Kapitel Eins
Der Tag X. New York. Es klopft an der Tür meiner Suite 717 im Sheraton. Razzia bei MEG in Kassel.Anklage wegen Scheinselbstständigkeit.
Wir sitzen im Bug eines yachtähnlichen Gebäudes, das der türkischen MEG als Firmensitz dient. Draußen brütet die Hitze. Der Himmel über Kuşadası an der türkischen Riviera ist tiefblau. Drinnen kühlen Klimaanlagen Gökers Büro, das mit zwei Ensembles aus Ledersofas und Couchtisch, eins links, eins rechts, eingerichtet ist. In Vitrinen und auf den Schränken die Trophäen des 36-Jährigen. Schwarze Granitblöcke von der Halleschen für den besten Versicherungsvertrieb, eine Frauenfigur, auf deren Fuß ein goldenes Schildchen mit Rekorddaten angebracht ist. Mehmet E. Göker war jahrelang der erklärte Liebling der Versicherungsbranche im Bereich PKV, private Krankenversicherungen. Seine damals in Kassel ansässige Firma MEG brachte seinen Premiumpartnern, wie der Halleschen Krankenversicherung, AXA, Allianz und der Bayerischen Beamtenkrankenkasse viele Kunden. Das Geschäft mit den Provisionen lief so gut, dass Gökers Aktiengesellschaft immer schneller wuchs. Manche Premiumkunden zahlten an den Vermittler an der Spitze bis zu 21 MB, so kürzen die Versicherungsprofis den Begriff ›Monatsbeitrag‹ ab.
2007 bekam ich von meinen Freunden eine New-York-Reise als Geburtstagsgeschenk. Einmal die US Open aus nächster Nähe erleben – ein Festtag für uns Tennis-Fans. Wir haben ein Spiel von Roger Federer gegen einen eher unbekannten Spieler gesehen. Federer hat in drei Sätzen gewonnen. Und ein Spiel der Israelin Shahar Peer.
Weitläufige Executive Suite im Sheraton, ganz oben, wo ich damals auch hingehörte. Alles picobello, alles vom Feinsten. Zwei riesige Flatscreens, ein großzügiges Bad. Für New Yorker Verhältnisse, wo selbst in 5-Sterne-Hotels die Zimmer eher klein sind, war das wirklich üppig.
Wir waren mit Lufthansa Business Class nach New York geflogen – tolles Wetter, 30 Grad im September, sehr heiß. Und wir haben uns das volle Programm gegeben: Central Park, die Hamptons, 5th Avenue, Shopping, als gäbe es kein Morgen mehr …
Schöne Tage. Dann kam der Abend des 2. September: Wir sind in so eine typische, dunkle, holzvertäfelte Bar gegangen. Zu dritt sind wir dann noch um die Häuser gezogen. So gegen ein zwei Uhr wurde ich müde, und wir sind zurück ins Hotel.
Frühmorgens gegen fünf klopft es an meiner Tür. Knockknockknock ... ›Was ist los?‹, denke ich. Vor der Tür stehen Marth und Kammerer und sagen, der MEG-Sicherheitsbeauftragte Marinko habe sie angerufen: Razzia in der Hauptverwaltung in Kassel. 100 Mann. Ich darauf: ›Bleibt mal locker, ihr wisst doch, Marinko übertreibt gerne. Da sind wahrscheinlich 20 Leute vom Finanzamt, die sich die Bücher ansehen wollen. Bleibt cool!‹ Ich rufe in der Hauptverwaltung an, um mit meinem Vertriebsvorstand Björn Kotzan zu sprechen.
Ich: »Björn, der Marth steht vor meiner Tür und erzählt was von 100 Mann, die eine Razzia machen?«
Björn: »Nein, stimmt nicht, es sind 200, und sie suchen nach Schwarzgeld. Steuerhinterziehung.«
Ich: »Ach, du Scheiße! Seid offen, wir haben nichts zu verbergen, bleibt bei der Wahrheit.«
Inzwischen waren etwa 300 SMS eingetrudelt. Tenor: ›Egal, was ist, wir stehen zu dir!‹ An diesem Tag hatten 40 Neue angefangen. Einer davon, Emmanuel Matschlik (er hat später Karriere bei uns gemacht), schrieb mir: »Mensch Mehmet, zwei Tage hier, kommt eine Riesenrazzia. Geile Firma! Hier bin ich richtig.« So begann der schwarze Dienstag, der 4. September 2007. Das war – abgesehen vom Todestag meines Vaters – der schlimmste Tag meines Lebens.
Das Komische war, dass es keinerlei Vorzeichen gegeben hat. Die Aktion kam – zumindest für mich – komplett überraschend. Ich war politisch nicht vernetzt, habe wirklich nichts gewusst. Zuerst habe ich die ganze Sache im Videotext mitverfolgt. In Kassel wurden derweil Straßen abgesperrt. Mehrere Fernsehteams waren vor Ort. Habe dann auch genau miterleben dürfen, was Neid bewirkt. Gegenüber von der Firma war eine Bushaltestelle. Dort sind einige der ärgsten Neidhammel hingepilgert und haben ihre mitgebrachten Billig-Sektflaschen geköpft, so nach dem Motto: »Geil, jetzt machen sie den Göker platt!« Ohne das mit einem Krieg vergleichen zu wollen: Aber die Razzia war mein persönliches Pearl Harbor! Morgens um fünf hinterrücks attackiert von den Bullen! 62 anonyme Anzeigen: Göker macht illegale Geschäfte. Göker hinterzieht Steuern. Göker hat Kontakte zur Unterwelt. Alle Menschen, die sich nicht erklären können, dass einen Talent, harte Arbeit und Disziplin nur in eine Richtung bringen – nämlich nach oben –, vereinen sich gegen dich. Das größte Lob bekam ich am zweiten Tag durch einen Online-Kommentar in der HNA (Hessische Niedersächsische Allgemeine). Da schrieb einer sinngemäß: ›Woran man erkennt, dass Göker ein Betrüger und Hochstapler ist, ist doch ganz klar. Dass was Göker gemacht hat, haben 50.000 Deutsche nach dem 2. Weltkrieg probiert und keiner hat es geschafft, so ein Imperium aufzubauen. Da liegt es doch auf der Hand, dass ein 27-jähriger Türke das erst recht nicht kann. Und dann noch legal!‹ Da ich aber wusste, dass alles legal war, war dies das größte Kompliment meines Lebens. Danke unbekannter Schreiber.
Inzwischen hatte ich von New York aus mit meinen Führungskräften telefoniert und folgenden Kurs abgesteckt: ›Alles locker. Aber passt auf. Die Versicherer in Deutschland kriegen das alles mit. Die werden uns mit Argusaugen beobachten. Die Qualitätssicherung [die sicherstellt, dass keine gefälschten Anträge eingereicht werden, Anmerkung des Verfassers] fällt für eine Woche weg, denn der Umsatz darf nicht zurückgehen. Die werden genau beobachten, ob die Zahlen einbrechen. Wenn der Umsatz gleich bleibt oder nur geringfügig zurückgeht, sagen wir um 10 oder 20 Prozent, werden alle bei der Stange bleiben. Merken die aber, dass das Schiff ein großes Leck hat und sinkt, dann werden alle die Titanic verlassen. Wir müssen jetzt – solange das Loch noch klein ist – reagieren‹. Alle Anträge, so meine Order, müssen umgehend weitergeleitet werden.
Vier Tage später kommt der erste Anruf: »Hallo, Herr Göker, wir haben seit dem Tag der Razzia ganz genau auf Ihre Zahlen geschaut. Nur acht Prozent Rückgang – trotz dieses Debakels. Respekt!« – »Siehst du, Björn, ich hab’s gewusst. Die haben uns genauestens beobachtet!«
Das Gute war: Wir konnten eigentlich normal weiterarbeiten, denn es waren nur elektronische Daten gesichert worden. Im Rückblick wird klar: Diese Razzia – und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die meines Anwalts – entbehrte jeder rechtlichen Grundlage. Von allen Anklagepunkten wie Steuerhinterziehung, Geldwäsche usw. blieb nur der Vorwurf der Scheinselbstständigkeit übrig.
Bei manchen Versicherungen hat jeder Außendienstmitarbeiter Vorgaben. Das fängt bei der Kleiderordnung an und hört bei der Farbe des Büros auf. Alles ist geregelt: Man kann nur diesen Computer und jenen Laptop kaufen, Öffnungszeiten, Gehalt der Sekretärinnen – alles ist vorgegeben. Aber dennoch gelten diese Außendienstler als selbstständig. Normalerweise – und das machen eben auch die großen Versicherer so – ist der Innendienst fest angestellt, und die Verkäufer sind laut HGB § 84 (Handelsgesetzbuch) selbstständige Außendienstmitarbeiter. Die müssen ihre Provisionen selbst versteuern. Aber wir waren ein ziemlich wilder Haufen, hatten flexible Arbeitszeiten, damals noch keine strenge Kleiderordnung. Das war denen – bei dem offensichtlichen Erfolg unserer Truppe – ein Dorn im Auge. Gegen anonyme Anzeigen ist keiner gefeit. Das hat man nicht in der Hand.
Das, was sie mir ursprünglich anlasten wollten, hatte sich bei der Razzia nicht bestätigt. Sie haben alles auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden. Übrig blieb also nur der Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Es kam dann zu einem denkwürdigen Treffen – auf der einen Seite des Tisches ein Typ vom Finanzamt, einer von den Sozialkassen und einer von der Staatsanwaltschaft, auf der anderen Seite ich. Im Vorfeld hatte es geheißen:
Sie: »Können wir uns mal treffen?«
Ich: »Klar, aber ich bringe meinen Anwalt mit ...«
Sie: »Nein, wenn Sie mit Ihrem Anwalt kommen, gibt es kein Treffen. Wir unterhalten uns nur mit ihnen alleine!«
Und dann das Treffen, ohne meinen Anwalt.
Sie: »Also, Herr Göker, Sie wollen keinen Prozess, wir wollen keinen Prozess. Sie haben vier Millionen hinterlegt, eine legen Sie als Sicherheit für die Sozialabgaben noch drauf und dann noch zwei Jahre auf Bewährung …«
Ich: »Nein, auf keinen Fall.«
Sie: »Doch!«
Ich: »Nein!«
Das ging so eine Weile hin und her und dann haben die mit ihrem Chef telefoniert. 1.000 Euro Tagessatz, hieß es. Sie wollten 720.000 Euro, ich wollte ihnen 180.000 geben. Wir wären hier nicht auf einem türkischen Basar, ließ man mich wissen. Die Alternative: Als Sicherheit sollten innerhalb einer Woche noch einmal acht Millionen Euro für ausstehende Sozialabgaben bis zum Prozessbeginn in ein, zwei Jahren hinterlegt werden.
Sie: »Oder wir kommen morgen und nehmen jeglichen Wert aus der Firma heraus, um die acht Millionen abzusichern.«
Ich: »Ich bin 27 Jahre alt, wo soll ich acht Millionen hernehmen. Die vier, die ich hatte, habt ihr euch ja schon genommen.«
Es bestand kein Zweifel, dass sie das knallhart durchziehen würden. Aber dann...