KAPITEL 2
WAS WIR
AM SCHWERSTEN
ÜBER UNS AKZEPTIEREN
KÖNNEN
„Diese neuen Maschinen neigen dazu, das menschliche Urteil auf allen Ebenen zu ersetzen, abgesehen von der höchsten Ebene, statt nur die menschliche Energie und Kraft durch die Energie und Kraft der Maschinen zu ersetzen.“
– Norbert Wiener, 1949
VOR ETWA 20 JAHREN HABEN SICH UNTERNEHMEN in aller Welt auf eine Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine geeinigt, die sehr vernünftig erschien. Die Maschinen würden sich um einfache mathematische Aufgaben, Unterlagen und Datenübertragung kümmern. Das würde den Menschen die Zeit geben, Entscheidungen zu treffen, Urteile zu fällen, ihre Kreativität und Intuition einzusetzen und miteinander zu interagieren, um Probleme zu lösen und sich um die Kundschaft zu kümmern.
Von der „Papierkram-Mine“ zur Standardpartnerschaft
Dieser Ansatz ist so weit verbreitet, dass man sich kaum an die Zeiten erinnern kann, als man sich nonstop mit Papierkram abmühen musste, als Wagen voller Aktenordner zwischen Menschen und Abteilungen hin- und herreisten. Ein verstörendes Fenster, durch das man einen Blick zurück in diese Zeit werfen kann, existiert heute noch in Form der „Papierkram-Mine“ („Paperwork Mine“62), ein unterirdischer Albtraum an Ineffizienz, der vom Personalbüro der US-Regierung betrieben wird. Dieser Ort existiert, um dort die notwendigen administrativen Schritte durchzuführen, wenn ein Beamter in Ruhestand geht. Weil diese Schritte noch nicht per Computer automatisiert wurden, erfordern die Routineabläufe 600 Menschen, die in einem Raum in der Größe eines Supermarktes, angefüllt mit riesigen Aktenschränken, arbeiten. Aus unerfindlichen Gründen ist dieser Raum mehr als 70 Meter unter der Erde in einer ehemaligen Kalksteinmine. 1977 dauerte es durchschnittlich 61 Tage, bis der Papierkram erledigt war, der damit einherging, wenn ein Bundesbeamter in Pension ging. Heute gibt es immer noch denselben Ablauf und er dauert immer noch 61 Tage. Der Staat Texas, der den ganzen Prozess digitalisiert hat, braucht dafür nur zwei Tage.
Die intellektuelle Blaupause für einen Angriff auf die „Papierkram-Minen“ wurde von Michael Hammer und James Champy in ihrem Buch Reengineering the Corporation von 1993 geliefert. Das Buch war ein großer Erfolg, mehr als zwei Millionen Exemplare wurden weltweit davon verkauft und es wurde vom Time-Magazin zu einem der 25 einflussreichsten Business-Bücher aller Zeiten gekürt.63
Die Grundbotschaft von Hammer und Champy war, die Unternehmen sollten sich nicht vorstellen, dass sie Aufgaben innerhalb von Abteilungen erledigen (zum Beispiel Rohmaterial innerhalb einer Einkaufsabteilung zu kaufen), sondern dass sie Geschäftsprozesse ausführen – wie die Bestellung eines Kunden aufzunehmen, zu bearbeiten und loszuschicken –, die von Natur aus mehrere Abteilungen umfassen. Das hört sich heutzutage offensichtlich an, aber zur damaligen Zeit wurde es als neu und wichtig angesehen. Peter Drucker, der herausragende Business-Guru des 20. Jahrhunderts, sagte damals: „Restrukturierung ist etwas Neues und es muss getan werden.“64 Sah man die Abläufe durch die „Prozesslinse“, dann wurden viele Aufgaben als unnötig erkannt und konnten eliminiert werden, oder, wie es Hammer und Champy ausdrückten, „getilgt“.
Die Reengineering-Bewegung der Geschäftsprozesse wurde Mitte der 1990er-Jahre durch zwei Fortschritte beschleunigt: Informationsverarbeitungssysteme, die ein ganzes Unternehmen durchdrangen, und das World Wide Web. Bevor es Betriebssysteme für ganze Unternehmen gab1, hatten Firmen normalerweise mit einem Durcheinander verschiedenster Software zu tun, die untereinander meist nicht verbunden war. Je größer das Unternehmen, desto größer das Durcheinander. Betriebssysteme für Unternehmen versprachen nun, das Durcheinander mit einer einzigen, umfangreichen Software2 zu ersetzen, die explizit entworfen wurde, um eine Reihe an Geschäftsprozessen über verschiedene Bereiche hinweg auszuführen. Diese Software konnte man quasi „von der Stange“ von Firmen wie SAP und Oracle kaufen und sie wurde dann in gewissem Umfang konfiguriert und angepasst.
Betriebssysteme für Unternehmen wurden bald zum Selbstläufer. Eine Schätzung geht davon aus, dass über 60 Prozent der Firmen der Fortune 1000 bis 1999 mindestens ein solches System übernommen hatten.65 Wenngleich sie relativ teuer waren und aufwendig zu installieren und zu unterhalten, hielten sie größtenteils ihr Versprechen. Eine Studie von Erik und seinen Kollegen Sinan Aral und D. J. Wu stellte zum Beispiel fest, dass Unternehmen, die solche Systeme eingeführt hatten, eine bedeutende Verbesserung bei der Arbeitsproduktivität, dem Lagerumschlag und der Nutzung von Assets verzeichneten, sobald sie anfingen, ihre neue Firmensoftware zu nutzen.66
Die Ankunft des World Wide Web vergrößerte die Reichweite der Firmenbetriebssysteme mithilfe von Computern (und später mittels Tablets und Smartphones) bis hin zu den einzelnen Kunden. Das Web wurde im Jahr 1989 geboren,67 als Tim Berners-Lee eine Reihe an Protokollen entwarf, die es erlaubten, einzelne Bestandteile des Online-Contents wie Text und Bilder miteinander zu verlinken, und damit die Vision eines Hypertextes umsetzte, die zuerst von dem Ingenieur und Universalgelehrten Vannevar Bush 1945 beschrieben worden war (theoretisch kam dabei Mikrofilm zum Einsatz) und vom Computervisionär Ted Nelson, dessen Projekt Xanadu allerdings nie wirklich vom Fleck kam.
Das Web verwandelte das Internet rasch von einem reinen Textnetzwerk in eines, das Bilder, Sound und andere Medien handhaben konnte. Dieses Multimediawunder, das so viel reichhaltiger und leichter zu navigieren war als alles, was es davor gab, wurde zum Teil des Mainstreams, als Netscape 1994 den ersten kommerziellen Webbrowser veröffentlichte, den Navigator.68 (Einer von Netscapes Mitgründern war Marc Andreessen, ein damals 21 Jahre alter Programmierer, der auch an früheren Webbrowsern gearbeitet hatte. Wir werden in Kapitel 11 noch mehr von Andreessen hören.)3 Das fiel mit der Kommerzialisierung des Internets zusammen, das vorher hauptsächlich die Domäne von Akademikern gewesen war.
Das Web ermöglichte es den Unternehmen, ihre Geschäftsprozesse über die vier Wände der Firma hinaus bis zu den Kunden auszudehnen – ein Trend, der als E-Commerce bekannt wurde. Menschen fingen an, das Web nicht nur dafür zu benutzen, nach den Produkten eines Unternehmens zu suchen und etwas darüber zu erfahren, sondern auch, um diese zu bestellen und zu bezahlen. Diese Kombination aus Effizienz und Bequemlichkeit hat sich als unwiderstehlich erwiesen. Nur zehn Jahre nach dem Start von Netscape war der E-Commerce für etwa zehn Prozent aller Verkäufe im Einzelhandel verantwortlich, mit Ausnahme von Lebensmitteln und Autos.69
Zwei Jahrzehnte lang haben dann die Betriebssysteme der Unternehmen unterstützt vom Web immer mehr Geschäftsprozesse vereinfacht, indem sie Routinearbeiten übernahmen: Bilanzen und Transaktionen überwachen, die richtige Menge und die Lieferzeit für Ausgangsmaterialien kalkulieren, den Angestellten die Gehaltsschecks schicken, Kunden die Auswahl und das Bezahlen von Produkten ermöglichen und so weiter.
Den gesunden Menschenverstand einsetzen …
Was sollten Angestellte tun, nachdem sie durch Technologien wie Firmensoftware und das World Wide Web aus der „Papierkram-Mine“ befreit wurden? Hammer und Champy lieferten eine klare Antwort in Reengineering the Corporation: Wenn die Computer die Routinearbeiten erledigten, sollten die Menschen befähigt werden, ihren gesunden Menschenverstand einzusetzen. „Das meiste an Kontrollarbeiten, Abstimmen, Warten, Überwachen, Nachverfolgen – die ganze unproduktive Arbeit […], das wird eliminiert durchs Reengineering. […] Die Leute, die in Prozessen arbeiten, die vom Reengineering profitieren, werden notwendigerweise empowered. Als Teamarbeiter, die mit Prozessen beschäftigt sind, wird ihnen sowohl ermöglicht als auch von ihnen erwartet, dass sie mitdenken, interagieren, ihr Urteilsvermögen einsetzen und Entscheidungen treffen.“70
Hier wird eine allgemeine Überzeugung deutlich ausgesprochen: dass selbst in einer Welt durchdrungen von Hardware, Software und Netzwerken die Menschen immer noch wichtig sind, weil sie Urteilsvermögen besitzen – ihre Fähigkeit, ihren Verstand einzusetzen, die darüber hinausgeht, nur routinemäßige Berechnungen mithilfe vorhandener Daten durchzuführen. Die meisten von uns akzeptieren die Tatsache, dass wir jetzt schon...