Grenzverkehr
Gut kann ich mich an den kleinen Grenzverkehr meiner Kindheit erinnern. Auf dem Berg, auf dem wir lebten, war ich, soweit ich es wahrnahm, der einzige Ausländer. Es gab außer meinem Namen und meinen schwarzen Haaren nichts, was mich im Kindergarten oder in der Grundschule, auf der Straße und unter Freunden als Fremden markiert hätte. Sogar mein Deutsch hatte die Melodie und das rollende R unserer Mittelgebirgslandschaft. Wenn ich jedoch nach Hause kam, war es, als ob ich eine Grenze überschritten hätte. Von einem Schritt auf den anderen Schritt wechselte die Sprache, änderten sich meine Verhaltensweisen, folgte ich anderen Benimmregeln und war, ohne es zu reflektieren oder gar als problematisch zu empfinden, umgeben von Formen, Gerüchen, Geräuschen, Menschen und Farben, die es jenseits der Türschwelle nicht gab.
Für mich war sie so gewöhnlich wie meine eigene Haut, aber auf meine Freunde übte diese Welt, wenn ich mich nicht täusche, eine Faszination aus, die sich darin äußerte, daß sie es in der Regel vorzogen, bei uns zu spielen. Vielleicht war es die Neugier, die das Fremde weckte, vielleicht waren es nur die anderen, für uns Kinder laxeren Gesetze, die in unserer Welt herrschten. Es gab keine verbotenen Räume, keine festgelegten Essenszeiten, keine Eltern, die sich in alles einmischten, nur ein paar Brüder, die schon deshalb nicht störten, weil sie älter waren und mit lauter spannenden Angelegenheiten beschäftigt: Freundinnen, Feten, Fußball, Rockmusik. Ansonsten waren Haus und Garten unser. Ich weiß nicht und habe damals auch nicht darüber nachgedacht, ob die Verhältnisse bei uns typisch persisch waren, aber sie waren anders als bei meinen Freunden, und das spürten diese so gut wie ich. Mit diesem Bewußtsein, daß es drinnen und draußen, jenes und dieses gibt, bin ich großgeworden, und ich habe heute das anmaßende Gefühl, meinen Freunden in dieser Hinsicht etwas vorausgehabt zu haben. Ich brauchte niemals Aufklärung darüber, daß das, was ist, nicht alles ist.
Nun waren die Welten nicht so streng geschieden, wie man vermuten könnte. Es gab Einschulungen und Kindergeburtstage, Elternsprechtage und Besuche meiner Eltern auf dem Fußballplatz, und bei all diesen Gelegenheiten waren die Trennlinien aufgehoben, ich sprach Deutsch und im nächsten Satz, wenn ich mich zu meinen Eltern wandte, Persisch in meinem siegerländisch-isfahanischen Akzent. Gelegentlich war das ein bißchen komisch, aber für mich eben dennoch normal: Zum Beispiel sieze ich meine Eltern auf persisch, was im Deutschen nicht mehr möglich ist, ohne sich lächerlich zu machen. Also versuchte ich damals schon zu vermeiden, meine Eltern auf deutsch anzusprechen; ich sprach zwar, wenn meine Freunde dabei waren und es sein mußte, mit ihnen deutsch, aber ich redete sie nicht an; ich suchte andere, indirekte Formulierungen, denn andernfalls hätte ich sie duzen müssen, und das wäre mir unangenehm gewesen. Aber siezen konnte ich sie natürlich auch nicht, zumal nicht im Beisein von meinen Freunden. Wie hätten sie mich denn angeschaut, wenn ich gesagt hätte: Vati, bitte holen Sie mich um drei vom Fußballplatz ab? Es war nicht, daß ich es als Zwang empfand, meine Eltern zu siezen; daß ich sie duzen wollte, aber es nicht gedurft hätte. Es war für mich so normal, wie es normal ist, zum Schlafengehen einen Schlafanzug anzuziehen. Es war mir auch nicht peinlich, und so habe ich kein Geheimnis daraus gemacht, daß ich meine Eltern siezte; ich kann mich erinnern, es ein paarmal meinen Freunden erzählt zu haben, als Kuriosität, nicht als Geständnis. Und das Kuriose entstand, wenn ich es mir heute versuche deutlich zu machen, eben dadurch, daß sich die beiden Räume, von denen ich sprach – das Innen und das Außen –, durch die Anwesenheit meiner Eltern auf dem Fußballplatz oder dem Schulhof ineinander geschoben hatten und ich nun die beiden Verhaltenskodexe oder Umgangsformen, die normalerweise strikt voneinander geschieden waren, gleichzeitig anwenden mußte. Das war nicht der normale Zustand, aber es war auch nicht schlimm. Es war ab und zu nur ein wenig kurios.
Ich will nicht behaupten, daß ich meine Fremdheit niemals als Problem empfunden hätte. Aber es war, wenn überhaupt, kein besonders großes Problem. So war ich beispielsweise niemals so ordentlich wie die anderen Kinder, und das hatte etwas mit meinen Eltern zu tun, das spürte ich. Mein Ranzen zum Beispiel war niemals so systematisch gepackt wie die Ranzen der anderen Kinder, meine Hefte waren nicht so sorgsam gepflegt, und niemals hatte ich so schöne Brotzeitdosen wie meine deutschen Freunde. Mein Butterbrot hatte meine Mutter immer in kleine Plastiktüten gepackt, die sie vom Einkaufen mitgebracht hatte, also zum Beispiel aus der Apotheke oder der Drogerie. Ich erwähnte bereits, daß wir zu Hause keinen so minutiös geregelten Alltag hatten wie meine Freunde, und was ich normalerweise gut fand, daß ich nämlich mehr Freiheiten hatte als sie, das empfand ich gelegentlich auch als Nachteil. Ich hätte auch gern so ordentlich geschmierte, wie mit dem Lineal abgeschnittene Butterbrote und nagelneue Brotzeitdosen gehabt, aber das von meiner Mutter zu erwarten war völlig unrealistisch, und das hatte wohl auch damit zu tun, daß wir aus einer anderen Kultur stammen, in der eine solche Ordnung und Ordentlichkeit, diese klinische Reinlichkeit und feste Regelung des Tagesablaufs unbekannt sind. Es gab also durchaus Momente, in denen mir mein Fremdsein als etwas Hinderliches auffiel, doch waren sie nicht sonderlich gravierend. Als Siebenjähriger hielt ich die Geometrie von Butterbroten für wichtig, aber nicht für existentiell.
Daß Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen – dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme. Im Habsburger oder im Osmanischen Reich, bis vor kurzem in Städten wie Samarkand oder Sarajewo, heute noch in Isfahan oder Los Angeles waren oder sind Parallelgesellschaften kein Schreckgespenst, sondern der Modus, durch den es den Minderheiten gelang, einigermaßen unbehelligt zu leben und ihre Kultur und Sprache zu bewahren. Ohne sie gäbe es vermutlich keine Christen mehr im Nahen Osten, und ihr heutiger Exodus hat viel mit dem verhängnisvollen Drang mal der Mehrheitsgesellschaft, mal der Staatsführer, mal von ein paar hundert Terroristen zu tun, Einheitlichkeit herzustellen und kulturelle Nischen auszumerzen.
Dieser Drang ist nicht auf die islamische Welt, den Balkan oder Schwarzafrika beschränkt, sondern hat sogar das Mutterland des Multikulturalismus erfaßt: Indien. 2002 sind im indischen Bundesstaat Gujarat bei Ausschreitungen 2500 Muslime ums Leben gekommen. Eigentlich waren es keine Ausschreitungen; wie sich herausgestellt hat, war es ein präzise vorbereitetes, gut organisiertes Massaker. Nun läßt sich in Indien mit Geld und Alkohol relativ leicht ein Mob aufhetzen, Gewaltausbrüche sind also nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich war das Ausmaß der Gewalt, vor allem aber die Tatsache – und die indische Presse spricht inzwischen von einer Tatsache –, daß die Regierung in Gujarat das Massaker aktiv befördert hat. So sah die Polizei der Gewalt tagelang tatenlos zu, schlimmer noch: trieb sie an vielen Orten Menschen, die fliehen wollten, zurück in den Mob. Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei BJP, sogar Kabinettsmitglieder gaben per Handy Anweisungen, welches muslimische Viertel als nächstes überfallen werden sollte. Die Verfahren gegen die Beteiligten verliefen sämtlich im Sande.
Die BJP ist keine kleine extremistische Partei, sondern regiert zahlreiche indische Bundesstaaten und hat bis vor kurzem auch in der Hauptstadt Delhi den Ministerpräsidenten gestellt. Nach den nächsten Parlamentswahlen könnte sie wieder an die Regierung kommen. Neben der säkularen Kongreß-Partei ist die BJP, die man mit gutem Grund fundamentalistisch nennen kann – indische Intellektuelle wie Arundhathi Roy bezeichnen sie sogar als faschistisch –, die zweite politische Kraft des Landes. Wenn man die Nachrichten liest, könnte man daher meinen, Indien werde akut vom Extremismus bedroht. Der Eindruck im Land ist ein völlig anderer. Natürlich gibt es Extremisten, und in einem Bundesstaat mit immerhin 60 Millionen Einwohnern, in Gujarat, stellen sie sogar die Regierung. Die Situation der religiösen Minderheiten dort, auch der Christen, ist weiterhin trostlos. Aber der Extremismus prägt nicht das Lebensgefühl der Inder und wäre bei nationalen Wahlen nicht mehrheitsfähig. Noch immer sind die Trennungslinien zwischen Hinduismus, Islam und anderen Religionen in der Regel weit durchlässiger, als es sich religiöse Führer in Kairo oder Rom je werden ...