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E-Book

City Boy

Mein Leben in New York

AutorEdmund White
VerlagAlbino Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783867878852
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
In den Sechzigern und Siebzigern war New York eine gefährliche, chaotische und turbulente Stadt. Es war die Stadt von William Burroughs, Susan Sontag, Robert Mapplethorpe - und Edmund White. Mit schonungsloser Offenheit, mit Witz und Eleganz beschreibt White in seinen Erinnerungen das Leben der Bohème dieser bewegten Jahre an einem Ort, an dem alles möglich schien. 'City Boy' beschwört die lebendige Künstler- und Intellektuellenszene und die berauschende Atmosphäre New Yorks mit beeindruckender Klarheit, Brillanz und einem unvergleichlichen Gespür für den Augenblick.

Edmund White, 1940 in Cincinnati, Ohio, geboren, zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Gemeinsam mit anderen Autoren gründete er Anfang der achtziger Jahre die Gruppe Violet Quill, die die schwule Literatur in den USA entscheidend prägte. Das englische Original seiner autobiografischen Erzählung 'Selbstbildnis eines Jünglings' erschien erstmals 1982. Es folgte eine Vielzahl weiterer Veröffentlichungen, darunter die Romane 'Und das schöne Zimmer ist leer' und 'Abschiedssymphonie', Biografien über Jean Genet, Marcel Proust und Arthur Rimbaud sowie die Memoiren-Bände 'My Lives' und 'Inside a Pearl'. Für sein literarisches Schaffen erhielt Edmund White zahlreiche Preise, unter anderem den Award for Literature der American Academy of Arts and Letters, den National Book Critics Circle Award und den Preis des Festivals von Deauville für sein Gesamtwerk.

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Leseprobe

2.


I ch hatte an der Michigan University meinen Abschluss in Chinesisch gemacht und einen Platz in Harvard bekommen, um dort in dieser Sprache zu promovieren. Doch stattdessen folgte ich Stan, einem Jungen, in den ich verliebt war, nach New York. Stan war Junior an der Highschool, doch der Traum, Schauspieler zu werden, lockte ihn nach New York. Ich kam am 19. Juli 1962 dort an.

Das Einzige, wozu ich damals taugte, war Journalismus. An der Michigan University hatte ich das Literaturmagazin herausgegeben und hoffte, mit dieser Erfahrung einen Job zu finden. Ich hatte keine Verbindungen in New York. Mein einziges Geld waren die zweihundert Dollar, die ich im Juni durch das Ausliefern von Eiern und Fruchtsaft in Des Plaines verdient hatte, einer verkommenen Vorstadt von Chicago. Am 19. Juli, Stans Geburtstag, beschloss ich, nach New York zu fliegen, um bei ihm zu sein. Meine Schwester und meine Mutter haben später behauptet, ich wäre erster Klasse nach New York geflogen, aber das ist nichts als ein typischer Familienmythos.

Ich wohnte bei der YMCA in der 63rd Street, was damals eine regelrechte Tuntenhochburg war, voll schwuler Dauergäste und Durchreisender. Das Gebäude war (und ist) eine im maurischen Stil erbaute Fantasie aus Kacheln und niedrigen Decken, mit einem riesigen Swimmingpool, in dem Tennessee Williams öfter anzutreffen war. Der Wohnbereich funktionierte wie eine Sauna. Wann immer ich mein Zimmer verließ, um zu duschen, kam im selben Moment ein grauhaariger, dickbäuchiger Bewohner angelaufen und stellte sich neben mich, seifte sich ein und starrte mich unverwandt an, als käme es beim Cruisen nur darauf an, ein starkes Signal auszusenden, je unverblümter, desto besser.

Stan war nicht gerade begeistert, mich zu sehen. Meine erste Nacht in New York – seinen Geburtstag –, verbrachte ich auf seiner Türschwelle, doch er kam nicht nach Hause. Am nächsten Abend traf er sich mit mir, aber nur widerwillig. Er wohnte bei zwei anderen Schauspielern, von denen einer Paul Giovanni war, ein heißer älterer Mann von dreißig Jahren, der die Rolle des Matt in der Originalinszenierung der Fantasticks spielte, dem am längsten aufgeführten Musical in der Geschichte des Broadway. Stan war in den coolen, ironischen Paul ganz vernarrt, aber ich durfte ihn trotzdem in ein schwules Restaurant einladen. Natürlich kannte ich schwule Bars, aber der Gedanke, dass Schwule zusammen ausgehen und essen wollten – in der Öffentlichkeit! –, erschien mir völlig neu und faszinierend. Die Gay Liberation begann erst 1969, doch als sie sich dann in Bewegung setzte, erwies sie sich als das letzte Teilchen eines Puzzles, an dem wir alle schon seit fünf oder sechs Jahren gearbeitet hatten. Dass wir schließlich die kritische Masse erreichten, lag vermutlich daran, dass immer mehr Schwule öffentlich sichtbar wurden.

Im West Village waren jederzeit Scharen schwuler Männer unterwegs (und ein paar Frauen waren in Bars wie dem Kookie’s und später dem Duchess am Sheridan Square zu sehen). Der Unisex-Look der Sechziger war zwar keine ernst gemeinte Veränderung der Geschlechterrollen, doch er machte es einfacher, eine Männerhand durch ein klimperndes Armband zu stecken oder eine große türkisfarbene Brosche an einer roten Samtweste zu befestigen (für ihren guten Geschmack war diese Zeit nicht gerade berühmt). In den Fünfzigern war es in manchen Gemeinden für Frauen verboten gewesen, mehr als zwei männliche Kleidungsstücke zu tragen – Jeans, Sweatshirt und ein Cowboygürtel reichten aus, um verhaftet zu werden; jetzt durften sie T-Shirts oder Stiefel tragen, wenn sie wollten. Obwohl in vielen Staaten Ehen zwischen Weißen und Schwarzen noch verboten waren, war das Village voll von gemischten Paaren (meist männliche »Neger«, wie wir damals sagten, und weiße »Tussen«). Schon die Gegenkultur der Hippies – überhaupt jedes »Gegen« – diente uns als aufregendes Vorbild für moderne Abweichungen.

Zwei Monate später, im September 1962, war Stan einverstanden, in meine schäbige kleine Wohnung einzuziehen, die ich an der Mac-Dougal Street gemietet hatte, und wir blieben fünf Jahre zusammen. Er konnte Pauls Gastfreundschaft nicht länger strapazieren, wollte aber auch nicht zurück nach Michigan, um die Highschool zu beenden. Stattdessen versuchte er sein Glück als Schauspieler. In dieser Zeit war schwules Selbstvertrauen noch nicht sehr weit verbreitet, und es gab nur wenige Schwule, die als Paare zusammen wohnten und ihre Homosexualität vor Eltern, Freunden und Kollegen nicht verheimlichten – romantische Liebespaare mit der Bereitschaft, einander treu zu sein, wenn schon nicht sexuell, dann zumindest in Form einer Verbindlichkeit, die für lange Zeit Bestand haben sollte.

Ich kannte nur drei schwule Paare, alles ehemalige Studenten der Michigan University, die in die große Stadt gezogen waren und ausprobierten, wie es war, als Paar zusammenzuleben. Ältere schwule Paare kannte ich nicht mal vom Hörensagen. Stan und ich nahmen unsere »Affäre« so leicht, dass wir nicht auf die Idee kamen, uns treu zu sein, oder uns über die Regeln unserer Beziehung überhaupt Gedanken zu machen. Wir bezeichneten den anderen gegenüber Dritten nicht als »Partner« (den Ausdruck gab es damals noch nicht). Ein schwuler Freund fragte vielleicht: »Stan und du, seid ihr Lover?«, und ich antwortete dann: »Irgendwie.« Das alles war ziemlich unklar, auch für uns. Wir hatten nur selten Sex zusammen – oft passierte es mitten in der Nacht, einer weckte den anderen, weil er es jetzt brauchte. Weil wir schwul waren, bezeichneten wir uns selbst als »krank«, was nur zur Hälfte als Witz gemeint war. Ab und zu gingen wir beide zum Seelenklempner.

Und selbst unsere Untreue war komisch. Tom Eyen, ein junger, aber schon bekannter Theaterdichter, schleppte mich eines Nachts ab (Tom schrieb später Dreamgirls). Nach dem Sex sagte er: »Du machst das gleiche Tamtam im Bett wie ein anderer Typ, den ich gestern gefickt habe – Stan. Ja, Stan hieß der.« Ich konnte kaum abwarten, nach Hause zu kommen und Stanley zu ärgern, und insgeheim habe ich mich gefragt, worin dieses »Tamtam«, das wir gemeinsam haben, wohl besteht.

Wir waren noch so jung, dass unsere Eltern und Arbeitskollegen natürlich glauben konnten, dass wir nur eine Wohngemeinschaft wären. Viele Leute in unserem Alter lebten in Wohngemeinschaften, im Grunde wohl die meisten, obwohl das anderswo nicht üblich war. (Als ich 1970 nach Rom zog, war die einzige Übersetzung für Mitbewohner il ragazzo con cui divido l’appartamento.) Die meisten unserer schwulen Freunde legten Wert darauf, getrennte Schlafräume zu haben, aber Stan und ich schliefen auf einer Couch, die zum Doppelbett ausgeklappt werden konnte. Besuch hatten wir nur selten, allerdings probte Stan manchmal mit anderen Schauspielern aus seiner Klasse in unserem kleinen Wohnzimmer. Wenn jemand fragte, sagte er, er schliefe in dem Einzelbett im Gästezimmer.

Am Ende merkten wir, dass wir sexuell nicht so gut zusammenpassten, aber ich liebte Stan wirklich. Vor allem, weil er so schön war, und ich verehrte die Schönheit. Mein eigenes Äußeres gefiel mir nicht, und ich war stolz, mit ihm gesehen zu werden. Dass ich sein Aussehen bewunderte, war keine subjektive Geschmackssache; seine Schönheit war klassisch und »berühmt«, oder doch zumindest allgemein anerkannt. Zwei heterosexuelle Freunde verliebten sich in ihn; für beide war er ihre einzige schwule Erfahrung. Eines Tages sprach der bekannteste Modeschöpfer Amerikas Stan auf der Straße an und fragte, ob er mit ihm Urlaub in Ägypten machen wollte. Der Mann hätte ihm sofort das Flugticket in die Hand gedrückt. Die beiden hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt; für den Modeschöpfer war es ein »Spontankauf«.

Doch ich liebte Stan nicht nur als Trophäe, sondern mochte ihn wirklich. Er war fleißig und arbeitete hart. Als er sich entschloss, Schauspieler zu werden, nahm er zuerst Schauspielunterricht im Herbert Berghof Studio. Dann ging er zurück zur Schule und machte einen Masterabschluss in Englisch. Er belegte einen Kurs über Henry James bei dem großen James-Biografen Leon Edel. Ich zahlte die Miete und genoss es, Stan ein wenig in der Hand zu haben. Er brauchte mich, zumindest für die Bleibe. Natürlich mochte er mich auch, aber er war stark von seinen Stimmungen abhängig und hatte oft tiefe Depressionen.

Ich bekam meinen ersten Job bei Time-Life-Books im zweiunddreißigsten Stock des Time-Life-Buildung Ecke 6th Avenue und 50th Street. Jeden Tag eilte ich in Schlips und Kragen von unserer Wohnung im Village uptown, meistens in einem Taxi, das ich mir eigentlich nicht leisten konnte. Offiziell arbeiteten wir von zehn bis sechs, aber ich schaffte es nie vor elf und rechnete immer damit, abgemahnt oder gefeuert zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Wir hatten im Grunde nicht viel zu tun, und die Arbeit einer ganzen Woche wurde manchmal an einem hektischen Freitagnachmittag über den Haufen geworfen. Jeder von uns hatte die ganze Woche nichts anderes zu tun, als vier Bildunterschriften von jeweils zwei Zeilen zu schreiben, eine Aufgabe, die nur deshalb so schwergewichtig schien, weil wir so viel Zeit hatten, darüber nachzudenken....

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