Der Ochse vor dem Berge
Ich war in München.
Durchgesetzt hatte ich meinen Willen. Nun mochten sie sich hüten, die Sorgen und die Verhältnisse; jetzt fuhr ich dazwischen ...
Und, bei Gott, ich war wieder der Winerle!
In aller Herrgottsfrühe wachte ich auf am ersten Morgen. Die Sonne lachte so lustig durch die gelben Vorhänge, daß ich nicht mehr schlafen konnte. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich erstaunt fest, daß es erst five forty, nein, ich war ja in Deutschland, daß es erst zwanzig Minuten vor sechs Uhr war. Aber es litt mich nicht mehr im Bett! Ich war daheim! In München war ich! Ein Sonnenmorgen war es auch noch! Ich mußte schnell aufstehen und mich freuen! Doch da hieß es leise sein, und auf Zehen schleichen, um die Mammy nicht zu wecken, die sicher sehr müde sein mußte, weil wir so spät zu Bett gegangen waren. Ein Gedanke kam mir: Jetzt wollen wir ein bißchen zaubern! Ich schlich mich in die Küche, suchte, und fand alles, was ich brauchte. Dann machte ich ein Höllenfeuer im Herd an, setzte Wasser auf, kochte Haferflocken, holte Backpulver herbei, knetete Teig, fing an zu backen, stellte die Eier handgerecht hin, schnitt den Speck in dünne Scheiben. Nichts rührte und regte sich. Endlich kam das Dienstmädchen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen:
»Jesses, was macht denn der gnä' Herr?«
» Don't make such a noise!« sagte ich ärgerlich. » Don't you see that this is on the quiet? Now just be a good girl –«
»Jesses!« rief das Mädel entsetzt ...
»San S' still!« begütigte ich. Dieses Münchener Mädel auf amerikanisch angeredet zu haben, war ein starkes Stück! »Ich koch' ein Frühstück! Das soll nämlich eine Überraschung geben! – Also san S' still, Lina, und verderben S' mir die G'schicht' net!«
»Ja, ja!« machte die Lina zweifelnd.
Ich freute mich, dah ich noch bayrisch konnte, und hantierte weiter. Die Überraschung gelang glänzend. Als meine Mutter in die Küche kam, dampfte der Kaffee, der Haferbrei war schön von weißem Rahm umrandet, die Speckscheiben leuchteten golden, die Eier standen Parade in den Eierbechern, und meine amerikanischen Morgenbrötchen waren knusperig –
»Winerle! Aber Winerle! Was machst denn, Winerle?«
* * *
Der Winerle war ich wieder! Da stand das alte Schülerpult, auf das ich einmal eine Kerze so nahe an den Fenstervorhang gestellt hatte, daß der Vorhang in Flammen aufging und die Ohrfeigen nur so flogen. Ich fand noch Hefte, in denen ich unter anderem den pythagoreischen Lehrsatz so mit Ach und Krach bewiesen hatte, und andere Hefte, in denen ich unter anderem die Jungfrau von Orleans auf ihre weiblichen, kriegerischen, zeitpolitischen, übersinnlichen und allgemein menschlichen Eigenschaften in geradezu erstaunlicher Weise würdigte. Da war das alte Tintenfaß noch. Dort hing die lange Pfeife, die ich als geheimer Mitraucher meines Vaters zur Glorie eines wohlangerauchten Pfeifenkopfes miterhoben hatte. Es war da auch das alte Jungensbett, und hier stand der kleine Schreibtisch aus gebeiztem Tannenholz mit der tintenverschmierten, bekritzelten, von Messerschnitten mißhandelten Platte.
Auch fand ich das Demissionszeugnis, das mir bei meinem Hinauswurf aus dem Gymnasium von Burghausen mitgegeben worden war. Es lautete:
in der Religion +++++++++++++gut
in der deutschen Sprache +++++++++++++gut
in der lateinischen Sprache noch+++++++++++++ gut
in der griechischen Sprache +++++++++++++genügend
in der französischen Sprache +++++++++++++genügend
in der Mathematik +++++++++++++gut
in der Geschichte +++++++++++++gut
im Turnen noch sehr +++++++++++++gut.
»Bei seiner guten geistigen Befähigung hätte er weit Besseres leisten können, wenn er mehr Eifer für das Studium besäße und wenn sein Fleiß verlässiger und weniger oberflächlich wäre. Im deutschen Aufsatz zeigte er eine gewisse Gewandtheit.«
»Weil du nur wieder da bist, Winerle!«
Das war wie ein Streicheln.
Ich hätte am liebsten geheult wie ein Schloßhund. Um diese unmännliche Regung zu verbergen, erzählte ich groß und breit, laut und dreist darauf los. Ich war immer im Recht gewesen, immer stark, immer tüchtig. Ich war in der scheußlichsten Weise sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit: aus lauter Gerührtsein, und Verlegenheit über dieses Gerührtsein. Die tollsten Reportergeschichten tischte ich auf, laute Farben noch greller schreien lassend, gebärdete mich wie ergrauter alter Krieger, tat zum Kugeln lebensweise, polterte tollpatschig:
»Das Glück ist angebunden an mich! Das Glück und ich sind Zwillingsbrüder! Also – wir werden das alles schon kriegen!«
»Ach Winerle! Bub'!«
Und der Winerle war glücklich. Auch ging der Winerle ins Hofbräuhaus, Bier trinkend und ein Mordsstück Tellerfleisch dazu essend, für vierzig Pfennige: lächerlich billig für amerikanische Begriffe. Ich hätte am liebsten ganz München umarmt: das lustige Münchner Mädel, den schnauzbärtigen Droschkenkutscher mit seinem weißlackierten Steifhut, das knochige Trambahnweib, das brummig die Schienen säuberte, den feisten Vierbürger sogar. Jedem Menschen hätte ich es eigentlich in die Ohren schreien müssen, so war mir zumute, daß ich, ich, jetzt wieder da sei; zu meiner unbeschreiblichen Freude und zum großen Vorteil für München und das Bayernland. Ich klimperte mit dem Geld in meinen Hosentaschen: was kostet's? In diesem gesegneten Land war alles so billig. Ich ging ins alte Maxgymnasium. Es war gerade große Pause. Auf dem Hof wimmelte es von lärmenden Lateinschülern, die Spiele spielten wie wir Lausbuben damals sie gespielt hatten. Beinahe hätte ich einen Professor angeredet – den da, mit dem großen Vollbart – und ihm gesagt: »Sie! Herr Professor! Ich bin auch einer von den Maxeln! Wie geht's denn, wie steht's? Ich komm' nämlich direkt aus Amerika!« Auch ging ich auf den Viktualienmarkt. Ich aß dort die alten Weißwürste, in der alten Bude, von wohlbekannter alter Frau verkauft, von denen ich so manches Mal geträumt hatte, da drüben in Amerika, wenn der Hunger im Magen zwickte. Ich hatte viel zu tun. Ich mußte in die alte Pinakothek, in die mein Vater mich so oft geschleppt hatte, um mich zur Ehrfurcht vor der Kunst zu erziehen. Auch kaufte ich emsig Brezeln, schleppte Gänse nach Hause vom Viktualienmarkt, erstand gebratene Täubchen im Franziskaner als Mitbringsel für die Mammy, wurde guter Kunde von alten Weibern, die junge Blumen verkauften. Des weiteren mußte ich wissen, und das war mühselig herauszubekommen, was jetzt eigentlich der Castell trieb, wo der Zirmgiebel war, was aus dem Schumacher geworden war, und dem Wolfskehl, und vielen anderen. Der eine war Leutnant, der andere Referendar, ein dritter Beamter; irgend so etwas. Ich fand sie und redete, Gott verzeihe es mir, gar laut und deutlich. Ich mußte doch diesen kümmerlichen Schulbankfreunden klar machen, daß ich ein amerikanischer Reporter war!
Das war etwas! Das war kolossal! Das kam gleich hinter Bismarck!
* * *
Diese deutschen Zeitungen hatten keine Ahnung ...
Ich las so an den Abenden die Münchener Neuesten Nachrichten und begleitete das Lesen mit Hohngelächter. Bei Gott, der ganze Fetzen war nicht umfangreich genug, um mir auch nur genügend Zeilenraum zur Beschreibung eines einzigen großen Feuers zu geben! Ich stellte mit Verachtung fest, wie spärlich die Inserate waren! Es war mir unbegreiflich, daß in diesen kümmerlichen Spalten so wenig an geschilderter, lebendiger, berichteter Wirklichkeit sich vorfand! Es kam mir vor, als lebten diese Zeitungsverleger, diese Schriftleiter, auf einer einsamen Insel; in einem Land von vorgestern, in dem es noch keinen einzigen guten Reporter gab! Und es überkam mich ein Frohlocken: Ich bin ja da! Ich will euch die Zeitung bringen! Ich will euch den Tag schildern! Ich kann euch die Geheimnisse lehren! Ich will euch weisen, wie man totes Papier lebendig macht!
Ich komme schon!
Und eines schönen Tages – ich hatte mich gar nicht damit beeilt; es gab zu viel zu tun mit lauter Freuen – eines schönen Tages also kam ich ...
* * *
Die ungeheure Frechheit, mit der ich Hopplahopp- Menschenkind mich vermaß, der deutschen Zeitung die journalistischen Anfangsbegriffe beizubringen, ist mir eine entzückende Erinnerung. Das war die richtige Reporterfrechheit!
Es war die Frechheit des amerikanischen Zeitungsmannes, die in aller Welt immer wieder die Vorstellung auslöst, dieser amerikanische Reporter sei schließlich nichts mehr und nichts weniger als letzte, größte, aufdringlichste Frechheit. Frechheit schlankweg!! Die menschgewordene Frechheit, die alles über den Haufen rennt, die Leute unverschämt ausfragt, brüllende Überschriften ersinnt, spaltenlang lügt, die unglaublichsten Gerüchte aus immer vollem Lügenbeutel flattern läßt; frech aber auch bereit ist, heute den Nordpol zu entdecken, morgen das innerste Afrika zu erforschen, übermorgen den Präsidenten von Frankreich zu interviewen, und dazwischen über eine Predigt zu berichten, gegen die Spielhöllen einer Großstadt den Zeitungsfeldzug zu inszenieren, die Tuberkulose zu bekämpfen, einen Raubmord aufzuklären, und vielleicht sogar in eigener Person den Raubmörder zu verhaften ... Frech! Sensationell! Amerikanischer Reporter!
* * *
In Wirklichkeit ist diese Frechheit ein Entwicklungsstadium.
Im ersten Stadium wird dem jungen Journalisten mit empfindlichen Hammerschlägen eingehämmert, daß er, der Herr Reporter, ein Dreck ist, eine Gleichgültigkeit, eine belanglose Nebenerscheinung, und daß...