III. Fallstudien
Konstanze Fliedl weist in ihrer Analyse Close Reading. Zu Marie von Ebner-Eschenbachs „Meine Kinderjahre“ die Modernität der 1905 erschienenen Autobiographie nach. Anders als das Gros der Sekundärliteratur liest sie den Text nicht als Beglaubigung eines „teleologischen Werdegang[s]“ (S. 98) nach dem Muster von Goethes „Dichtung und Wahrheit“, sondern als Dokument poetologischer und symbolischer Widersprüche. So ist die „matriarchale Idylle“ (S. 99) nicht ohne pädagogische Strenge und keineswegs nur für die mündliche, sondern auch für die schriftliche Kommunikation zuständig und der Vater der Ich-Erzählerin als Patriarch nur scheinbar der (alleinige) Gebieter über die Schrift. Sein brachialer Versuch der Alphabetisierung mündet in ein „semiotisches Chaos“; die für die Tochter demütigende Lektion hat als Subtext die „Karnevalisierung alphabetischer und väterlicher Ordnungen“ (S. 101). Fliedl betont das in „Meine Kinderjahre“ auffällige vielfältige Moment der unzuverlässigen Signifikation und des Spielerischen im Kontext von Schrift und Schriftlichkeit.
Mit ihrer Beschreibung einer kindlichen solipsistischen Vision partizipiert Ebner-Eschenbach zwar am von Ernst Mach und Fritz Mauthner dominierten Diskurs der Jahrhundertwende, ihre Erzählstimme ergreift aber ausdrücklich Partei für das Althergebrachte. „Meine Kinderjahre“ entspricht, auch in der konventionellen Allegorik der geflügelten Phantasie, dem Programm des Realismus, naturalistische Themen wie Körperlichkeit, Sexualität und Krankheit werden gemieden, aber auch, anders als in anderen Werken Ebner-Eschenbachs, sozialkritische Tendenzen. Nicht in den Sujets und nicht im ‚impressionistischen‘ inkohärenten Aufbau macht Fliedl die Modernität des Textes aus: Indem er nicht prognostisch auf die Schriftstellerlaufbahn verweist, sondern vom Scheitern der dichterischen Versuche eines Mädchens erzählt und dabei die „Ordnungen des Schreibens, der Schrift und des Geschriebenen in Turbulenzen versetzt“ (S. 108), unterläuft er das kanonische Muster der Dichter-Autobiographie.
Einen vergleichenden Blick auf die Dioskuren des österreichischen Realismus wirft Daniela Strigl in ihrem Aufsatz „Mich kann man nicht verurteilen“. Naturrecht und k.k. Justiz bei Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar. Sie stellt darin die Frage, wie die von Schopenhauer beeinflusste Berufung auf das Naturrecht und die Kritik am Rechtspositivismus in den Texten Saars und Ebner-Eschenbachs auf der performativen Bühne des Gerichts abgehandelt werden und wie sich Erzählabsicht und Verantwortung der Protagonisten zueinander verhalten. Nicht nur in Saars auch hier in den Blick gerückter Erzählung „Die Heirat des Herrn Stäudl“ erweist sich die Körperhaltung des Beschuldigten als entscheidend für die Erzählsituation: stehend ‚steht‘ er zu seiner Tat, sitzend erklärt er sie. Die Literatur des Realismus rehabilitiert den Verbrecher, indem sie ihn als Individuum zu Wort kommen lässt. Nicht alle Täter sind – wie der Wilddieb – durch das Naturrecht moralisch gerechtfertigt, manche missbrauchen es zur Bemäntelung libidinöser Verstrickung oder ‚naturalistisch‘-darwinistischer Auslesephantasien.
Die rhetorischen Strategien der Gerichtsrede werden in Ebner-Eschenbachs Novelle „Er laßt die Hand küssen“ zu einer ironisch verdeckten Anklage gegen die moralische Überheblichkeit des Adels umfunktioniert. Während die realistischen Texte Spielarten der Reue, aber auch der Selbstbestrafung ohne Reue vorführen, ziehen sie, mit Ausnahme von Roseggers „Jakob der Letzte“, das Funktionieren der k.k. Justiz nicht prinzipiell in Zweifel. Sowohl in Saars Novelle „Die Steinklopfer“ als auch in Ebner-Eschenbachs Roman „Das Gemeindekind“ widerlegt das Urteil der staatlichen Rechtsprechung das allgemeine Vorurteil, die Justiz wirkt aber auch als „Korrektiv zur individuellen Affektentgleisung“ (S. 121). Die forensische Rhetorik verstärkt den dramatischen Effekt und „veranschaulicht die zeitgenössische Auseinandersetzung zwischen Trieb-Determinismus und individueller Verantwortung“ (S. 123), die von der Erzählinstanz nicht entschieden wird.
Ludwig Anzengruber – Naturalist post mortem? hat Johann Sonnleitner seinen Beitrag über den damals prominentesten und heute von der Germanistik vernachlässigten Grenzgänger zwischen Realismus und Naturalismus genannt, von dem Alfred Döblin 1924 meinte, er sei „in einigen Dingen zwar Naturalist vor dem Naturalismus“ gewesen, „aber im Kern war er es nicht“. (S. 137) Ausgehend von der These, dass der Naturalismus in Österreich weniger heftig debattiert wurde, weil die Realisten ihn hier bereits zum Teil vorweggenommen hatten, analysiert Sonnleitner den sensationellen Erfolg von Anzengrubers Drama „Der Pfarrer von Kirchfeld“ (1870), das nach dem Konkordat und dessen ‚Entschärfung‘ in den Maigesetzen 1868 gegen die Rechte der Kirche Partei ergriff und damit die Position der Zuschauer wie der Regierung traf. Das schwächere Echo von „Der Meineidbauer“ führt Sonnleitner einerseits auf einen veränderten „Rezeptionshorizont“ (S. 126, 131) in den Vorstadttheatern und andererseits auf die Forcierung eines Kunstdialekts und den Mangel an politischer Brisanz zurück, obwohl er Anzengruber einen „scharfen Blick für die Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Land“ (S. 133), vor allem die sexuelle Ausbeutung der Mägde durch ihre Dienstherren, konzediert. Anzengrubers Entwicklung hin zum Naturalisten ist nicht zu trennen von dessen Entwicklung der dramatischen Form: weg von der Tradition der Posse (Nestroy) hin zum modernen Volkstück, das auf Desillusionierung des Publikums verzichtet, konsistente Figuren und einen didaktischen Anspruch aufweist. Mit „Das vierte Gebot“ (1877) zeichnet Anzengruber ein „erschreckendes und realistisches Sittenbild des heruntergekommenen Handwerkerstandes“ (S. 136), aber auch des Hausherrenmilieus. Damit „verabschiedet sich Anzengruber endgültig von der Tradition des Wiener Vorstadttheaters des 19. Jahrhunderts“ (S. 136). Doch erst postum findet der dem Determinismus Tribut zollende Autor Anerkennung als naturalistischer Dramatiker, die Aufführung des Stückes in Berlin 1890 wird ein großer, u.a. von Theodor Fontane und Franz Mehring akklamierter Erfolg.
Eine andere Erfolgsautorin der Epoche stellt Beatrix Müller-Kampel in den Mittelpunkt ihres Aufsatzes Naturalistischer Pazifismus oder pazifistischer Kitsch? Zu Bertha von Suttners Erzählprosa. 1889, im Todesjahr Anzengrubers, erschien Suttners Bestseller „Die Waffen nieder!“, der weder von der Kritik noch in der Literaturgeschichte vor dem Hintergrund des Naturalismus rezipiert wurde. Müller-Kampel interpretiert Suttners Rolle als Friedensaktivistin und zu Erwerbszwecken schreibende Autorin mit Pierre Bourdieu als eine dem Kunst-Feld fernstehende Figur.
Eine ernsthafte Beschäftigung mit der Ästhetik des als Kitsch verschrienen Romans eröffnet die Kategorie des Hybriden: „Die Waffen nieder!“ entspricht dem „Modell des Unterhaltungsromans“, ist jedoch „unterfüttert“ mit „gleich mehreren pädagogisch-politischen Programmen“ (S. 140), die in einer „operativen Personalpoetik“ (S. 150) nach Art der Platonischen Dialoge vermittelt werden. In rund 30 Romanen hat die Autorin die formalen Strategien der „Populärliteratur“ (S. 144) angewandt, nur in diesem einen ging das Kalkül der Massenwirksamkeit auf. Suttners pazifistische Agitation richtet sich vor allem gegen die institutionelle Abrichtung zu Militarismus und Nationalismus durch Schule und Kirche. Mit literarischen Mitteln kritisiert sie die Phraseologie des Krieges, dem sie die Utopie einer sozial gerechten Welt ohne Waffen entgegensetzt: „Das Plakative der Formel ‚Die Waffen nieder‘ wie auch das künstlerische Kainszeichen der Trivialität verdeckten die Komplexität von Suttners Gesellschaftsentwurf“ (S. 145). Mit ihrem Bekenntnis zu Wahrhaftigkeit und Wissenschaftlichkeit stand Suttner der Kunstauffassung der Naturalisten nicht nur theoretisch nahe, sie brach auch in der schonungslosen literarischen Darstellung von Schlachten im Sinne einer „Schocktherapie“ (S. 146, 150) die „ästhetischen Tabus des zeitgenössischen Realidealismus“ (S. 146). Suttners – von Michler ähnlich gesehener – „eklektizistischer Naturalismus“ (S. 150) im Dienste von Ideologiekritik und Diskursanalyse verdiente eine literarhistorische Würdigung.
Erst recht einen Problemfall der Literaturgeschichte behandelt Clemens Peck in seiner Untersuchung Jakob Julius Davids Naturalismen. Immerhin von Freud und Kraus, Buber und Simmel zustimmend rezipiert, wurde der Deutsch-Mährer David bald und gründlich vergessen. Peck nominiert ihn als „Navigator“ (S. 154) bei der ‚Suche nach einem österreichischen Naturalismus‘, gerade weil sein Werk statt dem ‚einen‘ Naturalismus „ein Set an vom Spätrealismus übernommenen Genres, Erzähltechniken, Stoffen, Topographien, Figurationen und Klassifizierungen“ (S. 154) bietet, die den liberalen Grundsätzen zuwiderlaufen, denen sie zunächst verpflichtet scheinen. Peck greift Davids Erzählung „Das Höferecht“ (1886/1890) und den Roman „Am Wege sterben“ (1899/1900) heraus, die er als jeweils an die naturalistischen Literaturbetriebszentren München und Berlin ‚adressiert‘ deutet. In München erschien die Zeitschrift „Die Gesellschaft“, in Berlin „Die freie Bühne für modernes Leben“. Davids Texte fügen die bestehenden Elemente realistischer...