SANKT PETERSBURG
Санкт-Петербург:
Der Westen im Osten
Die fremde Seele
Ein paar Jahre später, an einem Sonntag im August, sitze ich im Flugzeug Richtung Sankt Petersburg, und alles, was ich unter mir sehe, ist ein grünes Meer aus Bäumen.
Hinter mir liegen Interviews mit Bekannten und Verwandten. Ein Treffen mit meinem Vater, den ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Abende, an denen ich über meiner Reiseroute brütete, und Nächte, in denen ich auf Russisch träumte.
Jetzt schwinden die Kilometer bis zur Ankunft in dem Land, das sich über neun Zeitzonen erstreckt, doppelt so groß wie die USA ist, dabei aber nur halb so viele Einwohner hat. Ein Land, von dem es heißt, dass man es nicht mit dem Verstand fassen kann. Ein Land, dessen Seele mir so fremd ist wie der dunkle Wald da unter mir – und das doch die Heimat meiner Familie war.
Neben mir sitzen zwei Frauen. »Und Sie, junger Mann? Was haben Sie in Russland vor?«, spricht mich die deutlich Ältere der beiden an.
»Ich will mir ein Auto kaufen und bis zum Pazifik fahren«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Sie wollen sich ein Auto in Russland kaufen?« Beide schauen mich ungläubig an. »Und bis zum Pazifik? Durch die Taiga? Wieso das denn?«
»Warum denn nicht?«
»Aber in der Taiga ist absolut nichts, da wird man von der Leere verschluckt!«, gibt die Ältere zu bedenken.
»So schlimm wird es hoffentlich nicht sein. Ich war schon an ganz anderen Orten.«
»Vielleicht«, entgegnet die junge Frau skeptisch, »aber die Taiga ist anders. Da herrschen Gesetze, die du nicht kennst. Die Bären werden dich zum Frühstück verspeisen!«
Dann wendet sie sich der alten Dame zu, und die beiden fangen an, sich über die Situation in der Ukraine zu unterhalten. Vor Kurzem erst hat Russland die Krim annektiert; ich höre sie davon reden, dass man den ukrainischen Drecksäcken und Verrätern, diesen Faschisten, keinen Meter geben dürfe. Und schon sind wir bei Putin. Wie gut es sei, einen Mann an der Spitze des Staates zu haben, der mit der so oft zitierten silnaja ruka regiere, der eisernen Faust.
Ungewöhnlich ist das nicht. Es gibt eine Denkschule, die besagt, dass Russland für immer eine Autokratie sein werde, dass westliche Regierungsformen in diesem Riesenland schlicht nicht funktionierten. Es sei einfach zu groß und zu chaotisch, Macht könne unter diesen Umständen nicht dezentralisiert werden. Im Gegenteil: Nur mit eiserner Faust lasse sich das gigantische Reich zusammenhalten. Vielleicht ist diese Argumentation zu einfach, dennoch zieht sich das Phänomen wie ein roter Faden durch die russische Geschichte, von den frühesten Herrschern bis heute.
Schließlich setzt die Maschine unter dem Applaus der Passagiere auf, rollt aus und entlässt uns in das brandneue Terminal des Flughafens Pulkowo, in dem die Böden und die Glasflächen auf Hochglanz poliert sind und die Zöllnerinnen in Miniröcken und auf Stöckelschuhen umherlaufen. Das Klack-klack, die Vorliebe der russischen Frauen für Absätze, wird mich über 12.000 Kilometer bis nach Magadan am Pazifik begleiten.
Meine Mutter will nie wieder einen Fuß in dieses Land setzen, aber ich stehe jetzt hier und warte, bis die Beamtin in dem Glaskasten meinen Pass stempelt. Ein russisches Sprichwort kommt mir in den Sinn: »Du suchst den gestrigen Tag – er ist bereits vergangen.« Maybe so. Aber ohne Gestern kein Heute, oder?
In der U-Bahn rattere ich Richtung Stadtzentrum. Das Innenlicht flackert. Vom Band Informationen in der Landessprache über die nächsten Stationen. Ich hoffe, dass sich mein verschüttetes Russisch möglichst schnell wieder zutage fördern lässt, sodass ich nicht stumm durch dieses Land laufen werde wie einst meine Vorfahren. Daher kommt der Begriff für die Deutschen: nemetz – stumm. Bei der großen Einwanderungswelle im 18. Jahrhundert wurden alle Ausländer so bezeichnet: »Einen Deutschen nennt man bei uns jeden«, schrieb Nikolai Gogol 1832, »der aus einem fremden Land stammt, sei er nun Franzose oder Großkaiserlicher oder Schwede, immer ist er ein Deutscher.« Während die anderen Völker im Laufe der Zeit andere Namen bekamen, blieb der Begriff »stumm« an den Deutschen haften, das war das namentliche Schicksal der größten Einwanderergruppe.
Am Newski-Prospekt, der Hauptader der Stadt, erblicke ich wieder das Licht der Welt. Bei 32 Grad im Schatten läuft mir nach ein paar Minuten schon der Schweiß über den Rücken. Ich suche mein Hotel auf diesem endlosen Boulevard, dessen Häuserzeilen früher Metzger, Bäcker und Fischverkäufer beherbergten und wo vor knapp 100 Jahren 150.000 Arbeiter marschierten und »Brot, Brot, Brot!« skandierten. Bewaffnet mit Messern und Hämmern, stellten sie sich gegen die Kräfte des Zarenregimes. Bald war die Monarchie der Romanows am Ende, und die Symbole der Revolution – die gebrochene Kette und die strahlende Sonne – erschienen auf Bannern und Zeitungsköpfen.
Heute reiht sich am Schauplatz der Russischen Revolution, die am Ende das zaristische Joch durch das kommunistische ersetzte, Restaurant an Restaurant; ihre Markisen hängen träge in der schwülen Luft. Die Männer auf den Terrassen ignorieren die zahllosen Frauen in luftigen Kleidchen und auf klippenhohen High Heels. Ein alltäglicher Anblick, an den sie sich schon lange gewöhnt haben. Sie interessieren sich eher für die BMWs und Audis und deren Fahrer, die an der roten Ampel mit nervösen Sohlen die Maschinen hochjagen und dann bei Grün über den Boulevard donnern, als gäben die Lichter das Signal für die Daytona 500. Das kraftvolle Röhren der Motoren hallt von den historischen Mauern wider, aber die Palais und Kirchen haben in den drei Jahrhunderten ihres Bestehens schon ganz anderes erlebt.
Alessia ist so zierlich, dass sie in ihrem SUV nahezu verschwindet. Sie hat grüne Augen, ist 27 und die Freundin einer Freundin aus Berlin, die sich bereit erklärt hat, mir einen ersten Überblick über Sankt Petersburg zu verschaffen. »Steig ein«, sagt sie, und ich ziehe die Tür des BMW hinter mir zu.
Handzahm fahren wir den Newski-Prospekt entlang, vorbei an den Touristenmassen, den zahlreichen Kanälen, der riesigen Kasaner Kathedrale. Nach einer Brücke machen wir eine Kehrtwende, sodass ich einen Panoramablick auf diese bombastische Stadt habe, die in der untergehenden Sonne glüht. Die Wolken leuchten fast purpurn.
Der Maßstab der Fünfmillionenstadt, ihre Größe und Wirkung sind fast surreal: die unendlichen Boulevards, die weitläufigen Plätze und die Weißen Nächte, wenn die Sonne fast nicht untergeht. Eine Stadt der Ausblicke und des Lichts, errichtet mit den Idealen der Aufklärung von einem jungen Zaren, der sich in den westlichen Ländern gebildet hatte.
Als Peter der Große die Stadt 1703 gründete, rümpfte der russische Adel kollektiv die Nase: ein sumpfiges Loch an der Mündung der Newa im abgelegenen Nordwesten des Reichs, am Finnischen Meerbusen? Unerhört! Aber bald schon sollte Petersburg der alten Hauptstadt Moskau den Rang streitig machen und zukünftige Generationen inspirieren. Auch wenn zu Beginn der Adel noch per Dekret in die neue Stadt beordert werden musste.
Peters Lebensstil würde man heute unter der Kategorie »work hard – play hard« verbuchen. Er trank und feierte tatsächlich wie ein Großer, während er gleichzeitig Russlands Gesellschaft und Politik von Grund auf umkrempelte, um endlich auf Augenhöhe mit den Großmächten Frankreich, Großbritannien und Spanien zu gelangen. Alexander Puschkin, der Vater der russischen Literatur, spricht ein gutes Jahrhundert später in seinem Gedicht »Der eherne Reiter« davon, dass Peter mit seiner Stadt »ein Fenster nach Europa hin« geöffnet habe.
Das Fenster mag der Herrscher geöffnet haben, gebaut aber haben es Zehntausende Leibeigene, die zwangsrekrutiert worden waren und während der Schufterei für Peters Vision an Skorbut, der Ruhr, an Hunger und Erschöpfung starben.
Alessia arbeitet für eine Filmproduktionsfirma, und Sankt Petersburg ist für sie die schönste Stadt der Welt. Trotzdem denkt sie darüber nach, ihr und ihrem Land den Rücken zu kehren.
»Es wird immer schlimmer«, meint sie, als wir unsere kleine Rundfahrt fortsetzen und an der Universität vorbeikommen. »Schon jetzt darf man nichts Negatives mehr über die Annexion der Krim sagen. Aber viele denken natürlich auch ganz anders darüber, finden es gut, wie Putin das Land führt.«
An einem Park hält Alessia an, und wir steigen aus. »Hast du schon was gegessen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, stellt sie sich in die Schlange eines Imbisses.
»Hier.« Kurze Zeit später drückt sie mir einen Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade in die Hand. »Sind zwar nicht die besten der Stadt, schmecken aber ganz ordentlich.« Dazu reicht sie mir ein Gläschen Wodka. Sto gramm – 100 Gramm. Eine gängige Trinkgröße in diesem Land.
»Willkommen in Russland«, sagt sie, warnt mich aber im selben Atemzug: »Pass auf, im Glas ertrinken hier mehr Menschen als im Meer.«
Wir setzen uns auf eine Parkbank und beobachten das Treiben. In der Mitte des Platzes sprudelt eine Fontäne. Um den Brunnen torkeln mehrere Männer in blau-weiß gestreiften Shirts und mit Käppi auf dem Kopf. Einige liegen bewusstlos auf dem Boden, andere werden von ihren Kameraden aus dem Delirium geohrfeigt, nur damit...