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Gewaltmassen

Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt

VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783868546491
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Kollektive Gewalt ist Gewalt im Wir-­Modus. Thema dieses Bandes sind solche Phänomene kollektiver Gewalt, die sich spontan und ungeplant ereignen. Die Frage lautet, wie 'ganz normale' Männer und auch Frauen in Gruppen und Menschen­mengen dazu kommen, gemeinsam Gewalt auszuüben, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben. Diese Prozesse zu untersuchen, haben sich Gewaltforscher/innen aus Soziologie, Geschichte, Ethnologie, Psychologie und Philosophie zur Aufgabe gemacht. Sie ergründen, in welcher Weise kollektive Erlebnisse Gewaltverläufe initiieren, welche gruppenbedingten Erfahrungen Gewalt zu einer selbstverständlichen oder gar 'attraktiven' Handlungsoption machen, ob es typische (Verlaufs-­)Formen von nicht­ organisierter Gewalt gibt und wie sich kollektive Gewaltroutinen einspielen. Das Spektrum der behandelten Phänomene reicht dabei von unblutigen Tumulten in einem Theater über Protestgewalt, Lynchmobs und Kriegsgräuel bis hin zu der Entstehung von Volksmilizen und der Radikalisierung von Untergrundorganisationen. In einer Welt, in der Gewalt in weiten Teilen zwar grundsätzlich verurteilt wird, sie aber gleichzeitig omnipräsent zu sein scheint, bietet der vorliegende multi-perspektivische Ansatz unter Einbeziehung sowohl der Ursachen als auch der Phänomenologie unterschiedlichster Gewaltereignisse einen Erklärungsansatz wie auch aktuelle Orientierung.

Axel T. Paul, Prof. Dr., seit 2012 Ordinarius für Allgemeine Soziologie an der Universität Basel, 2009-2012 Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Siegen, 2003 Habilitation an der Universität Freiburg/Br., 2000 Forschungsaufenthalt am Department of Sociology der University of Chicago. Wissenschaftlicher Beirat der Zeitschrift Leviathan, Mitherausgeber der Zeitschrift Saeculum. Benjamin Schwalb, zurzeit Doktorand im Fachbereich Soziologie, wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Axel T. Paul an der Universität Basel. Studium der Soziologie, Psychologie und der Kognitionswissenschaft in Freiburg, Basel und Arizona (Tucson, USA).

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Leseprobe

Axel T. Paul


Masse und Gewalt


»Wenn wir in den Sümpfen Tutsi aufspürten, sahen wir in ihnen keine Menschen mehr. Sie waren nicht mehr unsere Ebenbilder […]. Es war eine wilde Jagd, die Jäger waren wild, Wild auch die Gejagten: Die Wildheit bemächtigte sich unserer Köpfe. Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden. Diese Wahrheit mag jemand, der sie nicht mit all seinen Muskelfasern erlebt hat, nicht glauben wollen. Unser Alltag war ein Leben der anderen Art, es war von Blut gezeichnet, und das kam uns durchaus zupass.«1 Mit diesen Worten beschreibt Pio Mutungirehe dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld gegenüber sein Tun und Erleben während des ruandischen Völkermords.

Mutungirehe hatte sich 1994 als Mitglied einer Clique von größtenteils jungen Männern in der Gemeinde Nyamata am kollektiven Morden beteiligt. Er war, wie die meisten seiner Freunde aus der Clique, ja wie die Mehrzahl der Täter überhaupt, Bauer und seinerzeit 20 Jahre alt. Für seine Taten, zu denen er sich zum Zeitpunkt der Hatzfeld-Interviews bereits bekannt hatte, wurde er im Zuge der sogenannten Gacaca-Verfahren, einer laiengerichtlichen Aufarbeitung des Genozids,2 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. 2003 erfolgte die vorzeitige Freilassung. Auch die übrigen Bandenmitglieder hatten gestanden, waren verurteilt worden und lebten im Jahre 2003, als die französische Originalausgabe von Hatzfelds Buch erschien, mit einer Ausnahme wieder in Freiheit.

Juristisch konnte Mutungirehe und seinen Freunden aus den Gesprächen mit Hatzfeld kein Schaden mehr erwachsen. Dennoch könnte man mutmaßen, dass er sich durch seine passivische Formulierung, von bestialischer Wildheit ergriffen worden zu sein, von moralischer Schuld freisprechen wolle, so als habe es keine Möglichkeit gegeben, sich dem Morden zu verweigern. Tatsächlich haben sich Einzelne auch in Ruanda sehr wohl dem Mittun entziehen und sogar Widerstand gegen die Ermordung ihrer ethnisch »anderen« Mitbürger leisten können; auch haben längst nicht alle, die am Morden beteiligt waren, mit Begeisterung gemordet;3 und doch gibt es nicht nur bei Hatzfeld, sondern in etlichen Quellen kaum missverständliche Belege dafür, dass manche Täter sich zeitweise in einer Art Blutrausch befanden und dass dieser Blutrausch Teil einer kollektiv geteilten Erfahrung war.4 Pio Mutungihere sagt: »Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden.« Und sein Freund Joseph-Désiré Bitero ergänzt: »Das war ein Wahnsinn, der seinen Lauf nahm, und den keiner mehr lenkte. […] Du warst in der Menge dabei.«5

Über ähnliche Erfahrungen in einem ganz anderen Kontext berichtet der Literaturkritiker Bill Buford, der in den 1980er Jahren beschließt, in die ihm unbekannte Welt der englischen Hooligans einzutauchen, gerade weil sie ihm so rätselhaft erscheint. Er begleitet die nicht nur gewaltbereiten, sondern gewaltsuchenden Fans – keineswegs nur oder auch nur vornehmlich Angehörige der Unterschichten – in die Stadien, auf ihren Reisen, auf ihren Sauftouren und auf ihren Märschen durch die Städte gegnerischer Mannschaften. Fußball ist im Grunde nur der an sich kontingente Anlass, der Kalender, der dazu dient, die eigentlich gesuchte Randale zu synchronisieren. Buford steht dieser (Männer-)Welt des Alkohols, des Grölens, der Kameradschaft und der Gewalt zunächst befremdet, wenn nicht angeekelt gegenüber, gewöhnt sich mit der Zeit jedoch an ihre Rituale, freundet sich mit den Fans an und kann sich schließlich auch der Faszination der kollektiv verübten und erlittenen Gewalt nicht entziehen.

Die zwar bewusst inszenierten, in ihrem Verlauf und Ausgang freilich unkalkulierbaren Straßenschlachten zwischen den Hooligans, in denen nicht nur Scheiben zu Bruch und Autos in Flammen aufgehen, sondern Menschen schwerstens verletzt werden, offenbaren ihm, inneren kognitiven und moralischen Widerständen zum Trotz, einen vordem ungekannten Zustand der Glückseligkeit: »Sich in einer Masse befinden. Und – noch stärker – sich in einer Masse befinden, die einen Gewaltakt begeht. Was wir dort finden, ist das Nichts. Das Nichts in seiner Schönheit, seiner Schlichtheit, in seiner leeren Reinheit.« Zwar beteiligt Buford sich nicht aktiv an der Gewalt – zumindest erfährt der Leser davon nichts –, »schon« das bloße Bezeugen eines Gewaltexzesses jedoch schildert er als Transzendenzerfahrung mit Suchtpotenzial: »Die Gewalt ist eines der stärksten Erlebnisse und bereitet denjenigen, die fähig sind, sich ihr hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindungen. Dort, in den Straßen von Fulham, […] fühlte ich mich, als sei ich buchstäblich schwerelos geworden. […] Und zum ersten Mal kann ich die Worte verstehen, mit denen sie diesen Zustand beschreiben. Daß die Gewalttätigkeit in der Masse eine Droge für sie sei. Und was war sie für mich? Die Erfahrung absoluten Erfülltseins.«6

Ein drittes Zeugnis dafür, dass zwischen Masse und Gewalt ein Zusammenhang besteht, oder genauer, die gewöhnliche Abscheu vor unmittelbar drohender Gewalt offenbar auch und nicht zuletzt durch die physische Präsenz anderer wenn nicht in Gewaltlust, so doch in einen gegenüber Zerstörung und gewaltsamem Tod indifferenten Rauschzustand umschlagen kann, findet sich in den Lebenserinnerungen Elias Canettis.

Im Sommer 1922 wird der siebzehnjährige Canetti in Frankfurt am Main Zeuge einer Arbeiterdemonstration gegen die Ermordung Walter Rathenaus. Es ist der Demonstrationszug selbst – nicht die Sache, gegen die protestiert wurde, oder die Solidarität mit den Arbeitern –, der auf Canetti eine »physische Anziehung« ausübt. Auch nachdem er sich der Demonstration angeschlossen hatte, kam es ihm vor, »als ginge es hier um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist. Aber eine wirkliche Erklärung […] war das natürlich nicht. Denn weder vorher, isoliert, noch nachher, in der Masse, war man etwas Lebloses, und was mit einem in der Masse geschah, [war] eine völlige Änderung des Bewußtseins7

Diese erste Erfahrung der Masse bestätigt und verstärkt sich am 15. Juli 1927. An diesem Tag demonstrierten Wiener Arbeiter gegen den Freispruch einer wegen Mordes an Genossen aus dem Burgenland angeklagten Gruppe. Die Demonstration kulminierte darin, dass der Wiener Justizpalast in Brand geriet und die Polizei auf die Demonstranten zu schießen begann. Es gab 90 Tote. Canetti erinnert sich: »Die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. […] Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Er hört die Schüsse der berittenen Polizei, er rennt und flieht mit den ihm fremden Demonstranten; der Zug zerreißt und sammelt sich wieder; erst erfährt er, dass der Justizpalast brennt, dann sieht er ihn brennen. »Das Feuer war der Zusammenhalt. […] Auch dort, wo man es nicht sah, hatte man’s im Kopf, seine Anziehung und die Masse waren eins. […] Wo immer man sich unter der Einwirkung der Salven fand, scheinbar geflüchtet war – der […] Zusammenhang mit den anderen blieb wirksam.« Canetti fühlte sich »von einem einheitlichen Gefühl getragen […] – eine[r] einzige[n] ungeheuerliche[n] Woge, die über die Stadt schlug und sie in sich aufnahm: als sie verebbte, war es kaum glaublich, daß die Stadt noch da war.«8

Noch vor der Erfahrung des Nationalsozialismus, des Aufstiegs und der Verheerungen einer Massenbewegung, waren es diese beiden Erlebnisse, die Canetti dazu veranlassten, sich über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema Masse zu beschäftigen und 1960 mit »Masse und Macht« schließlich ein Buch vorzulegen, das als abseitiger sozialanthropologischer Theorieentwurf eines Literaturnobelpreisträgers galt, auch weil es zu einer Zeit erschien, in der Anthropologie unter Ideologieverdacht stand.9

Die ersten wissenschaftlichen Anstrengungen, den Zusammenhang von Masse und Gewalt zu bestimmen, stammen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert. Dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt, galt seit Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1790) als selbstverständlich. Die Masse, das war für die Historiografen und politischen Beobachter des 19. Jahrhunderts der aufständische Pöbel, die Bezeichnung einerseits für eine aus der alten Ständeordnung herausfallende und zugleich die neue bürgerliche Gesellschaft bedrohenden »Schicht«, andererseits für die sich in den Städten ballenden Menschenmengen, der Begriff für ein gefährliches, gewalttätiges, offenbar geschichtsmächtiges Kollektivsubjekt. Marx sah...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titelseite2
Impressum3
Inhaltsverzeichnis4
Axel T. Paul | Benjamin Schwalb, Vorwort6
Axel T. Paul, Masse und Gewalt18
Jack Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit. Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles 199260
Eine kurze Chronik der Ereignisse65
Konstruktion einer Epiphanie der Unsichtbarkeit67
Vorspiel: die Schwächung der Staatsgewalt67
Die Eröffnungsszenen: unverfrorene Angriffe auf die Staatsgewalt69
Arbeiten an der Unsichtbarkeit71
Die Sichtbarkeit der anonymen Unordnung75
Moralische Unsichtbarkeit in einem surrealen Kontext81
Das Ende92
Der Charakter und die Eventualitäten der persönlichen Unsichtbarkeit bei Gruppenaktionen94
Paul Dumouchel, Massengewalt und konstitutive Gewalt100
Gewaltsame Interaktionen und kollektive Psychologie105
Mimetische Krise und konstitutive Gewalt111
Konstitutive Gewalt als Hypothese117
Richard K. Moule Jr. | Scott H. Decker | David C. Pyrooz, Kollektive Gewalt, Gangs und das Internet121
Gruppenprozesse in der Gang123
Der Zyklus der Bandengewalt als kollektives Verhalten126
Technologie, Gruppenprozesse und Bandengewalt129
Gruppenprozesse ins Internet bringen130
Technologie und der Zyklus der Bandengewalt133
Schlussfolgerung139
Thomas Klatetzki, »Hang ’em high«. Der Lynchmob als temporäre Organisation144
Lynchen als vigilantes Gewalthandeln147
Der theoretische Rahmen149
Das Lynchskript151
Die emotionale Basis des Lynchskripts162
Varianten des Lynchskripts166
Stephen Reicher, »Tanz in den Flammen«. Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude171
Veränderungen in der Menge179
Transformationen über die Menge hinaus190
Schlussfolgerung197
Randall Collins, Vorwärtspaniken und die Dynamik von Massengewalt200
Elemente der Vorwärtspanik201
Konfrontationsanspannung/Angst204
Arten der Vorwärtspanik208
Andere Ursachen von Gewalt in Menschenmengen210
Militärische Vorwärtspaniken214
Vorwärtspaniken bei politischen Demonstrationen218
Ferdinand Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots. Was erklärt die Situation?227
Was ist eine situationistische Erklärung gewalttätigen Handelns?229
Vom Ertrag situationistischer Analysen für die Erforschung kollektiver Gewalt230
Vereinseitigungen situationistischer Gewalttheorien245
Paul Richards, Der Aufstand als Performance. Ein anthropologischer Blick auf die Premiere von Le Sacre du printemps253
Das Werk255
Im Vorfeld des Theateraufstands259
Der Aufstand bei der Premiere von Le Sacre du printemps261
Erklärungen für den Aufstand264
Konfuse Botschaften – sandte Le Sacre du printemps das falsche Signal aus?269
Weitergehende Lehren aus der Fallstudie275
Schlussfolgerung – Le Bon und Durkheim280
Anthony King, Der Massenangriff. Infanterietaktiken im 20. Jahrhundert285
Der SLAM-Effekt287
Das Bajonett290
Individuelle Kampfhandlungen297
Fazit301
Felix Schnell, Von dörflicher Selbsthilfe zur paramilitärischen Miliz. Spontane Vergemeinschaftung durch Gewalt im Russischen Bürgerkrieg (1918)306
Gewalttätige Selbsthilfe im russischen Dorf307
Das russische Dorf und der Erste Weltkrieg311
Eine Fallstudie: das Dorf Chvorostan im Sommer 1918314
Die Bolschewiki kommen317
Ausweitung der Kampfzone319
Die erste Schlacht322
Verselbstständigung323
Ein Ende und ein Anfang324
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen326
Bernd Greiner, Der »überflüssige Soldat«. Zur Genese und Praxis militärischer Gewaltgruppen am Beispiel des amerikanischen Krieges in Vietnam331
Makro- und mesostrukturelle Kontexte333
Situative Dynamiken339
Der »überflüssige Soldat«: Selbstbilder militärischer Gewaltakteure346
Donatella della Porta, Klandestine politische Gewalt353
Benjamin Schwalb | Axel T. Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt377
Autoreninformationen403
Zu den Herausgebern408

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