DIE ÖKONOMIE AUF FREUDS SOFA – EINE EINFÜHRUNG
Es muss eine interessante Erfahrung sein, jemanden, der sich selbst als rational, ernsthaft und erwachsen ansieht (und damit auch noch prahlt), einer Psychoanalyse zu unterziehen. Und wenn es legitim (und potenziell hilfreich) ist, diese Methode auf einen Menschen anzuwenden – der durch die ihn umgebenden Strukturen und Institutionen der Gesellschaft geprägt wurde –, warum sollte man nicht dasselbe mit dem System selbst tun können? Mich hat seit jeher die Neugier getrieben, eben dies mit meiner geliebten Disziplin zu unternehmen, der Ökonomie. Aber nicht nur aus Gründen der Neugier: Die ökonomische Weltsicht wird ein immer wichtigerer Teil unseres Denkens. Sie formt die Politik und die globale Gesellschaft. Und auch wenn heute unser materielles Überleben ökonomisch viel unabhängiger von den Wechselfällen des materiellen Zufalls erscheint als zu Zeiten unserer Vorväter (Ernten, Sicherheit, Gesundheit, Erziehung etc.), so ist doch unsere Art des Denkens viel mehr von ökonomischer Logik geprägt.
Wenn die Welt unserer Urahnen in ihrem Denken und ihren Abläufen von der verwirrenden Sprache der Mythen geprägt war; wenn die Griechen danach strebten, logisch zu denken, und die mittelalterlichen Gelehrten, theologisch; wenn Nationalstaaten die Fetische unserer Großväter waren – dann scheint der Fetisch unserer Zeit das Ökonomische zu sein (als ein gesellschaftlich hergestellter, hoch abhängig machender Bevollmächtigter für Glück und Freiheit).
Das klassische Bild der Psychoanalyse ist das eines Patienten, der auf der Couch liegt und erzählt. Der Psychoanalytiker hört zu, macht sich Notizen und reflektiert das Gesagte. Wir werden versuchen, etwas Vergleichbares auf der Ebene der Gesellschaft zu unternehmen. Die grundlegende Methode eines Teils dieses Buches ist es, die Ökonomie auf die Couch zu legen und ihr einfach zuzuhören. Was verbalisiert sie? Worauf hofft und wovon träumt sie? Wovor fürchtet sie sich? Was rationalisiert sie und wie tut sie das? Worüber spricht sie gerne und welche Themen werden mit tabuisierendem Schweigen belegt? Wie sieht sie sich selbst? Wie geht sie mit ihren Emotionen um? Wie steht es um ihre Beziehungen zu anderen? Zu wem schaut sie auf und auf wen blickt sie herab? Wie nimmt sie sich selbst wahr und ihre Rolle in der Welt? Wie verfährt sie mit ihren Werten? Werden diese Werte ausgedrückt, spricht sie über sie? Woran glaubt sie? Welche Mythen und vorgefassten Ideen bestimmen ihr (wissenschaftliches) Denken? Auf welchen Teil der Realität ist sie konzentriert, und wie sieht die Matrix aus, mit der sie all das interpretiert? Welche Dinge weigert sie sich zu sehen?
Natürlich präsentieren sich die Zustände der Wirtschaftswissenschaften in ihren milden Formen recht amüsant – ein Anflug von Narzissmus im Verein mit einem unbehandelten Messiaskomplex ist da zu erkennen.1 Aber es gibt auch einige schwerwiegende Krankheiten des ökonomischen Gemüts: Es leidet offenkundig an einer bipolaren (manisch-depressiven) Störung und erzeugt in beiden Extremen Chaos. Philosophisch und ethisch gesehen glaubt es an die (omnipotente) Macht des Egoismus und predigt diesen »Gospel« (aus dem Altenglischen »gute Botschaft«), als wäre es die führende Kraft auf dem Globus. Das ökonomische Denken ist ein Abkömmling des individuellen Utilitarismus, der alle anderen Werte mit Zynismus straft.
Die Ökonomie ist auch insofern selbstzentriert, als sie sich immer dann, wenn es ein Problem gibt, sofort zum eigentlich verachteten Vater flüchtet (den Staat oder die Gesellschaft), wie man zuletzt gut in der Krise 2008 feststellen konnte.
Wenn die Ökonomie Beziehungen mit anderen Disziplinen eingeht, tut sie das nicht, um zu lernen, sondern weil sie dominieren will (das ist der sogenannte ökonomische Imperialismus, auf den manche Ökonomen auch noch stolz sind). Wir haben es dabei ganz offenkundig mit dem Ödipuskomplex zu tun – dem berühmtesten aller Komplexe –, hier im Verhältnis zur Gesellschaft, aus der die Ökonomie hervorgegangen ist und von der sie sich erfolglos zu emanzipieren versucht. Folglich fühlt sich die Ökonomie2 als Disziplin in der Nähe der Geisteswissenschaften merklich unwohl und sucht die Nähe zu den Naturwissenschaften.3 Die Ökonomen lernen deshalb von der Physik und erwarten, dass der Rest der Sozialwissenschaften ihnen darin nacheifert.
Unnötig zu betonen, dass, wie es die Psychoanalyse lehrt, alles Unterdrückte sich mit verstärkter Kraft erneut Durchbruch verschafft. Aber das Unterdrückte verbirgt sich auch oft im Schatten und will nicht gefunden werden, ganz so, als hätte es eine ganz unabhängige Kraft oder Logik – oder eine Art Überlebensinstinkt. Für unsere Ahnen, die wenig oder nichts von Psychologie wussten, muss das Unbewusste wie eine dämonische, dunkle Gewalt gewirkt haben. Wir wissen das auch aus den ältesten Schriften der Menschheit. Von dieser Macht handelt dieses Buch.
Wir versuchen in diesem Buch zu fragen – so eine solche Frage zulässig ist –, ob und wenn ja welche psychologischen Störungen wir in der Ökonomie und in unserem Wirtschaftssystem als Ganzem diagnostizieren können. In welchem Maße manifestieren sich gesellschaftliche Störungen in der Ökonomie? Welche davon verstärkt sie und welche mildert sie ab?
Die Psychoanalyse konzentriert sich traditionell auf die Mikroebene, setzt sich auseinander mit Individuen und ihrem Leben, ihren Träumen, Hoffnungen, Ängsten, ihren Hass- und Liebesbeziehungen, Fetischen usw. In diesem Buch möchten wir versuchen, die Psychoanalyse auf den Makrobereich anzuwenden, sprich herauszufinden, ob sich in unserer Gesellschaft kollektiv nicht jene Art pathologischer Verhaltensmuster findet, die wir auch bei Individuen konstatieren.
Die Methode, die wir dafür anwenden, lehnt sich nah an jene der Psychoanalyse an, und wie unser Vorbild arbeiten wir mit Mythen, die uns bei der Einordnung der Krankheitsbilder helfen. Mythen sind aktueller als angenommen. Nicht nur in der Psychologie. Was wir heute in wissenschaftlichen und mathematischen Modellen zu codieren suchen, haben unsere Vorfahren in Mythen zu codieren versucht. Und die Verwandtschaft zwischen beiden ist enger als angenommen. Im berühmtesten Briefwechsel zwischen der Physik und der Psychologie, zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein, verweist Freud ganz konkret auf diese Ambiguität: »Vielleicht haben Sie den Eindruck, unsere Theorien seien eine Art von Mythologie, nicht einmal eine erfreuliche in diesem Fall. Aber läuft nicht jede Naturwissenschaft auf eine solche Art von Mythologie hinaus? Geht es Ihnen heute in der Physik anders?«4
Ein Vergleich der alten Mythen mit unserer Zeit zeigt aber auch, in welchem Maße die moderne Kritik am Marktkapitalismus in Wahrheit ein Abbild jener Kritik ist, die seit Urzeiten am menschlichen Dasein selbst geübt wird (und die wir streng voneinander trennen sollten).
Wenn wir unsere Aufgabe erfüllen, kann daraus eine Art Heilmittel für die Ökonomie5 entstehen, ein Teil einer kollektiven Therapie, eine »Therapie der Zivilisation«, wie der Psychotherapeut Luigi Zoja es bezeichnet. Es wäre die Therapie einer etablierten Disziplin, in der viele sehr nette, bescheidene und wohlmeinende Leute tätig sind, die in ihrer Summe aber eine seltsame »Bestie« ergeben, frei nach dem lateinischen Spruch: »Senatores boni viri, senatus autem mala bestia«, »Die Senatoren sind gute Männer, der Senat jedoch eine Bestie«.6
Körper, Seele und Geist der Ökonomie
Bildhaft gesprochen ist die Ökonomie schon unzählige Male in Bezug auf ihren »Körper« analysiert worden (die Realwirtschaft: das Materielle, das Funktionale, Zählbare, die Industrien, die Welt der Produktion und des Konsums). Was dagegen kaum unternommen worden ist, ist das Studium der »Seele« der Ökonomie (der Ökonomie als Wissenschaft: was wir wissen, was wir als System erfassen können, das Intellektuelle, Abstrakte), ganz zu schweigen von ihrem »Geist« (wonach wir uns sehnen, was uns anzieht, warum die Disziplin überhaupt existiert, der Telos, der – wenn dieses Wort erlaubt ist – göttliche Anteil in uns).
Auf dem Gebiet der »Seele« also, der Ökonomie als Wissenschaft (und nicht in der Realwirtschaft), sind unsere Glaubenssätze angesiedelt, unsere Ängste und Hoffnungen, unser politisches Handeln ebenso wie Vorstellungen von Freiheit oder Regulierung. Hier formt die Ökonomie ein Selbstbild, hier nimmt sie sich selbst wahr und hier wurzelt die Geschichte, die ihr eine höhere Bedeutung verleihen soll. Und hier haben häufig auch ihre psychologischen Störungen ihren Ursprung, obwohl sie sich erst am »Körper«, also in der Realwirtschaft wirklich zeigen. Es verhält sich damit so wie bei psychosomatischen Krankheiten, die von der Seele auf den Körper übertragen werden. Körper und Seele sind also sehr stark miteinander verbunden.
Ein Beispiel dazu: Ein mathematisches Modell ist wenig mehr (und nur wenig weniger) als ein rigoroser Glaubenssatz. Oder, noch exakter: ein Glaubenssatz, der »rigorisiert«, gehärtet worden ist. Modelle wurzeln in der »Seele« (der Wissenschaft) und beschreiben und ordnen die Funktion des Körpers (der Realwirtschaft). Diese Modelle werden in diesem System nicht krank, krank werden aber unsere Glaubenssätze und Wünsche.
In dem uns vorliegenden System von einem »Geist« zu sprechen, mag sonderbar klingen – insbesondere wenn das ein Ökonom tut. Der Ausdruck...