identitätswechsel zunächst die öffentliche Beschämung und Buße erspart. Das wirklich Frappierende am Fall Schwerte/ Schneider ist, dass dieser Identitätswechsel offenbar nicht nur äußerlich war. Schneider hatte sich ein neues Innenleben, ein Schwerte-Innenleben eben, zugelegt. Als Lernprozess kann man das nicht bezeichnen, dazu geschah alles zu abrupt. Schwerte hatte fast übergangslos den Dr. Schneider abgelegt und sich den Schwerte angezogen, um hier einmal den schönen paulinischen Ausdruck für die plötzliche Bekehrung zu verwenden. Aus dem Rassetheoretiker wurde fast über Nacht ein Kritiker der völkischen Literatur. Er ist nicht an dem Identitätswechsel zerbrochen; er hätte wohl bis zum Ende Schwerte bleiben können. Wo wäre dann der Dr. Schneider geblieben? Wie hat der Professor Schwerte mit dem Dr. Schneider, der er gewesen war, zusammengelebt? Innere Spannungen muss es gegeben haben. Es gibt in Schwertes Schriften erstaunlich viele Passagen, die sich mit der Problematik des Rollenspiels und des Maskentragens beschäftigen. Tatsächlich war ›Schwerte‹ mehr als eine Maske für ›Schneider‹. Besser passt das Bild von der Puppe in der Puppe. Die eine Biografie wurde über die andere gestülpt, ein Beweis dafür, dass in einer Biografie Raum für mehrere Biografien ist.

Unabhängig von der moralischen Beurteilung des Falles Schwerte/Schneider ist dieser Vorgang eindrucksvoll, weil er vorführt, wie man tatsächlich einen neuen Anfang mit seiner Biografie machen kann. Dass es ausgerechnet einem Angehörigen des Faches Literaturwissenschaft, die es ja zumeist mit einer imaginären Verklärung von Identitätswechseln (denn was sonst ist Literatur?) zu tun hat, so trefflich gelungen ist, diesen Identitätswechsel im praktischen Leben durchzuhalten, sorgt für den zusätzlichen Reiz dieser Geschichte. Weil Geschichten dieser Art eben zu den Verlockungen der Literatur gehören, kann es gut sein, dass irgendwann der Fall Schwerte/Schneider als neuer »Stiller« einen Auftritt haben wird.

Schwerte/Schneider lebte nach dem Grundsatz, den Arthur Rimbaud 1871 als Programmatik der poetischen Avantgarde verkündet hatte: Ich ist ein Anderer. Schwerte/Schneider hat...

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