Einführung – Wozu dieses Buch?
»Kühner, als das Unbekannte zu erforschen,
kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln«
(Watzlawick et al. 2001, S. 9).
Dieser Zweizeiler wirbt bei den Leserinnen und Lesern um eine Grundeinstellung, die Lösungen fördert. In der zweiten Zeile kann »das Bekannte« ersetzt werden durch das, was in diesem Buch »bezweifelt« wird: heute »die Fragmentierung der Finanzierung« und damals, als die Enquête erarbeitet wurde, »die Anstaltsversorgung«.
Warum ein kritisches Buch? Historisch gesehen geht es den Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland heute besser als je zuvor. Aber wenn wir die Zukunft der Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen für unser Land anhand der jetzigen Realität der USA vorhersehen könnten, dann wäre das sehr Besorgnis erregend. Die USA sind ja in Bezug auf manche gesellschaftlichen Entwicklungen die Vorreiter. Sie waren eines der Länder, das schon eine Generation früher als Deutschland eine ambitionierte Psychiatriereform auf den Weg brachte, von der es heute nur noch Ruinen gibt.
Die Psychiatriereform in Deutschland (West) seit Anfang der 1970er Jahre ist eine humanitäre Wende von historischer Bedeutung, die man gar nicht hoch genug bewerten kann angesichts der schlimmen Vergangenheit. Seit Generationen wurden die Menschen mit schwereren psychischen Erkrankungen und mit Behinderungen in entfernte, riesige Anstalten gebracht, weil sie vor Ort keine ausreichende Hilfe fanden. Während der Nazi-Herrschaft wurde ein großer Teil der Anstaltsinsassen als »lebensunwert« ermordet mit einem staatlichen Programm, das die Vorübung zum Genozid an der jüdischen Bevölkerung in Europa während des Zweiten Weltkrieges war.
Mit dem Zwischenbericht zur Psychiatrie-Enquête an den Deutschen Bundestag wurde 1973 erstmals das Tabu gebrochen: Die menschenverachtenden Missstände in der psychiatrischen Versorgung erreichten den Deutschen Bundestag. Dieser erhielt den umfangreichen Expertenbericht mit Bestandsaufnahme und Empfehlungen 1975. Damit begann eine grundlegend neue Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung. Die Psychiatrie kommt zu den Menschen da, wo sie leben. Der lange Weg von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie begann. Was seitdem erreicht wurde im Vergleich zur schlimmen Vergangenheit kommt im Ergebnis einer Revolution gleich, nur war es kein gewaltsamer Umsturz, sondern ein mühsamer Weg mit Umwegen über Jahrzehnte – bis heute.
Vieles ist aber nicht in Ordnung, weil die Umsetzung der Reformziele der Enquête unter den Rahmenbedingungen eines in hundert Jahren gewachsenen – oder gewucherten – Systems der sozialen Sicherung erfolgte, das auf allen Ebenen fragmentiert ist: Die Fragmentierungen führen zu Unterbrechungen in der Behandlung, der Rehabilitation und Eingliederung sowie der Pflege, auch bei der Behandlung und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche, was die Ergebnisse der Versorgung erheblich beeinträchtigt. Die zerstückelten Sozialsysteme führen zu überbordender Bürokratie, die Ressourcen frisst, die dann für Patienten nicht zur Verfügung stehen. Manche Regionen und Gruppen von psychisch erkrankten Menschen sind unterversorgt, andere überversorgt. Oft ist der Mitteleinsatz umgekehrt proportional zum Bedarf: »Inverse Care Law«.
Einerseits werden in diesem Buch die Friktionen im Versorgungssystem und das Geflecht von Partikularinteressen im Konflikt mit ethischen und fachlichen Handlungsorientierungen analysiert, denen die in diesem Bereich Tätigen ausgesetzt sind. Andererseits werden die vielfältigen Anstrengungen beschrieben, die Probleme einer Lösung näherzubringen. Das ist bewusst vorsichtig formuliert, denn vor einfachen Patentlösungen muss gewarnt werden.
Der Deutsche Bundestag will sich in der 2013 begonnenen Legislaturperiode mit Reformen befassen, die (auch) für die Fortsetzung der Psychiatriereform von grundlegender Bedeutung sind. Es geht um ein neues Finanzierungssystem für Krankenhausbehandlung bei psychischen Erkrankungen, um Rehabilitation und Eingliederungshilfe für Menschen, auch mit psychischen und geistigen Behinderungen, sowie um einen neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI, der insbesondere die Benachteiligung von Menschen mit Pflegebedarf infolge von Demenz oder schweren Depressionen ausgleichen soll. Außerdem steht schon lange die »große Lösung« zur Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen an.
In all diesen Bereichen spielen nicht nur das Geld und die Partikularinteressen von Kostenträgern, Einrichtungen und Berufsgruppen eine große Rolle, sondern auch der »personenzentrierte Ansatz«, den die Aktion Psychisch Kranke (APK) seit 1992 in verschiedenen Projekten im Auftrag des Gesundheitsministeriums entwickelt und in Folgeprojekten implementiert hat. Der Grundgedanke ist: Die Finanzierung und die Organisation von Versorgung richtet sich nach dem Bedarf der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen, statt den Bedarf der Menschen und ihre Versorgung den historisch gewachsenen Strukturen und Besitzständen von Leistungsträgern und Leistungserbringern anzupassen. Die Enquête hat vor über 40 Jahren diesen Perspektivwechsel eingeleitet: Die Psychiatrie kommt zu den Menschen, statt die Menschen in die ferne Anstalt. 1971 war die Aktion Psychisch Kranke e. V. von einer parteiübergreifenden Gruppe von Abgeordneten des Bundestages und Fachleuten aus der Psychiatrie gegründet worden mit dem Auftrag des Bundestags, die Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der »Psychiatrie-Enquête« zu organisieren.
Mit Gesetzen in guter Absicht ist es nicht getan. Die Organisation von Verantwortung und die Konzepte in den Köpfen von Leitungen der versorgenden (»Leistungserbringer«) und der finanzierenden Institutionen (»Leistungsträger«) sowie die finanziellen Anreize für beide Seiten müssen entsprechend verändert werden. Wenn die Ziele und die Wege zu den Zielen zwischen den verschiedenen Beteiligten nicht zueinander passen, dann ist das Ergebnis Chaossteuerung, bei der die aufwändigsten Maßnahmen nach den Regeln der neuen Gesundheitswirtschaft sich durchsetzen. Aber gerade Menschen mit besonders komplexem Hilfebedarf werden dabei marginalisiert.
Wer psychisch erkrankt, wird zum Treibgut im Mainstream der Gesundheitswirtschaft?
Je schwerer Menschen psychisch krank sind, mit Beeinträchtigungen im privaten und beruflichen Umfeld, umso mehr sind sie vulnerabel für Vernachlässigung,
• weil sie umso weniger ihre Behandlung selber einleiten und ggf. einfordern,
• weil sie umso stärker von Stigmata betroffen werden, ihr »2. Leiden«,
• und weil sie für die vielen Krankenkassen und Kliniken im Wettbewerb und für die Politik als Wähler nicht interessant sind.
Ein wesentliches Ergebnis der Psychiatriereform seit der Enquête war die Tendenz, diese Menschen als Bürgerinnen und Bürger in die kommunale Verantwortung zur Daseinsvorsorge einzubeziehen. Deren klassische Bereiche sind z. B. die Versorgung mit Wasser und Strom, Straßen und Schulen, Aufsicht über die Gesundheitsdienste. Aber dann begannen viele Kommunen, sich von diesen finanziellen Lasten zu befreien und argumentierten: Mit der Privatisierung solcher Bereiche würden die Leistungen besser und preiswerter für die Bürger. Das betrifft inzwischen auch Krankenhäuser, auch die für Psychiatrie und Psychosomatik. Aber die Zahl der Bürger nimmt zu, die den Ausverkauf der Daseinsvorsorge kritisch sehen und mancherorts als Wähler und mit Bürgerbegehren dagegen vorgehen.
Einerseits haben immer mehr gemeinwohlorientierte Leistungserbringer genauso kompetente Geschäftsführer wie die privaten Unternehmer. Andererseits wird bei vielen privatisierten Betrieben die Gewinnorientierung auf Kosten des Personals sowie des Patienten- und Gemeinwohls deutlich. Was wird in diesem Zielkonflikt aus der Versorgung von Bürgerinnen und Bürgern mit psychischen Erkrankungen?1
Dies Buch zur psychiatrischen Versorgung möchte neugierige Leser ansprechen, die manche Zusammenhänge besser verstehen wollen, als es ihnen ihre persönliche Erfahrung in diesem Bereich bisher ermöglicht hat. Darauf verweist der diesem Kapitel vorangestellte Zweizeiler von Watzlawick zur Kühnheit, das Bekannte zu bezweifeln. Zum Beispiel die Frage: Warum ist es in Deutschland so frustrierend mühsam, Versorgungsmodelle in die Regelversorgung einzuführen, die sich praktisch bewährt und international wissenschaftlich als wirksam erwiesen haben (Becker et al. 2008; DGPPN 2013; Heinz et al. 2015)?
Angesprochen sind also Leser, die in Diensten und Einrichtungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen ihrer Arbeit nachgehen oder die in Diensten und Einrichtungen tätig sind, die...