Als das Mädchen ein Mensch war
Ein kleines Mädchen macht sich los:
Ich will, ich will …
Absolutes Begehren. Ich will eine Rose zerquetschen, in die Sonne hineinspringen, ich will ein anderes kleines Mädchen, ich will laufen, rund um die Welt, ich will berühmt werden, ich will erfinden …
Mußt du immer so wild sein?
und
Warum hat das kleine Mädchen geweint?
fragen erwachsene Stimmen. Die erste Frage klingt ärgerlich und vorwurfsvoll: Deine Wildheit ist anstrengend und störend. Die zweite Frage enthält die Folgen der ersten: Die Wildheit ist bestraft, gedämpft oder geraubt worden.
Die Mädchenstimmen wünschen und begehren: Wenn ich groß bin, will ich ein Held werden, sagt Johanna. Schwertkämpferin! ruft Maxine Hong Kingston. Ich könnte zur Marine gehen und mit goldenen Abzeichen zurückkommen, überlegt Frankie.
Ich will stark werden, ich hebe Steine und andere Sachen … das ist Gwens Stimme.
Ich will, ich will … das ist Therese.
Wilde Dinge sind klüger als zahme, soviel ist klar, sagt Elaine.
Du urteilst wie ein wilder Fuß, kommentieren Grâce und Régina.
Erst spielen, dann beten, meint Chrétienne.
Keine Blutsfreundschaft mit Erwachsenen, murmelt Karla.
Ich gehe meine Wege, verkündet Rosie.
Braucht nicht jede Frau eine Gattin? fragt Hürü.
Man muß darauf zugehen, entscheidet Catherine Legrand.
Eine weibliche Stimme spricht, eine weibliche literarische Figur steht im Mittelpunkt, doch es ist keine Frau.
Weil sie keine Frau ist, stehen ihr alle Möglichkeiten offen.
Vielleicht wird sie nie eine Frau werden.
Was ist das Besondere daran?
Einer weiblichen Figur stehen alle Möglichkeiten offen.
Einer Figur stehen alle Möglichkeiten offen, obwohl sie weiblich ist.
Eine weibliche Figur ist nicht immer eine Frau.
Eine weibliche Figur denkt nicht an einen Mann.
Eine Figur, obwohl sie weiblich ist, endet nicht gezwungenermaßen als Leiche.
Eine Figur, obwohl sie weiblich ist, lebt in einer eigenen Welt.
Dieses Buch handelt von Mädchengestalten, die in der Kindheit, der Pubertät und an der Schwelle zum Erwachsenwerden auftreten. Für jedes Kapitel habe ich eine oder mehrere Gestalten ausgewählt, die das betreffende Thema aus ihrem Text heraus darstellen. Die Stimmen der Protagonistinnen nehmen manchmal miteinander Kontakt auf, quer durch verschiedene Länder, Sprachen, Kulturen, Milieus und Epochen. Ihre Situationen, ihre Worte sind sich trotz unterschiedlicher Herkunft auffallend ähnlich.
Mich interessiert, wie Autorinnen die Eigenheit der Mädchengestalt kreieren, wie sie Zähmungsversuche durch Erwachsene beschreiben, ob sie Wege und Mittel finden, mit denen die Protagonistin ihr ursprüngliches Wissen und ihre Bewegungsfreiheit ins Erwachsenenalter hinübertransportieren kann.
Meine erste Begegnung mit den heranwachsenden Mädchen in der Literatur liegt sieben Jahre zurück. Zuerst tauchte die zweijährige Meta, die Jüngste von allen auf, dann die Schwestern Ruth und Lucille und die Internatsschülerin Manuela in zweierlei Gestalt. Sie boten genügend Stoff für ein Referat über Mädchen als Heldinnen in der Literatur, das ich an der Bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung hielt.[1] Die Lehrerinnen fragten nach Protagonistinnen, die Prüfungen und Abenteuer bestanden, nach spannenden Figuren, die sich für Mädchen als Vorbilder eigneten. Mit vier Texten habe ich damals angefangen:
Marlen Haushofer: Himmel, der nirgendwo endet
Marylinne Robinson: Das Auge des Sees
Christa Winsloe: Mädchen in Uniform
Christa Reinig: Die ewige Schule
Sie enthielten bereits die wichtigsten Themen dieses Buches: die Wildheit der kleinen Mädchen, die Bewegungsfreiheit eines rauhen, vagabundierenden Lebens, lesbische Liebe, Zähmungsversuche und Verrat durch Mütter und/oder Lehrerinnen, Auflehnung und Widerstand bei den Mädchen, Anpassung bis in die Depression und den Selbstmord hinein, unübliche Verhaltensweisen von weiblichen Erwachsenen, die Bündnisse und Freiheit anbieten.
Die belletristische Literatur ist reich an Mädchengestalten. Im Gegensatz zu den meisten erwachsenen Protagonistinnen ist die Mädchengestalt eine eigenmächtige Figur. Sie ist keinem Mann zugeordnet, nicht einmal der Gruppe der Männer insgesamt. Man hat ihr in der patriarchalen Ordnung noch keinen endgültigen Platz zugewiesen. Das schafft Freiraum.
Die Mädchengestalt hat Aufenthalt in sich selbst. Sie tritt nicht aus sich heraus, nicht neben sich, entfernt sich nicht von sich selbst um eines Mannes oder der Welt des Mannes willen. Sie lebt in einem selbstgeschaffenen Universum, im Zentrum der Welt.
Frankie bewegt sich in Frankie, Meta in Meta, Johanna in Johanna, Catherine Legrand in Catherine Legrand, Grâce in Grâce und Régina in Régina (obwohl Grâce und Régina unzertrennlich sind).
Alle weiteren Figuren, die vorkommen, beziehen sich auf die Mädchengestalt, die im Mittelpunkt des Romans oder der Erzählung steht. Von dort aus treibt sie die Handlung an, bestimmt das Geschehen und die Umgebung.
Eigensinnig sind die Mädchen, die ich hier vorstelle, instinktsicher, genau in ihren Gedanken und Urteilen. Sie philosophieren über Freiheit. Weil sie klein sind, nur Kinder, nur Mädchen, läßt man sie oft gewähren. Man nimmt sie nicht ernst. Selten hört jemand zu, wenn die heranwachsenden Protagonistinnen reden und denken, planen und wünschen. Die Erwachsenen betrachten sie als Noch-nicht-Erwachsene, Noch-nicht-Fertige, Nicht-Gleichwertige wie alle Kinder. Mädchen werden ab und an daraufhin begutachtet, wie sie später einmal als »richtige Frauen« sein, welche Figur sie in der Welt der Männer machen werden.
Es ist nicht klar, ob man sie endgültig zähmen kann. Sie bewegen sich im Grenzland zwischen verschiedenen möglichen Positionen. Mit ihrer Lebenserfahrung von zehn, zwölf Jahren sind sie Trägerinnen eines archaischen weiblichen Wissens. Sie wissen, was weibliche Freiheit ist; sie müssen sie noch nicht zurückerobern.
Ihre Stimmen zeugen von Lebenserfahrung, kritischem Denken, bitteren Lehren, Visionen, Bewährungsproben. Sie offenbaren sich mir, wenn ich sie als tragende Stimmen anhöre, im Zentrum der Welt.
Die Mädchengestalt ist auf eigene Wünsche konzentriert, und sie trachtet nach Exkursion und Expansion. Wenn sie an die Welt insgesamt denkt, so überlegt sie, wie ihr Platz darin aussehen wird. An die Welt des Mannes denkt sie selten, und die Vorstellung, ihr Horizont sollte sich eines Tages auf den Umriß seiner Gestalt reduzieren, ist ihr fremd. Mädchen tuscheln und kichern in einer Clique über Jungen, Männer, Eltern, Körper, Sexualität, aber das Besprochene bleibt irreal. Die Mädchen reden darüber, ohne zu glauben, die erörterten Themen könnten sich in ihrem Leben manifestieren, tatsächlich Teil ihrer Wirklichkeit werden. Manche leben eng mit Mädchen zusammen, verlieben sich in ein anderes Mädchen oder in eine Lehrerin.
Viele Mädchengestalten suchen ein primäres Vertrauensverhältnis zu einer erwachsenen weiblichen Person. Sie suchen eine Vermittlerin zur Welt. Sie möchten in einen Spiegel sehen, aus dem ihnen eine Expertin in weiblicher Welterfahrung entgegenblickt, mit der sie sich messen könnten, wenn sie die Gestaltung ihres eigenen Lebens in Angriff nehmen. Diese könnte ihnen erklären, was weiblich und was heraisch wäre und wie beides sich gemeinsam leben ließe.
Interpretinnen und Interpreten des weiblichen Lebensentwurfes denken in patriarchalen Kategorien, wenn sie sagen: Das Wilde, Rauhe, Ungebärdige wird vergehen, wird sich glätten … es ist eine Phase, daß sie sich dagegen sträubt, das wird sich geben. Aus dem Wildfang wird schon noch eine richtige Frau werden … wenn der Wildfang anfängt, sich für Männer zu interessieren … das Lautstarke, Draufgängerische wird vorübergehen, es ist provisorisch. Ein Mädchen ist ein Provisorium … wenn es so weitermacht, wird es keine richtige Frau.
Wie soll aus einem Provisorium etwas Richtiges werden?
Das Provisorische ist ihre Chance. Formlos, fragwürdig, nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, mit dem Wandel der Gestalt beschäftigt, nicht mit dem erwünschten Resultat der Erwachsenen. Nicht Fisch, nicht Fleisch – doch klar in ihren Wünschen: wenn ich groß bin, will ich ein Held sein. Zwar kränkt sie das Lachen der Erwachsenen; trotzdem will sie ein Held sein. Ihr Wunsch bleibt lebendig, weil sie davon ausgeht, daß die Welt ihr offensteht.
Von einem Mädchen erwartet man, daß sie von heute auf morgen eine zwölfjährige erprobte Lebenserfahrung verlernt und sich in einer künstlich hergestellten Wirklichkeit etwas anderes aneignet, das auf einen Mann und auf die Vormachtstellung aller Männer zugeschnitten ist. Sie soll Gesten, Gebärden, Bewegungsabläufe, Haltungen, Sätze, Gedanken lernen, durch die sie sich zur Fremden wird.[2]
Man hat vor, sie auf einen Bruchteil ihrer Potenz zu reduzieren, ihren Lebensentwurf einzuschrumpfen. Die Bedrohung ist tödlich. Sie löst primär die Krise der Heranwachsenden aus, nicht die körperliche Veränderung.
Einige Protagonistinnen werden durch die Erfahrung sexueller Gewalt übergangslos der Kindheit entrissen. In der schönen Literatur taucht diese Thematik erst seit kurzem häufiger auf. Die wichtigste Wegbereiterin, die das Schweigen gebrochen hat, ist Virginia Woolf.[3]
Durch sexuelle Gewalt wird ein Mädchen gezwungen, sich vom Zentrum ihrer Welt abzuwenden und sich auf den Täter oder...