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Die Kunst der Freiheit

In Zeiten zunehmender Unfreiheit

AutorAlexander Van der Bellen
VerlagChristian Brandstätter Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783850339391
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Mike Hammer, Sam Spade, Philip Marlowe - die Helden amerikanischer Kriminalromane gaben dem jungen Alexander Van der Bellen ein Gefühl dafür, was Freiheit ist. Aufgewachsen im Tiroler Kaunertal, erzählt der ehemalige Wirtschaftsprofessor und Grün-Politiker erstmals Details über seine russischen Vorfahren, kleinbürgerliche Gymnasialprofessoren, befreiende Lektüre, das Aufbrechen der stockkonservativen Gesellschaft in Österreich ab 1968 und seine grünen Anfänge. Der rote Faden seiner Erinnerungen und Anmerkungen ist der Begriff der Freiheit - und seine aktuelle Gefährdung durch falsche Reaktionen auf Terroranschläge, durch drohende Einschränkungen von EU-Grundfreiheiten, aber auch durch die leichtfertige Preisgabe der Privatsphäre im Internet. Nachdenklich und präzise räsoniert Van der Bellen über Alltägliches und Politisches, Vergangenes und Zukünftiges, Lokales und Globales: wie er sich über den Puritanismus hinter der Anti-Raucher-Gesetzgebung ärgert, warum akademische Dünkel absolut kontraproduktiv sind, persönliche Erweckungserlebnisse, warum er das Ernst-Strasser-Urteil zutiefst ungerecht empfindet sowie welchem Politikerkollegen zu trauen ist.

Alexander Van der Bellen, geboren 1944 in Wien, ist einer der renommiertesten Politiker Österreichs. Nach dem Volkswirtschaftsstudium an der Universität Innsbruck und einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt am Wissenschaftszentrum Berlin erhielt er 1980 einen Ruf an die Universität Wien. 1994 bis 2012 war der passionierte Raucher Abgeordneter zum Nationalrat für die Grünen, von 1997 bzw. 1999 bis 2008 auch deren Bundessprecher bzw. Klubobmann. Seit 2010 ist er Beauftragter der Stadt Wien für Universitäten und Forschung; nach dem Ausscheiden aus dem Parlament übernahm er ein Gemeinderats- bzw. Landtagsmandat in Wien. Bei den Wiener Wahlen 2015 kandidiert der nachdenkliche Professor nicht mehr.

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Leseprobe

II.POLITIK


91968: Gamsbart-Kultur ade


Erstmals hatte ich 1968 das Gefühl, dass es die Freiheit, von der ich bisher nur in Büchern gelesen hatte, wirklich gibt. Das berühmt-berüchtigte Jahr der Studentenunruhen war für meine politische Sozialisation einschneidend, wichtiger als etwa 1984, das Jahr von Hainburg, die Geburtsstunde der österreichischen Grünen.

Zur Erinnerung: In Österreich gab es zu dieser Zeit eine konservative ÖVP-Alleinregierung, Josef Klaus war Bundeskanzler und Theodor Piffl-Perčević Unterrichtsminister. Bruno Kreisky war seit kurzem Oppositionschef im Parlament. An den Universitäten hatten ausschließlich die Professoren das Sagen („Ordinarien-Herrschaft“), Hertha Firnbergs Reformen waren noch Jahre entfernt. Die „Tiroler Tageszeitung“ berichtete positiv über die Rassentrennung in Südafrika. Das öffentliche Klima würde ich mit Gamsbart-Kultur umschreiben: Heimat, Tradition, Wirtschaftswunder – jedes für sich recht hübsch, aber in der Zusammenballung ganz schön erdrückend.19

Die Aufstandsbereitschaft der österreichischen Studierenden war zunächst noch geringer als heute. Die Hochschülerschaft (ÖH) der Uni Innsbruck setzte sich aus zwei Dritteln CV (katholischer Cartellverband) und einem Drittel RFS (Ring Freiheitlicher Studenten) zusammen. Dennoch schwappten die Studentenunruhen in Berkeley, Paris und Berlin mit einigen Monaten Verspätung auch auf Österreich über, selbst auf die kleine Universität Innsbruck, wo ich eben eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft angetreten hatte. Wir schauten wie gebannt auf die Geschehnisse in Berlin. Wien hingegen schien so weit entfernt wie der Mond, von den Demonstrationen 1965 gegen die antisemitischen Äußerungen von Taras Borodajkewycz, einem Professor an der damaligen Hochschule für Welthandel und bekennendem ehemaligem NSDAP-Mitglied, habe ich nicht viel mitbekommen.20

In Innsbruck übten wir, die Assistenten und Studierenden, ab 1969 also ein bisschen Revolution, zumindest in den Augen machtbewusster konservativer Professoren. Und davon gab es einige, besonders viele an der medizinischen Fakultät, fast so viele an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät, die damals auch uns Ökonomen beherbergte. Es ging vor allem um schlichte Informations- und Anhörungsrechte, um Begründungspflichten der Professoren für ihre Entscheidungen, also letztlich um Transparenz. Wenn die Assistenten Informationsrecht und Begründungspflicht sagten, hörten die Professoren aber: Der Lehrling will dem Meister die Ohren langziehen. Erst mit der Venia Docendi, der Habilitation, werde man ja bekanntlich ein vollwertiges Mitglied der wissenschaftlichen Zunft. Diese Haltung war bei Medizinern besonders ausgeprägt.

Wenn man politische Ziele hat, und diese womöglich auch durchsetzen will, muss man sich organisieren und Allianzen suchen. Das ist an den Universitäten nicht anders. Zunächst galt es Neuwahlen im Assistentenverband anzusetzen und die bis dahin dominierenden Dozenten im Alter 50plus abzuwählen; und ich fand mich auf einmal in der Position des Vorsitzenden des universitären Assistentenverbandes, einer Art rudimentärer Gewerkschaft des sogenannten Mittelbaus. Ich war 25 und nicht einmal promoviert, allein das mag auf manchen professoralen Stier wie ein rotes Tuch gewirkt haben.

Das Wichtigste an 1968 und den Folgejahren war: Man durfte wieder Ideale haben. Heute würde man sagen, da war Spirit, es war eine Art intellektuell-emotionaler Befreiung. Natürlich habe ich nicht verstanden, was die Pariser Studenten genau meinten, wenn sie an die Wand schrieben Die Phantasie an die Macht. Aber weil die herrschenden Zustände so offenkundig phantasielos waren, verfing das. Es war plötzlich nicht mehr alles so festgezurrt, wie es davor zu sein schien. Die Mächtigen bekamen richtig Knieschlottern: Der französische Staatschef Charles de Gaulle ist in dieser Zeit sogar nach Baden-Baden gefahren, um die dort stationierten französischen Truppen zu alarmieren, auf dass sie im Ernstfall nach Paris kämen.

Auch wenn es in Innsbruck keine wilden Kommunen gab, in denen der sexuellen Freizügigkeit gehuldigt wurde, so wurde doch die symbolische Auflehnung gegen Autoritäten überall sichtbar und spürbar. Und natürlich schauten wir fasziniert auf all das, was in den europäischen Zentren der Studentenproteste geschah. Unvergesslich ist der Auftritt von Fritz Teufel, APO-Aktivist und Kommunarde, bei einer Befragung vor Gericht in Berlin. Beim Einzug der Richter wurde er aufgefordert aufzustehen, worauf er erwiderte: „Na, wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“ Diese lässig-ironische Grundhaltung gegenüber allem, was etabliert zu sein schien, hat mir doch sehr imponiert. Später legte Teufel noch einmal eins drauf und provozierte die Justiz mit dem Satz: „Mir ist aufgefallen, dass sich bei NS-Prozessen Angeklagte von ihren Richtern wenig unterschieden.“

Ich habe in dieser Zeit sehr viel über Politik gelernt, und auch über politische Zuschreibungen. Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, was einem Politiker passiert, wenn man die Zeichen der Zeit – gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische Umbrüche – nicht erkennt. Die ganze schwarze Regierung hat schlicht nicht verstanden, worum es bei den Protesten ging. Kreisky hat später darauf aufbauen können, auch unterstützt von seiner jungen, modernen, liberalen Mannschaft mit Hannes Androsch und Leopold Gratz, dem späteren Wiener Bürgermeister.

Ich galt nicht zuletzt wegen meiner damaligen dogmatisch antikapitalistischen, prosozialistischen Ader bald als der „rote“ Van der Bellen. Mein Chef, Professor Clemens August Andreae, im Übrigen ein angenehmer, toleranter, konservativer Liberaler, hat wörtlich von der „roten Brut“ an seinem Institut gesprochen. Ich habe ihm daraufhin sinngemäß gesagt: „Ich rede Ihnen nicht drein, und Sie reden mir nicht drein. Loyalität muss gegenseitig sein. “

Jahre später hätte mich meine Tätigkeit als Interessenvertreter fast meine Unikarriere gekostet, und zwar wegen „fehlender Ehrenhaftigkeit“. 1975 stellte ich meinen Habilitationsantrag, und in der damaligen Habilitationsnorm gab es tatsächlich einen Passus, der „ehrenhaftes Vorleben“ als Voraussetzung für die Gewährung einer universitären Lehrbefugnis verlangte, ohne jedoch diese Ehrenhaftigkeit näher zu definieren.

Nun meldete sich ein Professor der Rechtswissenschaften zu Wort und sprach mir ein „ehrenhaftes Vorleben“ ab. Er machte nicht etwa betrügerische Krida oder unglaubliche sexuelle Verfehlungen meinerseits geltend. Nein, als ich mich für die Assistenten quasi gewerkschaftlich engagierte und der Professor gleichzeitig Dekan der Fakultät war, hatten wir eine konkrete Auseinandersetzung darüber, wie er mit einem seiner Assistenten umging. In diesem Konflikt muss ich ihm wohl zu nahe getreten sein. So nahe, dass er vier Jahre später meinte, die Zeit für Revanche sei nun gekommen.

Die Sache ist dann gut für mich ausgegangen. Glücklicherweise hatte ich alle Notizen, Gesprächsprotokolle und dergleichen meinem Nachfolger im Assistentenverband in einer Bananenschachtel übergeben, und diese hatte die vier Jahre überlebt. Ich hatte Beweisstücke zur Genüge. Eine kleine Kommission, bestehend aus einem „schwarzen“ Verfassungsrechts- und einem „roten“ Strafrechtsprofessor, kam nach mehreren Wochen Prüfung zum Schluss, mein Vorleben sei doch ein ehrenhaftes.

Dass jene, die nicht einem der herrschenden politischen Lager zugehörten, schlechtere Chancen haben als andere, ist mir spätestens in diesen Jahren klar geworden: Rot und Schwarz stellten für alle, die andersfarbig oder gar nicht „farbig“ waren, ein innerösterreichisches Gleichgewicht des Schreckens dar. Das gehörte zu den scheinbar unumstößlichen Tatsachen der Zweiten Republik, die aus den Trümmern des nationalsozialistischen Regimes auferstanden war.

10Der lange Schatten des Proporzes


Es gibt dieses Narrativ vom „Geist der Lagerstraße“ als eine Art Grundstein der Zweiten Republik: Dass die Erfahrungen späterer Führungsfiguren wie Leopold Figl, Alfons Gorbach oder Franz Olah im KZ Dachau, die am eigenen Leib verspürte Unfreiheit, den politischen Kurs nach 1945 entscheidend bestimmt hätten. Ich bin da skeptisch.

Richtig ist, dass die SPÖ- und ÖVP-Granden aus den Konzentrationslagern die Botschaft mitbrachten, dass sich das Drama der Ersten Republik nicht wiederholen dürfe. Die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Sozialisten und Christdemokraten sowie das nach dem Ersten Weltkrieg offenbar weit verbreitete Gefühl, dieser aus der k.u.k.-Monarchie hervorgegangene Kleinstaat sei nicht lebensfähig, hatten ja in die Katastrophe geführt. Die Einsicht, dass nun ein Mindestmaß von Kooperation und wechselseitiger Verständigung...

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