›Unterrichtsintegrierte Sprachtherapie‹ als Baustein eines multiprofessionellen Angebots in inklusiven schulischen Kontexten1
Ulrike Lüdtke
Vor dem Hintergrund einer historisch wie global begründeten Notwendigkeit, hochwertige multiprofessionelle Angebote für Kinder mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen zukünftig vermehrt unter einem Dach bereitzustellen, zeigt dieser Beitrag Möglichkeiten auf, die Vision Inklusion qualitativ und quantitativ hochwertig zu realisieren. Aus Perspektive der Akademischen Sprachtherapie und Logopädie stellt dabei das Modell der ›Unterrichtsintegrierten Sprachtherapie‹ den Kernbeitrag zu solch einem multiprofessionellen Ansatz in inklusiven schulischen Kontexten dar. Um jedoch multiprofessionelle Synergien tatsächlich als inklusionspädagogische Ressource nutzen zu können, muss zunächst der Professionalisierungsbedarf akademischer SprachtherapeutInnen und LogopädInnen in inklusiven schulischen Kontexten erkannt werden. Im Zentrum eines grundsätzlichen Wandels von ihrer bisherigen klassisch-klinischen zu einer nicht-additiven, Schul- und Unterrichts-kompatiblen Expertise steht dabei die inklusive Erweiterung der Sach-, Methoden- und Dialogkompetenz der Fachkräfte. Auf dieser Basis kann eine inklusiv veränderte Fachexpertise dann in ein multiprofessionelles ›Komplementäres Unterstützungsprofil Sprache und Kommunikation‹ eingebracht werden, dessen fünf Kerndimensionen hier erläutert werden. Abschließend wird auf veränderte Ausbildungsnotwendigkeiten aller drei inklusiv tätigen Kernprofessionen hingewiesen, um den Weg von der Vision zur Realisierung auch tatsächlich gehen zu können.
1 Vision Inklusion: Bereitstellung hochwertiger multiprofessioneller Angebote für Kinder mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen unter einem Dach
Dieser Beitrag versteht sich als Plädoyer, zur bestmöglichen Unterstützung von Kindern mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in inklusiven schulischen Kontexten ihnen dort ein hochwertiges multiprofessionelles Angebot flächendeckend bereitzustellen. Der Aspekt »hochwertig« verweist qualitativ auf den Anspruch, dass alle im Feld tätigen Professionen für die neuen, spezifischen Anforderungen inklusiver schulischer Praxis explizit qualifiziert sind, und nicht lediglich ihre bisherige Expertise additiv einbringen; quantitativ verlangt diese Hochwertigkeit eine hochfrequente und kontinuierliche Angebotsbereitstellung – beides allerorten, unabhängig von Stadt-Land- oder sonstigen sozioökonomischen bzw. soziokulturellen Gefällen.
Um diese von Kritikern häufig gleich als unrealistisch abgetane Vision nicht unverzüglich zu begraben, sei die Metapher des ›Bausteins‹ noch ein bisschen weiter ausgeschmückt (vgl. Abb. 1). In meinem Bild von Inklusion gehen alle Kinder in eine Schule. Diese Schule wurde auf dem Boden der KMK-Empfehlungen zur inklusiven Bildung (2011) und der neuen Heilmittelrichtlinien (2011) erbaut. Ihre Grundmauern wurden aus den Bausteinen der verschiedenen Professionen der RegelschullehrerInnen, SonderpädagogInnen, SprachtherapeutInnen, LogopädInnen, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen, SozialpädagogInnen etc. errichtet. Die Wände sind stark, denn so wie 1+1 mehr als 2 sein kann, sind hier die verschiedenen Fachexpertisen zu einer multiprofessionellen Synergie verschmolzen. Aus den Fenstern schauen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Begabungen oder Beeinträchtigungen, verschiedenen Hautfarben und kulturellen Bezügen, vielen Muttersprachen und Religionen. Sie fühlen sich geborgen unter dem Dach einer inklusiven Ethik, die sich Partizipation, Bildungsgerechtigkeit und Barrierefreiheit auf die Fahne geschrieben hat. Diese Schule bildet nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre Eltern, ihre Familien und die Nachbarschaft sowie alle dort Tätigen ein sicheres Zuhause, denn ihr unerschütterbares Fundament, welches selbst anstürmenden lobbyistischen Anfeindungen standhält, ist das pädagogische Primat der unantastbaren Person (Lüdtke 2012a).
Abb. 1: Vision einer inklusiven Schule
Diese Vision darf meines Erachtens keine Phantasie sein und bleiben, sondern ihre konkrete Realisierung ist eine historische Notwendigkeit, die sich zwingend durch den inklusiven Umbau des deutschen Schulsystems aufgrund der nationalen und föderalen Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) begründet. Um Visionskritikern die Unausweichbarkeit einer neuen Bildungsarchitektur für Kinder mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen zu verdeutlichen, können sowohl historiographische (vgl. 1.1) wie international vergleichende (vgl. 1.2) Argumente herangezogen werden.
1.1 Die historische Notwendigkeit eines multiprofessionellen Angebots
Historisch betrachtet ist die gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen unter einem Dach die notwendige strukturelle Realisierung des aktuell gültigen (sonder)pädagogischen Paradigmas der Inklusion. Abbildung 2 veranschaulicht, wie sich zum einen sonderpädagogische bzw. sprach(heil)- pädagogische Paradigmen im Laufe der Zeit verändern – so wie auch in Zukunft die Inklusion von einem neuen, derzeit noch unbekannten Paradigma abgelöst werden wird – und wie zum anderen jedes tonangebende Paradigma jeweils auch entsprechende strukturelle Rahmenbedingungen, übergeordnete Bildungsziele und spezifische fachliche Expertisen zwingend mit sich bringt:
Um in der architektonischen Metaphorik zu bleiben, waren zu Zeiten der Exklusion, etwa im 19. Jahrhundert oder im Nationalsozialismus, schwer sprachlich und kommunikativ behinderte Kinder vor die Tore des allgemeinen Schulsystems verbannt. Dieser verwehrte Zugang zum Bildungssystem bzw. ihr Ausschluss aus ihm wurde durch die postulierte ›Nicht-Bildbarkeit‹ dieser Schülergruppe begründet. Kennzeichen eines derart abjektionsorientierten Professionsverständnisses war die Macht der Ausgrenzung durch Selektionsdiagnostik (Lüdtke 2012a).
Im sich in den Nachkriegsjahrzehnten anschließenden Paradigma der Separation wurde jeder Behinderungsgruppe ihre eigene Schule, ja sogar ihr eigenes Gebäude gebaut. Damals sah man viele Vorteile in hochspezialisierten vielfältigen Schulstrukturen, die der jeweiligen relativ homogenen Schülergruppe einen Schutz- und Schonraum bieten konnten. Der kontinuierliche Ausbau der klassischen Sprachheilschule war beispielsweise gemäß der KMK-Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens (1972) durch eine besondere Bildung für Sprachbehinderte begründet. Die hierfür benötigte professionelle Expertise kristallisierte sich im Bild des klassischen ›Sprachheillehrers‹ (dgs 2003) mit seiner einzigartigen Doppelbefähigung zum therapieimmanenten sprachtherapeutischen Unterricht (Braun 1983).
Das im Zuge des Pisa-Schocks Ende des Jahrtausends nachfolgende Paradigma der Integration brachte strukturell erste Brüche im separierenden Sonderschulsystem mit sich. Entsprechend des in den KMK-Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung (1994) vollzogenen Wandels von einer Schulsystemorientierung zu einer Individuumszentrierung wurde eine Vielfalt der Förderorte auch räumlich etabliert: Sprachförderklassen und Mobile Dienste sowie flächendeckende Sprachförderprogramme an der strukturell-organisatorischen Schnittstelle von Elementar- und Primarbereich. Zielvorgabe war nun, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Sprache eine hohe Durchlässigkeit zum Regelbereich zu ermöglichen. Das fachliche Profil des ›Sprachheillehrers‹ musste sich dementsprechend zu einem Experten verändern, der aus seiner Stammschule heraus mobil agierte und zieldifferenten wie gemeinsamen Unterricht kooperativ didaktisch gestalten konnte (vgl. Abb. 2).
Der zu Beginn des neuen Jahrtausends bislang letzte Wechsel zum Paradigma der Inklusion brachte unterstützt durch die KMK-Empfehlungen zur inklusiven Bildung (2011) eine schularchitektonische Umbauwelle ins Rollen, durch die strukturell gemeinsame Unterrichts- und Förderangebote unter einem Dach für alle Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen im allgemeinen Schulsystem sicher gestellt werden sollen. Oberstes Ziel ist die Bildungsteilhabe von Allen. Primat der FörderschullehrerIn ist durch einen Einsatz in allen Schulformen auf Augenhöhe mit Kolleginnen und Kollegen anderer Professionen die Sicherstellung der sprachlich-kommunikativen Barrierefreiheit für Schülerinnen und...